„Lautsprecher erzählen dir Märchen, die sie selbst nicht erlebt haben“ – ALEXANDER CHERNYSHKOV im mica-Interview

Der „motorisierte“ Komponist, Performer und Improvisationskünstler ALEXANDER CHERNYSHKOV wird im Rahmen des Kollaborationsprojektes „Paranoia TV“ des Festivals steirischer herbst sein neues Performance-Stück „Keep in Mind“ präsentieren. Mit Michael Franz Woels sprach er über seine ganz eigene Zeitrechnung, den Unterschied zwischen Musikerinnen und Musikern sowie Schauspielerinnen und Schauspielern und darüber, wonach der Pfadfinder zwischen präzisen Kompositionsklängen und chaotisch-theatraler Serendipität letztlich in seinen Kompositionen strebt.

Ich würde gerne mit deinem Tod beginnen. Laut deiner fiktionalen Biografie wirst du 2063 in der Metro in Paris erstochen. Beim Versuch, dort verbotenerweise Platten zu verkaufen …

Alexander Chernyshkov: Wenn ich eine Biografie verschicken muss, dann nehme ich diesen Text von Niklas Seidl, einem Freund von mir, einem tollen Komponisten und Cellisten vom Kölner Ensemble hand werk. Wir denken immer, es gebe so viele Rezepte und Regeln für das Leben. Aber eigentlich ist alles ziemlich wild und frei. Alles ist möglich.

Du gehst deine eigenen Wege abseits von linearem und chronologischem Denken?

Alexander Chernyshkov: Was wir wahrnehmen, sind kontinuierliche Wechsel. Und wir vergleichen diese Wechsel und sagen, Bezug nehmend auf die Sonne oder auf die Atomuhr, es sei Zeit vergangen. Und auch wir selber verändern uns natürlich mit der Zeit. Es gibt ja nichts, was bleibt. Wir sind auch überzeugt, dass die Außenwelt existiert. Aber niemand erfährt etwas von der Außenwelt, es ist nur eine momentane Bewusstseinskugel aus Gedanken und Ideen von der Außenwelt. Jetzt im Moment gibt es für uns nur dieses Gespräch.

Wir scheinen sehr linear zu leben. Definieren wir einmal Zeit nicht als Illusion oder Metapher, sondern als Distanz zwischen zwei Ereignissen: Ein Ereignis ist jetzt, das andere ist zum Beispiel das Abendessen von gestern. Dann können wir diese Zeit messen, um zu verstehen, was Zeit ist. Aber wann ist dieses Abendessen von gestern passiert? Du kannst nur sagen, dass es vorbei ist, alles, was du hast, ist nur mehr diese Erinnerung. Doch wann passiert diese Erinnerung? Sie passiert auch jetzt gerade. Also haben wir gerade den Abstand zwischen dem Jetzt und dem Jetzt gemessen.

„Im direkten Dialog mit der Kunst versinken Splitter der Themen in dir.“

Versuchen wir, wieder deiner wahren Biografie zu folgen. Du wurdest in Moskau geboren, bist in Verona aufgewachsen und wohnst nun schon seit einer Weile in Wien. Wie haben sich diese unterschiedlichen Sprachen, Sprachrealitäten und -umwelten auf dich ausgewirkt?

Alexander Chernyshkov: Mittlerweile ist das schön drittelweise unterteilt: zwölf Jahre Russland, zwölf Jahre Italien und bald zwölf Jahre Österreich. Ich merke, dass die Auseinandersetzung mit Sprache oft im Zentrum meiner musikalischen Aktivitäten steht. Ich hatte das Glück, all diese verschiedenen Sprachen zu lernen. Aber was ich merke, ist, dass ich die Möglichkeit schätze, meine Muttersprache Russisch und meine zweite Muttersprache Italienisch mit Englisch und Deutsch zu mischen. Es wäre natürlich auch sehr reizvoll, „noch entferntere“ Sprachen wie zum Beispiel Hindi oder Japanisch zu lernen. Aber natürlich müssen eine grundsätzliche Gravität, eine Notwendigkeit vorhanden sein, um sie zu lernen.

Beim Stück „avocado“ aus dem Jahr 2013 – eigentlich der Vorläufer meiner danach kommenden Musiktheaterstücke – sind zwar herkömmliche Instrumente wie Schlagzeug, Klarinette, Flöte und Stimme im Einsatz, die Performenden sprechen allerdings miteinander in einer Art Fantasiesprache. Sie versuchen, miteinander zu kommunizieren, schaffen es aber nicht. Ich wollte in diesem Stück alle Sprachen, die ich spreche, zu einer Fantasiesprache vermischen.

