“Kunst ist mehr als nur Entertainment” – FAREWELL DEAR GHOST im mica – Interview

Die Grazer Indie-Band FAREWELL DEAR GHOST etablierte sich 2013 mit ihrem Debütalbum „We Colour the Night“, spielte 2015 in Peking, Nanjing, Schanghai und Wuhan ausverkaufte Konzerte, welche musikalisch in der ebenfalls umjubelten Single „We were wild once“ verarbeitet wurden, um nun 2017 ebenfalls energiegeladen das neue Album zu präsentieren. Warum „Neon Nature“ von einer „glitzernden, geilen“ Welt spricht, jedes Konzert das schönste sein kann und das Unterbewusstsein schneller war als der Verstand, verriet die Band im Gespräch mit Julia Philomena.

Ihr neues Album trägt den Titel „Neon Nature“ und erscheint am 13. Oktober 2017 bei „Ink Music“. Welchem Leitfaden folgt es bzw. folgt die Publikation einer natürlichen Weiterentwicklung?

Andreas Födinger: Weiterentwicklung trifft es gut, wobei diesmal die Prämisse im Vordergrund stand, keine strukturellen Grenzen haben zu wollen. Wir haben versucht, uns von jedem musikalischen Habitus zu lösen und neue Methoden zu finden, neue Wege und Herangehensweisen, um so unverbraucht wie möglich zu arbeiten. Das ist uns gut gelungen und überrascht mich nach wie vor. In dieser Form habe ich das von uns noch nie gehört. Das Ziel, einen eigenen Kosmos zu erschaffen, ist geglückt.

Kann so ein Kosmos nur im Zuge von Improvisation entstehen? Welchen Arbeitsprozess verfolgen Sie?

Andreas Födinger: Wir haben diesmal sehr frei gearbeitet, teilweise allein, teilweise kollektiv. Man kann sich das wie eine große Leinwand vorstellen, die kontinuierlich von uns beworfen wurde. Aber eben nicht nur mit Farben, sondern durchaus auch mit Avocados. Am Ende des Tages entsteht dann ein außergewöhnliches Gemälde, das weniger einem inhaltlichen Leitfaden folgt, sondern einem stilistischen.

Philipp Szalay: Wir haben uns wirklich in keiner Hinsicht von Barrieren zähmen lassen. Wir sind nie einer Anleitung gefolgt, einer fixen Idee oder einem ausgefeilten Konzept. Jede Nummer ist anders entstanden, mal schneller mal langsamer. Die einzige Herausforderung war eigentlich nur, aus diesem für uns notwendigen Chaos etwas Stimmiges zu formen, das rezipierbar ist.

Philipp Prückl: Die einzige Eingrenzung war die Deadline des Labels. Aber wenn es die nicht gäbe, würde kein Musiker jemals seine Arbeit zu Ende bringen. Mit Ausnahme von dieser besagten Deadline war der ganze Prozess ein einziges Verlassen der Komfortzone, ein Ausloten unseres Potenzials und ein Versuch, sich weitestmöglich aus dem Fenster zu lehnen, ohne dabei hinunterzufallen. Es ist sicher nicht verwerflich, einen Weg zu verfolgen, der bislang ans Ziel geführt hat, aber wir wollten diesmal musikalisch nicht beschrittene Wege entdecken. So haben wir uns nicht nur als Band Neues angeeignet, sondern auch individuell frischen Wind gespürt.

Bedeutet „raus aus der Komfortzone“ auch: professionell versus autodidaktisch?

Andreas Födinger: Das Studium der Musik klingt komisch in meinen Ohren. Das bedeutet für mich automatisch die Aneignung von Fremdeinfluss. Den Entdeckergeist eines Kindes finde ich viel spannender, den sollte man sich so lange wie möglich bewahren. Das ist natürlich sehr schwierig in unserer Gesellschaft, aber wenn man sich selbst pusht und kontinuierlich daran erinnert, wie wichtig und erfrischend ein unerfahrener Zugang ist, dann findet man diesen auch. Für Farewell Dear Ghost war es an der Zeit, ein neues kreatives Feuer zu entfachen und den Computer mit all seinen grenzenlosen Möglichkeiten zu erforschen. Wir haben uns die Frage des Ausdrucks gestellt und dem Geist freien Lauf gelassen. Ich weiß, dass man elektronische Musik studieren kann, aber das Spannende dabei ist für mich, dass es nicht notwendig ist, um sich auszutoben und interessante Sounds zu kreieren.

Philipp Prückl: Unbefleckt ist immer großartig! Es sind legendäre Popsongs geschrieben worden von Menschen, die keine Ahnung gehabt haben, wie ein Popsong in der Theorie funktioniert. Mit „Neon Nature“ haben wir ein gutes Gleichgewicht gefunden, denke ich. Es sind simple Songs dabei, die leicht zu rezipieren sind, und andere, bei denen wir verkopfter gedacht haben und die vielleicht mehr Aufmerksamkeit verlangen.

