„Künstlerinnen und Künstler sind gleichzeitig Schaffende und Forschende.“ – Marko Ciciliani, Barbara Lüneburg und Andreas Pirchner im Gespräch

Mit dem künstlerischen Forschungsprojekt „GAPPP – Gamified Audiovisual Performance and Performance Practice“ haben die beiden künstlerisch Forschenden MARKO CICILIANI (Komposition) und BARBARA LÜNEBURG (Violine) sowie der Musikwissenschaftler und Designer ANDREAS PIRCHNER eine kreative Forschungsplattform geschaffen, die unerwartete Tragweiten hatte und das Begegnen und den Austausch von Disziplinen und Kunst auf vielen Ebenen ermöglichte. GAPPP wurde vom österreichischen Wissenschaftsfonds als PEEK Projekt AR 364-G24 gefördert. Einen Einblick in die Arbeit des Teams bietet die Publikation „Ludified“, die die wichtigsten Daten und Ergebnisse der fünf Jahre zusammenfasst und im Frühjahr dieses Jahres erschien.

Wie würdet ihr euch selbst jeweils in Kürze vorstellen?

Marko Ciciliani: Ich bin seit ca. 25 Jahren als Komponist und audiovisueller Künstler tätig und darüber hinaus an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz Professor für Komposition, Computermusik und Sounddesign. Zur künstlerischen Forschung kam ich über mein Doktorat an der Brunel University London. Das Forschungsprojekt GAPPP wurde von mir konzipiert und geleitet. Mein spezielles Forschungsgebiet war darin die audiovisuelle Komposition.

Barbara Lüneburg: Ich bin Professorin für künstlerische Forschung an der Anton Bruckner Privatuniversität und leite die dortigen Doktoratsprogramme. Als Performerin bin ich seit über dreißig Jahren international tätig mit Schwerpunkt in der zeitgenössischen Musik. In GAPPP war ich die Hauptforscherin zu Performance Studies.

Andreas Pirchner:  Ich bin Designer, Musikwissenschaftler, Programmierer und Lektor an der Kunstuni Linz und arbeite derzeit an meiner Dissertation in Sound und Music Computing am IEM [an der Kunstuniversität Graz, Anm.] in Graz. Ich war in GAPPP für die Zuschauerforschung verantwortlich. 

LUDIFIED – The Book

Ihr habt Anfang des Jahres zum künstlerischen Forschungsprojekt GAPPP die Publikation „Ludified“ herausgebracht. Seht Ihr das Buch eher als Extrakt oder als Essenz des Forschungsprojektes an?

Marko Ciciliani: Man könnte sagen, „Ludified“ ist die Essenz. Das Buch umfasst nicht nur wissenschaftliche Texte von vielen der Autorinnen und Autoren sowie von Künstlerinnen und Künstlern, die an dem Projekt im Laufe der Jahre mitgearbeitet haben, sondern auch eine umfassende Dokumentation der Kunstwerke, die in den fünf Jahren geschaffen wurden.

Also ist das Projekt mit diesen fünf Jahren jetzt abgeschlossen?

Marko Ciciliani: Eigentlich war es auf drei Jahre begrenzt und ich konnte zweimal um je ein Jahr verlängern. Damit haben wir die offizielle Maximaldauer dieses Projekts ausgeschöpft.

Was hat euch denn zu eurer Zusammenarbeit bewogen?

Marko Ciciliani: Mich beschäftigt schon lange das künstlerische Potenzial von Elementen aus Computerspielen im Kontext der experimentellen audiovisuellen Komposition. Durch den kontinuierlichen Austausch mit Barbara [Lüneburg, Anm.], die sehr aktiv in der künstlerischen Forschung tätig ist, hat sich mir noch einmal eine zusätzliche Perspektive eröffnet, durch die der Aspekt der Performance eine besondere Relevanz bekam. Folglich lag es nahe, dass ich sie in der Antragstellung des Projekts als Teil des Teams von Anfang an mitbedacht habe.

Barbara Lüneburg: Als Performerin stehe ich immer zwischen Komponistin bzw. Komponist und Publikum, und ganz besonders offensichtlich ist dies in der zeitgenössischen Musik. In diesem Projekt wurde das so deutlich, weil sich durch die Gamestrukturen, die in die Kompositionen eingebaut sind, so viele kreative Handlungsmöglichkeiten aufgetan haben. Es ging darum, wie ich als Performerin mit den Vorgaben der Komponistinnen und Komponisten kreativ umgegangen bin und das Stück realisiert habe, und wie es dann vom Publikum wahrgenommen wurde. Der Publikumsaspekt war folglich auch die dritte Säule im Projekt, die in der Forschung von Andreas Pirchner wahrgenommen wurde.