Im deutschen Musiktheater ist der Inhalt, das Was, oft sehr klar. Es gibt natürlich einen Inhalt, den ich mit meinen Stücken vermitteln möchte, aber mir ist eine Kreuzung aus dem Was und dem Wie wichtig. Um im Musiktheater mit der Totalität der Ereignisse arbeiten zu können, muss man die Mittel kennen und darf diese nicht unterschätzen. Man will ja das Publikum aus seiner alltäglichen Realität entführen. Diese Erfahrung der Entführung, denke ich, ist wichtig in der Kunst: Im direkten Dialog mit der Kunst versinken Splitter der Themen in dir.

Wie sieht es mit deinem Interesse für Film und Filmmusik aus?

Alexander Chernyshkov: Kino, Musik und Theater sind ähnliche Zeit-Künste, die sich in einer begrenzten Zeit mit einem Beginn und einem Ende entwickeln. Ich bin zwar kein Regisseur im klassischen Sinn, aber ich komponiere schon auch Lichtbewegungen, Bewegungen von Gesten wie zum Beispiel Lächeln. Für den steirischen herbst habe ich auch eine Lach-Partitur für ein „Lach-Duo“ entwickelt. Die Wiederholung ist bei diesem Stück die Hauptkraft, das Lachen wird dadurch mechanisch.

Wie gehst du mit Fehlern um? Du sprichst ja vom Instrumentieren von Fehlern, wie ist dein jetziger Zugang dazu? Ein szenisches Werk von dir nennt sich sogar „Transkription eines Fehlers“.

Alexander Chernyshkov: Ich war der Komponist, der Produzent und zum Teil habe ich „Transkription eines Fehlers“ auch inszeniert. Dadurch lernt man, gute Bedingungen für sich und andere zu schaffen. Die Natürlichkeit ist bei gestischen Wiederholungen zum Teil schwer herzustellen und zu behalten. Es gibt ja unendlich viele Experimentiermöglichkeiten, um ein „absichtliches Thema“ zu wiederholen. In meinem Stück „Transkription eines Fehlers“ aus dem Jahr 2016 passiert eigentlich nichts, außer dass die Musikerinnen und Musiker kommen und versuchen, sich vorzustellen und etwas zu sagen – und das wird dann ständig dekonstruiert. Es ist aber eine Täuschung, ohne dem Komponieren von Aufmerksamkeiten auskommen zu können. Die erlernten akademischen Methoden und Techniken zu etwas Größerem zusammenzufügen, das ist eine wesentliche Herausforderung für Komponistinnen und Komponisten.

„Am liebsten würde ich alle meine kommenden Stücke von nun an ,Transkription eines Fehlers‘ nennen.“

Wann hast du mit den Proben für das Stück „Keep in Mind“ begonnen?

Alexander Chernyshkov: Wir haben schon im Mai mit dem Proben für das Stück für den steirischen herbst begonnen. Es wird im November in Wien auch im echoraum wiederholt. Ich arbeite mit einem sehr guten Freund von mir zusammen, dem Opernregisseur Wolfgang Nägele – er inszeniert mittlerweile auch schon an der Bayerischen Staatsoper in München. Philipp Lossau macht Bühne und Elise Schobeß Dramaturgie. Als lebender Komponist kann ich aktiv das gemeinsame Resultatdenken begleiten. Er hilft mir bei der Darstellung, bei der Dramaturgie und der Bühne. Dieses Team, das ich selber auswählen konnte, ist für mich ein Traum, ein Organismus mit einem gemeinsamen Ziel.

Auf der Bühne sind fünf Leute: der ungarische Bariton-Opernsänger Márton Kovács, der Schlagzeuger und Improvisationskünstler Stefan Voglsinger, die Tänzerin Johanna Nielson, die Stimmkünstlerin Gina Mattiello und der experimentelle Jazz-Schlagzeuger Emil Gross. Fünf Personen aus sehr unterschiedlichen Feldern. Gesetze und Regeln sind das Thema dieses Stückes, der Titel schwankte anfangs noch zwischen „Keep in Mind“ und „Surfaces and Superstructures“. Aber eigentlich würde ich am liebsten alle meine kommenden Stücke von nun an „Transkription eines Fehlers“ nennen. Aber aus praktischen Gründen oder für Förderungen sind unterschiedliche Stücktitel wichtig [lacht].