Alexander Hackl: Wenn du ein Instrument studierst, hilft dir das technisch sehr viel, künstlerisch nicht unbedingt. Ähnlich wie bei allen anderen Sparten der Kunst. Für mich habe ich festgestellt, dass die instrumentale Perfektion tendenziell sogar eher bremst. Das Wissen über die tatsächlichen Möglichkeiten des Instruments beschränkt mich in der Praxis enorm. Ich kann mich erinnern, dass ich vor einem Jahr neue Gitarrensounds aufnehmen wollte. Damals hat mir ein Freund geraten, die Gitarre wegzulegen und andere Instrumente auszuprobieren, um später auf die Gitarre zurückzukommen. Das war sehr hilfreich, musikalische Umwege sind immer gut.

Was unsere Band und speziell das neue Album „Neon Nature“ betrifft, kann ich wahrscheinlich für alle behaupten, noch nie einen so progressiven Arbeitsprozess erlebt zu haben. Jeder ist an die eigenen Grenzen gestoßen, jeder hat mutig die Unsicherheit übergangen und im Endeffekt ist das der Grund dafür, dass sich unser neues Album dementsprechend frisch anhört. Für uns als Kollektiv ist es ein Ergebnis, auf das wir sehr stolz sind. Wie Medien, Presse, Kolleginnen und Kollegen etc. darauf reagieren, wird man sehen [lacht].

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„(…)von Mozart bis Robert Hood war alles dabei.“

2015 kam die Single „We were wild once“ heraus, die sich auf Ihre China-Tournee im selben Jahr bezieht und mit dem Satz schließt: „Wir lassen uns nicht zähmen.“ Ein programmatisches Statement?

Alexander Hackl: Rückblickend fügt sich das Statement sehr schön in unsere Geschichte ein, aber es war kein bewusstes Leitmotiv, mutig und ungehemmt in die Zukunft zu schreiten.

Philipp Szalay: Unterbewusst haben wir vielleicht schon damals gewusst, was später kommen wird.

Andreas Födinger: Sehr schicksalhaft. Gut, dass wir auf den Instinkt gehört haben, macht vielleicht auch den Charme aus.

Hat die China-Tournee hinsichtlich Ihres Verhältnisses zum Publikum etwas verändert? Werden kleinere Konzerte in Österreich jetzt ganz entspannt über die Bühne gebracht oder kommt das Lampenfieber unabhängig von der Location?

Philipp Szalay: Jedes Konzert ist the one! Natürlich freuen wir uns wahnsinnig auf große Konzerte, aber aufgeregt ist man immer! Jede Show ist etwas Besonderes.

Sie haben sich nach dem gleichnamigen Song von Tobias Kuhn benannt, waren Support-Act von The Naked and Famous und mit Narda Surf auf Tournee. Welche wesentlichen musikalischen Einflüsse würden Sie nennen, welche existenziellen Wegbegleiter?

Philipp Szalay: Auf ein, zwei Namen könnte ich das nicht reduzieren. Es hat zu jedem Zeitpunkt wichtige Einflüsse gegeben, die mal mehr und mal weniger dominant oder entscheidend gewesen sind.

Andreas Födinger: Wir haben auch genretechnisch sehr viele Stationen durchlebt, von Mozart bis Robert Hood war alles dabei.

Philipp Prückl: Die Ausgangsposition war für uns alle wahrscheinlich Coldplay und Ähnliches. Das hört man zwar stark auf dem ersten Album, hat sich aber soundtechnisch schnell verändert. Wir haben eine sehr intensive Justin-Bieber-Phase hinter uns [lacht]. Wir haben uns tatsächlich sehr für diese Pop-Strukturen zu interessieren begonnen.

Andreas Födinger: Das war nicht nur aus ökonomischer Sicht spannend, sondern es hat uns mit der Zeit wirklich gefallen!

Philipp Prückl: Wenn du versuchst, einen Sound zu produzieren, den es schon gibt, kommt etwas Interessantes dabei heraus. Bon Iver war zum Beispiel auch sehr lange präsent. In seine Welt sind wir – ähnlich wie bei Justin Bieber – tief und lange versunken. Im Idealfall findet man im Zuge dessen dann für die eigene Band eine neue Idee, die verschlossene Türen öffnet.

Andreas Födinger: Wenn wir gerade ein Album aufnehmen, muss diese Phase aber eigentlich schon abgeschlossen sein. Es kann sehr irritierend sein, sich konstant mit einer anderen Musik zu beschäftigen, während du gerade versuchst, die eigene zu finalisieren. In dem Moment, wo das Album fertig ist, geht es dann wieder. Da ist die Aufmerksamkeit wieder da und die Lust nach neuer Inspiration groß.