Andreas Pirchner

Andreas Pirchner: Gerade die Publikumsseite in die Betrachtungen miteinzubeziehen, war bei diesem Projekt der künstlerischen Forschung ein sehr interessanter Aspekt. Es gibt ja Sichtweisen, die annehmen, dass Kunstwerke sich eigentlich erst mit der Rezeption in eine realisierte Gestalt konkretisieren. Dieser Aspekt war auch in Bezug auf die Erfahrung des Publikums sehr interessant. Marko Ciciliani hatte das Projekt daher von Anbeginn so angelegt, dass Publikumserfahrungen als rückwirkende Informationen für die Komponistinnen und Komponisten sowie für die Performerinnen und Performer zur Verfügung stehen sollten. In diesem iterativen Versuchsdesign fanden Laborkonzerte wiederholt statt, in die die gewonnenen Informationen mit einbezogen wurden.

Formal und bezüglich der Förderung ist das Projekt sicher abgeschlossen, aber die Erfahrungen und das erworbene Wissen werden auf jeden Fall zumindest in uns dreien weiterwirken. Ich bin definitiv noch mit der Bearbeitung von Informationen und Resultaten, die GAPPP-bezogen sind, beschäftigt.

Marko Ciciliani: Nicht zuletzt hat Andreas ein Doktorat begonnen, das aus GAPPP hervorgegangen ist.

Andreas Pirchner: Genau. Zudem schreibe ich gerade an einem Paper mit GAPPP-Bezug.

Marko Ciciliani: Und Anfang Juli gab es in Spanien die Uraufführung meines Projekts „Eleven Rooms“, in dem auch noch „GAPPP-Spuren“ auszumachen sind. Ein Projekt wie GAPPP hört natürlich nicht abrupt auf.

Marko Ciciliani: “Anna & Marie” (c) Marko Ciciliani

Was hat euch jeweils zur künstlerischen Forschung gebracht? Es sieht nach einem Wendepunkt in den jeweiligen Biografien aus …

Barbara Lüneburg: Marko war der Erste von uns, der ein Doktorat machen wollte und damit in die Forschung einstieg, und ich kam nur ein paar Stunden später dazu.

Marko Ciciliani: Bereits Anfang der Zweitausenderjahre hatte ich begonnen, mich mit visuellen Aspekten in meiner Arbeit zu beschäftigen und suchte nach einem Rahmen, um mich damit systematischer und tiefgehender befassen zu können. Beim Besuch eines gemeinsamen Freundes, dem Musikwissenschaftler Bob Gilmore in England, wagte ich, ihn zu fragen, ob es überhaupt denkbar wäre, ein Doktorat zu machen, in dem ich mich auf das Verhältnis zwischen Licht und Musik konzentriere. Zu meiner großen Überraschung fand er es ein tolles Thema, das durchaus realisierbar wäre. In diesem Moment habe ich mich für ein Doktorat entschieden.

Barbara Lüneburg: Ich spielte zu der Zeit sehr viel, veranstaltete Konzerte, konzipierte neue Programme … Aber als ich von Markos Doktoratsvorhaben hörte, hat mich gleich der Neid gepackt und ich wollte das auch machen. Der Zeitpunkt passte einfach, denn einerseits liebte ich das Konzertieren­ – ich bin ein Bühnentier­ –, andererseits suchte ich nach einer neuen, geistigen Herausforderung. So intensiv in ein Thema einzusteigen, erschien mir spannend und lustvoll.

Künstlerische Doktorate waren damals noch nicht so geläufig, das Orpheus Institute in Belgien hatte gerade erst begonnen, künstlerische Doktorate zu betreuen. Ich selbst dissertierte bei unserem Freund Bob Gilmore an der Brunel University und war zu der Zeit im Umfeld unserer Kolleginnen und Kollegen die erste Performerin mit einem Doktorat. Das Doktorat war für mich eine derart prägende Zeit, dass es mich als Interpretin und als Gesamtkünstlerin und meine Herangehensweise an die Kunst, ans Performen, an die sozialen Bedingungen, unter denen wir Musik machen, grundlegend verändert hat. Ich kann daher nur jeder und jedem zuraten, die bzw. der Lust hat, sich intellektuell und systematisch mit einem Thema oder mit Fragen, die aus der eigenen Kunst entstanden sind, auseinanderzusetzen, sich in die künstlerische Forschung zu begeben. Nicht umsonst heißt die PEEK-Schiene vom FWF „Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste“. Für mich heißt künstlerische Forschung, den Prozess des Kunstmachens und das eigene Sein als Künstlerin bzw. Künstler zu untersuchen und zu entwickeln.