Meine Stücktitel kommen irgendwann im Laufe der Proben. Nicht als ursprüngliche Beschreibung eines Stückes, sondern als etwas, was sich in charakteristischer Art im Entstehungsprozess ständig wiederholt. Beim Stück „avocado“ zum Beispiel habe ich mit einem Ensemble aus Kalifornien immer wieder mit dem Wort „avocado“ experimentiert – sie haben es einmal höher, einmal tiefer ausgesprochen, es gesungen und so weiter. Später wurde es zum Titel des Stückes. Das Thema des Stückes für das Festival steirischer herbst sind wie gesagt Regeln. Zum Einsatz kommen Texte von Regeln zur Bühnentechnik, zu Sicherheitsregeln, Gesangs- und Rhetorikregeln. Es passiert viel Performatives – mit und ohne Sprache: Eine regelmäßige Dekonstruktion der Aufmerksamkeit durch die Dekonstruktion von Raum, Bewegung, Kommunikation in Form von Sprechen und Singen sowie letztendlich durch die Dekonstruktion von Sprache selbst.

Alexander Chernyshkov (c) Yulia Belinskaja

„Für mich wurde es dann immer schwieriger, Töne zu komponieren, ohne eine genaue Szene dafür zu entwerfen.“

Wie war dein Weg zum Musiktheater?

Alexander Chernyshkov: Es gab bei mir zwei Pfade. Der eine war sehr klanglich fokussiert, das experimentelle Arbeiten mit erweiterten Instrumenten [siehe Abspann-Zitat und Literaturhinweis, Anm.], mit sehr klaren Klangkörpern: Blasinstrumenten mit Schläuchen, Mundstücken, Motoren, Relais-Maschinen. Diese unüblich und elektronisch klingenden Instrumente sind eigentlich sehr akustisch. Mit diesen Motoren habe ich während meines Elektroakustikstudiums gerne gearbeitet. Sie haben einen Körper, für den man konkret komponieren kann. Bei elektronischer Musik hatte ich immer folgendes Problem: Lautsprecher, diese vibrierenden Membranen, können zwar einen perfekten Klang wiedergeben, aber sie verallgemeinern auch das Klangereignis.

Ein Instrument wie eine Klarinette hat einfach eine ganz bestimmte Charakteristik der Tonerzeugung. Ich würde das so umschreiben: Lautsprecher erzählen dir Märchen, die sie selbst nicht erlebt haben. Sie können dir Tausende unterschiedliche Dinge erzählen, die sie alle aber nicht erlebt haben. Aber es ist natürlich etwas anderes, wenn du installativ mit Lautsprechern arbeitest.

Das war der eine Pfad der präzisen Kompositionsklänge. Der andere Pfad hat eher chaotische Züge, wie das Stück „avocado“ mit seiner Fantasiesprache. Es ist in der Zeit entstanden, als ich selber zu improvisieren begonnen habe. Viele Musikerinnen und Musiker konnten mit meinen erweiterten Instrumenten nicht umgehen, sie waren oft nicht so motiviert wie ich, damit zu improvisieren. Seit 2011 improvisiere ich daher immer wieder auch selber, oft im Duo mit Marina Poleukhina und mit anderen Komponistinnen und Komponisten. Ich schätze dieses Gleichgewicht zwischen Chaos und Form.

Ich erinnere mich auch an eine Performance einer Schlagzeugerin, die einfach damit begann, Sachen abzulegen. Der Akt des Daseins ist schon Teil des Stückes. Die Wiener Impro-Szene rund um Didi Kern, Franz Hautzinger, Michael Fischer und Burkhard Stangl hatte damals einen starken Einfluss auf mich, auch die japanische Szene rund um Taku Sugimoto, Toshimaru Nakamura, dann auch die Gruppe AMM, vor allem der Gitarrist Keith Rowe.

Für mich wurde es dann immer schwieriger, Töne zu komponieren, ohne eine genaue Szene dafür zu entwerfen. Bei Proben komponiere ich mittlerweile wahnsinnig viel. Ich bereite zwar viel vor, aber bei den Probenarbeiten bin ich sehr aktiv und dirigiere das Geschehen, da passiert auch das Komponieren. Das ist der große Unterschied zwischen dem Komponieren für Musiktheater und dem Komponieren für ein Ensemble. Beim Komponieren für ein Ensemble sitzt du monatelang zu Hause und arbeitest an der Partitur, die du dann irgendwann einmal weitergibst. Es folgen zwei bis vier – oft stressige – Proben und es kommt zur Aufführung.

Beim Musiktheater hast du einen ganz anderen Prozess, du hast Gestaltungsfreiheiten bei den Probenarbeiten. Im besten Fall hast du sechs Wochen Probezeit, die Beteiligten kennen deine Musik schon. Dann kannst du experimentieren und Veränderungen vornehmen. Als ich das erste Mal in Venedig das Stück „Transkription eines Fehlers“ geprobt habe, hatten wir zwischen drei und sechs Stunden pro Tag Zeit und viel Spaß dabei, die Sachen einfach passieren zu lassen. Nach ein paar Tagen konnte man sehr genau auf die Erfahrungen der Personen eingehen, es war ein personenorientiertes, kein abstraktes Komponieren. Mir gefällt es, eine Methode für einen Menschen und nicht einen Menschen für eine Methode zu suchen. So, das war jetzt eben der zweite Pfad, der chaotisch-theatrale. Und schön langsam kommen beide Pfade immer wieder zusammen.