Philipp Szalay: Der Aufnahmeprozess ist ein Ausnahmezustand. Ich werde immer sehr manisch und muss jeden Ton analysieren. Das hat mit Inspiration dann eher weniger zu tun [lacht]. Manchmal kann die Obsession zwar auch ein Antrieb sein, der dich zu spannenden Diskursen führt, aber in der Regel ist zu diesem Zeitpunkt jeder Fremdeinfluss gefährlich.

Können Sie noch etwas mehr über den Aufnahmeprozess erzähle?

Alexander Hackl: In Summe hat der Aufnahmeprozess eineinhalb Jahre gedauert. Wir haben von Mai 2016 bis Oktober 2016 ausschließlich herumexperimentiert – ohne jeglichen Output. Es war extrem wichtig für uns, dass die Musik den Raum nicht verlässt und wir uns so lange wie möglich frei bewegen können.

Andreas Födinger: Feedback ist in jedem Fall schwierig, besonders dann, wenn man als größere Band sowieso die obligatorischen vier Filter passieren muss. Wir sind selbst unsere strengsten Richter.

Philipp Szalay: Es gibt natürlich Einzelpersonen, auf deren Meinung wir großen Wert legen, aber zu 100 Prozent vertraue ich im Endeffekt nur uns und keinem Außenstehenden.

„Wir wollten eine Welt bauen: groß, glitzernd und geil.“

„Moonglass“ gehört neben „Pink Noise“ zu einer bereits veröffentlichten Single des neuen Albums. Da heißt es: „I am your boy, let’s make this dance slow.“ Ist „Moonglass“ inhaltlich mehr als nur ein Lovesong?

Farewell Dear Ghost (c) Christoph Liebentritt

Philipp Szalay: Im Grunde ist „Moonglass“ überhaupt kein Lovesong. Das Lied verhandelt mehr die Frage, inwiefern man sich auf etwas einlassen kann und an welchem Punkt man unfreiwillig loslässt. Es geht um eine anfängliche Unterwürfigkeit, die zu einer Situation führt, über die man die Kontrolle verliert.

Wie homogen bzw. inhomogen sind die Nummern des Albums hinsichtlich der Stimmung?

Philipp Szalay: „Neon Nature“ soll wie eine kleine Utopie funktionieren. Wir wollten eine Welt bauen: groß, glitzernd und geil. Textlich haben wir viele verschiedene Figuren erschaffen, die sich in dieser scheinbar großartigen Welt bewegen und sehr schnell die Ambivalenz einer solchen Perfektion sichtbar machen.

Andreas Födinger: Auch den Genderdiskurs haben wir ein bisschen aufgenommen. Es hat Spaß gemacht, mit Maskulinität zu spielen, die Brust nach vorne zu strecken und dann ein Krönchen aufzusetzen, schwach zu sein, wenn alle stark sind und umgekehrt.

Reagiert „Neon Nature“ konkret auf sozialpolitische Ereignisse und Einflüsse?

Andreas Födinger: Konkret reagieren wir auf nichts, unbewusst aber wahrscheinlich immer.

Philipp: Wenn man möchte, kann man einen Kontext finden, den erhobenen Zeigefinger aber sicher nicht!

Philipp: Kunst ist mehr als nur Entertainment, aber ich finde es sehr okay, wenn sie nicht mehr sein möchte und unser Publikum zufrieden ist, eine coole Show gesehen zu habe.

Würden Sie für eine Partei spielen?

Andreas Födinger: Ich würde für eine Bewegung spielen, beispielsweise auf jeder Refugees-Welcome-Veranstaltung.

Philipp: Für eine Partei zu spielen finde ich auch eher schwierig. Das muss jede Band für sich entscheiden. Als Privatpersonen sind wir alle sehr politisch, aber uns als Künstler politisch zu positionieren, wollen wir momentan nicht.

Philipp: Es kommt auch sehr auf die Situation an. Wenn man an nationale oder internationale Stichwahlen denkt, bekommt eine Positionierung eine andere Bedeutung und Notwendigkeit. In Amerika haben zum Beispiel sehr viele Musikerinnen und Musiker für Obama gespielt.

Andreas Födinger: Wir werden sehen, welches Ergebnis uns bei den Nationalratswahlen bevorsteht und welche Dringlichkeit wir verspüren werden, uns künstlerisch zu äußern. Kann durchaus sein, dass das früher oder später der Fall sein wird, aber ich glaube an eine gute Zukunft [lacht]!

Warum funktioniert die Musik von Farewell Dear Ghost auch in Deutschland so gut und was hält Sie in Österreich?

Andreas Födinger: Theoretisch hält uns hier nichts, aber ich denke, dass es für eine Musikerin bzw. einen Musiker trotzdem möglich ist, mit dem Geist der österreichischen Seele weit zu kommen. Wir leben in einer globalisierten Welt, in der englischsprachige Popmusik überall funktionieren kann.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Julia Philomena

Live:
9. November, WUK, Wien

10. November, Generalmusikdirektion, Graz
30. November, ARGEkultur, Salzburg
7. Dezember, Kino im Kesselhaus, Krems an der Donau

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