Loslösung von Gewohntem – CHRISTOPH HERNDLER im mica-Porträt

Die nach wie vor nicht völlig unter den Tisch gekehrte Frage, ob musikalische Grafik denn mit nach herkömmlichen Maßstäben komponierten Partituren vergleichbar sei, ist zumindest an seinem Beispiel relativ leicht beantwortbar: als einigermaßen unerheblich. Erheblicher ist da schon, dass CHRISTOPH HERNDLER heute der prominenteste „Grafiker“ in der heimischen Gegenwartsmusik sein dürfte. Er führt eine Tradition fort, die in Österreich vor Jahrzehnten mit Roman Haubenstock-Ramati und Anestis Logothetis ein Zentrum hatte, seit beider Tod aber nahezu verwaist ist.

Diskussionen um Notationen

Konsequent bedient sich Christoph Herndler, 1964 im oberösterreichischen Gaspoltshofen geboren und nach wie vor dort ansäßig, bei der Darstellung seiner musikalischen Vorstellungen primär einer Notationsweise, wie sie nach wie vor nicht typisch ist und mit einiger Wahrscheinlichkeit im allgemeinen Musikgeschehen auch künftig immer nur von einer Minderheit angewandt werden wird. Es nimmt nicht Wunder, dass Herndlers Kompositionsprofessor an der damaligen Wiener Musikhochschule eben Roman Haubenstock-Ramati war, mit dem er naturgemäß auch alle Fragen der Notationsmöglichkeiten diskutierte. Zudem studierte er Orgel bei Alfred Mitterhofer und Elektroakustik. Nach dem 1989 erfolgten Diplom absolvierte er bis 1994 mehrere Studienaufenthalte in den USA am Center for Computer Research in Music and Acoustics der Stanford University, am Department of Visual Art der University of California und am Art Department des CGS Claremont.

Neben Herndlers praktisches Musizieren – bis 1992 war er Mitglied des Klangforum Wien, 1997 gründete er das seither auch von ihm geleitete Ensemble EIS – trat bald auch die Organisation verschiedenster Reihen und Projekte zur Aufführung zeitgenössischer Kunst und zur Musikvermittlung an junge Menschen. Mit „Kunst im Reif“ etablierte er am Vierkanthof Reif in Oberösterreich einen Treffpunkt, Ausstellungs- und Aufführungsort für experimentelle Kunst. Performances und Performance-Lectures waren auch fixer Bestandteil während seiner Zeit in den USA und anschließend an österreichischen Schulen. Als Organist nahm er bereits früh an der Pädagogikreihe „Klangnetze“ teil. Zu den Preisen, mit denen Herndler bislang für sein kreatives Schaffen ausgezeichnet wurde, zählen der Oberösterreichische Landeskulturpreis für Musik (2003) sowie der Publicity Preis der SKE (2008).

Raum für Unbestimmbares

Herndlers Arbeitsschwerpunkte gelten grafischen und intermedialen Partituren, die sich auch in außermusikalischen Darstellungsformen realisieren lassen, Notationsobjekte, Musikinstallationen und Videoarbeiten sowie Kunst im öffentlichen Raum. Zu Herndlers Arbeitsweise hat Florian Neuner 2007 in einem Beitrag die folgenden Charakteristika festgehalten: „Christoph Herndlers Partituren wirken auf den ersten Blick wie geometrisch-abstrakte Kunst. Die Zeichen, derer er sich in seinen Notationen bedient, sind aber kein Resultat des Bestrebens, Klangvorstellungen möglichst präzise zu notieren, sie wollen vielmehr neue Offenheiten schaffen. Herndler erfindet keine neuen Zeichen, weil ihm die konventionelle Notenschrift zu unpräzise erschiene, weil er neue Chiffren für das benötigen würde, was er in seinen Partituren fixieren möchte. Er will in seinen Notationen Raum schaffen für Unbestimmbares. Herndler erweitert den individuellen Handlungsspielraum enorm, versucht aber mit seinen dialektisch zwischen Freiheit und Determination agierenden Versuchsanordnungen auch die Clichés zu umschiffen, die freies Improvisieren anscheinend zwangsläufig erntet.
Festgelegt ist zunächst – nichts. Keine Besetzung, nicht einmal, dass auf der Grundlage einer Notation musiziert werden muss, ist zwingend. Herndlers intermediale Partituren könnten z. B. auch filmisch umgesetzt werden, könnten als Ausgangspunkt einer Choreographie dienen. Sobald der Interpret aber nun Entscheidungen trifft, schränkt er seine Freiheit auch ein. Die Entscheidungen haben Folgen, wenn er Herndlers abstrakte Zeichen mit Bedeutung belegt, dann muß er im weiteren Verlauf seiner Realisierung einer Partitur auch dabei bleiben. Mit Beliebigkeit hat das wenig zu tun.“ (Florian Neuner: Christoph Herndler. intermediale Partituren, in: POSITIONEN. Beiträge zur neuen Musik, Heft 72/2007, S. 22–25)