Ist in näherer Zukunft neben dem Projekt für den steirischen herbst noch eine weitere Musiktheaterproduktion mit Musik von dir geplant?

Alexander Chernyshkov: Ich bin schon gespannt auf die Zusammenarbeit mit dem Berliner Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen und der Regisseurin Franziska Kronfoth. Ich komponiere moderne Fragmente für eine experimentelle Rimski-Korsakow-Oper – inspiriert vom hochenergetischen Theaterstil von Frank Castorf. Inklusive Open-Air-Szenen für Autos am Kreisverkehr, in denen die Sänger aus den Fenstern zur Autoradiobegleitung singen …

Alexander Chernyshkov: apres le deluge

Was unterscheidet eigentlich für dich das Arbeiten mit Schauspielerinnen und Schauspielern vom Arbeiten mit Musikerinnen und Musikern?

Alexander Chernyshkov: Schauspielerinnen und Schauspieler müssen immer auch wissen, warum und wie sie etwas machen sollen. Musikerinnen und Musiker haben es oft durch eine Partitur, hinter der sie sich verstecken können, einfach leichter. Mit Schauspielerinnen und Schauspielern zu arbeiten ist ein Abenteuer für sich, gerade der Beginn ist oft schwierig: das gezielte Herausarbeiten dieser Dichotomien an Möglichkeiten, das Überführen dieser Änderungen und Wechsel der Darstellungsarten in ein komponiertes Ereignis. Sehr wichtig für mich ist dann ein personenbezogenes Komponieren.

Ich orientiere mich beim szenischen Komponieren an Literatur ohne Fokus auf eine Geschichte, an abstrakten Wortkompositionen von Samuel Beckett, Thomas Bernhard oder Eugène Ionesco. Vorbilder sind natürlich auch Komponisten wie Heiner Goebbels, Georges Aperghis und Mauricio Kagel. Oder Filme von David Lynch. Seine nicht linearen, surrealen, traumlogischen Bild-Licht-Kompositionen sind für mich energetisch so dicht wie Beethovens Streichquartette.

Man muss aber natürlich als Regisseur und Komponist auch das Publikum bedenken und wahrnehmen. Obwohl man denken könnte, dass ich vor allem mit Wörtern und Klängen arbeite, strebe ich letztendlich eigentlich einfach danach – und das ist fast eine Art Arbeitsmethode –, jeden Moment im Stück einzigartig zu gestalten. Daraus resultiert wiederum die Aufmerksamkeitsenergie: das Zuhören, die Stille des Publikums – und das ist ja das eigentliche Stück.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Michael Franz Woels

„Augenzwinkernd ließe sich sagen, wenn die Geschichte des Instrumentenbaus eine Kette von Anstrengungen hin zu reineren Klängen ist, so ist meine persönliche Suche eine Kette von Anstrengungen hin zu weniger perfekten, weniger reinen Klängen. Die gefundenen Klänge nämlich sind im Wesentlichen Resultate mehr oder weniger gezielter „Destabilisierungen“ der jeweiligen akustischen Systeme […]. Die gefundenen Zusammenstellungen ergeben, aus der Perspektive historischer Bestrebungen im Instrumentenbau besehen, letztlich ‚prekäre‘ Klangkörper: dysfunktionale Instrumente, die an wesentlichen Stellen beeinträchtigt, geschwächt wurden […]. Und wenn das Komponieren nicht mehr am Klavier geschehen kann, sondern eher in einem Baumarkt, dann ist es so.“

* Chernyshkov, Alexander: Erweiterte Instrumente – komponieren als permanentes Experiment, AkademikerVerlag, Balti, 2017.

Termine:
“Keep in Mind”

01.-04. Oktober 2020, 18:00 Uhr
Orpheum Extra
Orpheumgasse 8, 8020 Graz
Dauer: 80 min.
Mehrsprachig

“Kitesh”
Musiktheater von HAUEN UND STECHEN mit Musik von Alexander Chernyshkov und Nikolai Rimski-Korsakow
14., 18., 24. und 30. Oktober 2020
Oper Halle

“Keep in Mind”
Freitag, 20. November 2020, 20:00 Uhr
Samstag, 21. November 2020, 20:00 Uhr
echoraum
Sechshauser Straße 66, 1150 Wien

Links:
Alexander Chernyshkov
steirischer herbst – Paranoia-TV
Bühnen Halle
echoraum