Lehnen – I See Your Shadow

Sommermusik feiert diese bestimmte Zeit des Jahres, in der die Welt stehen zu bleiben scheint. Kinder wie Erwachsene können dem alltäglichen Trott entkommen. Das ganze Jahr über wird für jene Monate geplant und gearbeitet, so dass, wenn die Zeit dann endlich gekommen ist, Planungen eingestellt werden und die Gegenwart ausgeschöpft wird. Deswegen blickt das, was wir als Sommermusik beschreiben würden, ebenso wenig in die Zukunft oder Vergangenheit, sondern genießt den Moment.

Irgendwann findet aber auch diese Zeit ihr Ende. Statt dem Tag am Strand in Dur, gibt es nun die ersten gefallenen Blätter in Moll. Der Blick zurück ist zwar tröstlich, aber der kommende Winter stimmt nicht gerade fröhlich. Trotzdem bedeutet der Herbst eine willkommene Abkühlung und Abwechslung. Die österreichisch-amerikanische Formation Lehnen, fixiert die Aufbruchsstimmung jener Jahreszeit auf ihrem dritten Album „I See Your Shadow“.

Dies liegt nicht nur daran, dass sie sich dem von Haus aus düsterem Genre Ambient-Rock verschrieben haben. Viel mehr führten persönliche Erfahrungen in ihrer sechs jährigen Karriere zu diesem Album, mit dem sie sehr zufrieden sind. Musikalisch seien sie am nächsten an den ursprünglichen Traum herangekommen, schreibt Matthew Prokop auf der bandeigenen Homepage. Den Traum zu leben, auch wenn er noch nicht eingetroffen ist, sei nach dem Rückzug aus dem Tourleben und der Produktion des neuen Albums die größte Erkenntnis der Band gewesen.

Nach durchforsten der Band-Homepage hat man das Gefühl, es mit reflektierten, wenn auch ein wenig desillusionierten Musikern zu tun zu haben. Vor allem das stete Arbeiten an einer Idee, und die Kompromisse, die zuerst eingegangen werden mussten, lassen auf ehrgeizige  Persönlichkeiten schließen. Das neue Album rundet das Bild ab. Um auf die ausschweifende Metapher der Herbstmusik zurückzukehren: „I See Your Shadow“ blickt mit Wehmut in die Vergangenheit und hat trotzdem eine Aufbruchsstimmung inne. Es ist auch ein sehr präzises Album, bei dem nicht nur an der Musik, sondern auch an der Produktion gewissenhaft gefeilt wurde.

Besondere Ähnlichkeit hat das Album zu der Musik von Godspeed You! Black Emperor, einer amerikanischen Post-Rock Formation, die für ihre extrem langen Songs mit E-Streichern, und großangelegten Klangkulissen bekannt sind. Lehnens Musik ist zwar zugänglicher, weil kürzere Tracks und verfolgbare Melodien, aber nicht minder episch. Der Opener „Death Angel“ ist ein aufwendiges Intro, das die Richtung des Albums vorgibt. Darin offenbart sich auch die größte Stärke der Band: Vielschichtigkeit, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Songs bestehen aus mehreren Ebenen, wie etwa bei „Death Angel“ aus singenden Bässen im Hintergrund, melodiösen Gitarren in der Mitte und dem dominanten Schlagzeug, das klanglich isoliert zu sein scheint. Im Laufe der drei Minuten werden Ebenen weggenommen, erweitert und vor allem zu einem gewollten Chaos zusammengeführt. Diese Machart zieht sich durch fast alle Lieder des Albums.

Besonders auffällig ist es bei „Figures“, das eines der stärksten Tracks ist. Anfangs scheint es fast eine Gitarrenballade ohne viel Epik zu werden. Die Stimme geht in der Musik unter, und unterstreicht die Verträumtheit. Vor allem die hellen Klänge in der hintersten Ebene, geben die nötige Melancholie. Der monotone Gesang taucht immer wieder unter, und scheint bei jedem Auftauchen ein bisschen mehr Emotionen und Instrumente mitzubringen. Der Song mündet in der perfekten Balance aus einer zarten Grundmelodie und der rockigen Untermalung. Mit „Figures“ könnte das Album eigentlich getrost zu Ende gehen, obwohl der Abschlusstrack „Deadhymn“ eine sehr gefühlvolle Ballade mit beruhigendem Vogelgezwitscher ist.

„I See Your Shadow“ ist so angenehm durchdacht und präzise umgesetzt, dass es ein Genuss ist, sich den Klangkulissen hinzugeben. Durchgeplante Musik ist an sich eher negativ besetzt, mit dem Argument, dass Planung der Feind der Kreativität ist, und für kommerzielles Streben steht. Präzision ist noch immer ein oftmals missverstandenes Label. Im Falle von Lehnen hat Präzision und Fleiß die Band an ihren ursprünglichen Traum annähern lassen.

Anne-Marie Darok

Foto: Sarah Boyd

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