Loslösung von Gewohntem

Die Beschäftigung mit Herndlers Arbeit bedarf seitens des Rezipienten die Loslösung von den in der Regel bestehenden musikalischen „Gewohnheiten“, wonach Musik in einer Partitur so notiert ist, dass sie von verschiedenen Interpreten in immer der gleichen Weise wiedergegeben werden kann. Lässt sich auch hierbei im Interpretationsvergleich eine Vielfalt der unterschiedlichsten Ausdeutungen zu Tage fördern, so stehen bei den grafischen Partituren noch einmal andere Parameter im Vordergrund. Christoph Herndler: Das ‚musikalische Ergebnis‘ lässt sich präzise formulieren, das ‚klangliche Ergebnis‘ allerdings liegt gar nicht im Interesse präziser Formulierung – im Gegenteil, es soll sich als Resultat präziser Interpretation gar nicht fassen lassen können; obgleich der Identitätsgehalt höchst unterschiedlicher klanglicher Interpretationen ein und derselben Partitur sehr groß sein kann.“ (Christoph Herndler, Interview mit Christian Heindl)

Eigenes mit eigenem Ensemble

Liegt es somit absolut im Interesse des „Komponisten“ (ein Wort, das Herndler selbst in Hinblick auf seine Arbeit als eher irreführend ansieht), dass seine Partituren bei jeder Aufführung verschiedene Klangergebnisse erzielen, so bedarf es dafür auch experimentierfreudiger Ausführender. Sind auf Neues spezialisierte Musiker ohnedies meist offen für Ungewohntes, so konnte Herndler seine Vorstellungen mit der Gründung seines eigenen Ensembles optimieren: 1997 formiert, war das Ensemble EIS in den vergangenen knapp zwanzig Jahren der wesentliche Klangkörper für die Realisierung seiner Werke. Innerhalb der großen Zahl an Veranstaltungen, die sein durchschnittlicher Jahreskalender aufweist, sind es immer wieder das Ensemble EIS selbst oder einzelne seiner Mitwirkenden, die in den Programmen aufscheinen.

Herndler gehört zu jenen kreativ Wirkenden, die nicht von einem Festival-Highlight zum nächsten jagen, sondern auch jenen Schritten Bedeutung beimisst,  „auf die nicht so viel ‚Licht‘ fällt.“ (Herndler). Stellvertretend sei hier dennoch als bisher umfangreichste und komplexeste Aufführung SUBJEKT/OBJEKT 2009 im Brucknerhaus Linz hervorgehoben, von dem in Zusammenarbeit mit Markus Scherer auch eine DVD erschien, die das dabei entstandene Material in einen neuen Kontext setzt. In dieser Arbeit sind sowohl Bezüge zur Bildenden Kunst, zu Literatur, zu Film/Dokumentation, zu musikalischer Aufführungspraxis als auch zur Performance gegeben. Eine spannende künstlerische Herausforderung ist zudem, dass der Videoschnitt nach der gleichen Partitur erfolgte, die auch der Musik zu Grunde liegt.

Aktuelle Literatur im Musikkontext

Wichtig ist Herndler immer wieder die Arbeit mit literarischen Bezügen, so etwa übergangsraum 50min (2005/2006) setting für Konzertraum nach Texten von Christian Loidl, hm_mh (2011) für Basstuba, Horn, Posaune und Stimme nach einer beliebig wählbaren Textstelle aus Franz Dodels „Nicht bei Trost“, appallisches syndrom für Vokalsolist und Bassklarinette nach einem Text von Angela Flam sowie die im Oktober 2012 im Rahmen des Festivals „hoergeREDE12“ im Grazer Minoritensaal vorgestellte, gemeinsam mit Christian Steinbacher erstellte Arbeit DAS BÜGELEISEN AUSGLÜHEN LASSEN?, Text.Ton.Stück 5.12

Zu den Interpreten, die neben dem Ensemble EIS Herndlers Partituren realisieren zählen u. a. das Salzburger OENM, das im Sommer 2012 ein Porträtkonzert gestaltete (auf dem Programm standen die Videoarbeit streifend, der Blick sowie supermixen und im Schnitt, der Punkt), das griechische Ensemble dissonArt, das Pierrot Lunaire Ensemble Wien® und der Organist Wolfgang Kogert, der in den letzten Jahren immer wieder variation seriéuses variation zur Aufführung brachte. In Wien war Herndler u. a. am 22. Mai 2012 mit einem vom ORF und der Jeunesse veranstalteten Porträtkonzert im großen Sendesaal des Radiokulturhauses sowie mit einer Sonntagsmatinee des Trio EIS am 13. Jänner 2013 im MUMOK vertreten.

Christian Heindl

Termin: 
Samstag, 09.05.2015, 20.00 Uhr
Museum der Wahrnehmung Graz

Foto: Mary Fernety