Das Doktorat wurde auch zum Sprungbrett für meine akademische Universitätskarriere. Unmittelbar nachdem ich das Doktorat abgeschlossen hatte, bekam ich ein eine PEEK-Projektförderung zuerkannt. Anschließend folgte bald meine erste Professur für Ensemble und digitale Performance an der Musikhochschule Trossingen und 2018 eine Professur für künstlerische Forschung an der Anton Bruckner Privatuniversität.

Marko Ciciliani: Für mich hat es die Sicht auf Akademie grundlegend verändert. Natürlich habe ich als Komponist auch lange Zeit damit geliebäugelt, eine Stelle in der Universitätslehre zu bekommen, um mir damit endlich ein geregeltes Einkommen zu sichern. Gleichzeitig wähnte ich da einen konservativen Geist, der mich abschreckte. Jetzt, nachdem ich der künstlerischen Forschung begegnet bin, denke ich aber, Akademie kann auch so richtig geil sein, nichts Verstaubtes, sondern etwas, das viele neue Möglichkeitsräume öffnet.

Andreas Pirchner: Mir geht es ähnlich, dass das Prinzip der künstlerischen Forschung einen neuen Einfluss, eine Bereicherung für mich darstellt. Mein Background unterscheidet sich ja ein bisschen von dem der anderen beiden: Erstens bin ich noch bei meinem Doktorat und zweitens war mein erstes Studium visuelle Gestaltung, dann Musikwissenschaft. In das Projekt kam ich also eher von der rein wissenschaftlichen Seite. Die künstlerische Forschung in GAPPP hat so manche meiner Perspektiven erweitert.

“Kilgore” @Ars Electronica Center (c) Andreas Pirchner

„In der künstlerischen Forschung braucht es für jedes Projekt eine maßgeschneiderte Methodik.“

Ist es Teil dieses Forschungsprojektes gewesen, überhaupt erst Strukturen, Ansätze oder Methoden für die künstlerische Forschung zu entwickeln?

Barbara Lüneburg: Wir sind in der künstlerischen Forschung gar nicht mehr ganz so am Anfang, wie manche denken. Es gibt die Disziplin seit etwa dreißig Jahren, das ist für eine Wissenschaft zugegebenermaßen noch nicht sehr alt. Andererseits hat sie inzwischen wirklich Fuß gefasst. Natürlich gibt es immer wieder Diskussionen darüber, was künstlerische Forschung ist, welches ihre Methoden sind und ihre Erscheinungsform – darüber wird in ihren vielen verschiedenen Unterdisziplinen gerungen. Allein bei der Musik haben wir zum Beispiel Performance, Komposition, Alte Musik, Filmmusik, Jazz, Popmusik. Darüber hinaus gibt es aber auch künstlerische Forschung in den Bereichen Design, Architektur, Literatur, Tanz, allen Arten von visuellen Künsten. Natürlich bringen alle Gruppen eigene Ansätze aus ihrer Disziplin mit, wird der Diskurs aus unterschiedlichen Kontexten gespeist und dadurch möglicherweise Unterschiedliches von der künstlerischen Forschung gefordert. Dadurch bleibt das Thema in Bewegung und das macht es so spannend. Mittlerweile gibt es aber sehr wohl auch Standards. Essenziell ist beispielsweise, dass die behandelten Fragen aus der Kunst selbst kommen und aus der eigenen Art des Kunstschaffens entstehen, wir sie aber auch über unser Kunstschaffen zu beantworten versuchen. Die Kunst wirft die Fragen auf, ist gleichzeitig Untersuchungsobjekt und liefert im besten Fall auch die Antworten. Die Künstlerinnen und Künstler sind so gleichzeitig Schaffende und Forschende. Man muss dabei sehr genau schauen, dass das methodisch sauber vonstatten geht. Und um diesen Prozess wird gerungen. In der künstlerischen Forschung braucht es für jedes Projekt eine maßgeschneiderte Methodik.

Wie sah eure Zusammenarbeit aus und auf welche Weise lieferte sie tatsächlich konkrete und ergiebige Auskünfte?

Marko Ciciliani: Einen wesentlichen Punkt bildeten die Arbeitsperioden und Lab-Konzerte, die Bestandteil des Forschungsdesigns waren. Pro Halbjahr haben wir eine Periode von fünf Tagen eingeplant, in der wir uns in das IEM eingeschlossen und neue GAPPP-Werke geprobt haben, die speziell für das Projekt und diese Arbeitsperioden entwickelt und beauftragt waren.

Barbara Lüneburg: Grundsätzlich war dabei unsere Frage, wie es Komposition, Aufführung und Wahrnehmung eines Publikums beeinflusst, wenn man Gamestrukturen und Elemente von Computergames in audiovisuelle Stücke hineinwebt. Unterfragen dazu haben wir den Komponistinnen und Komponisten sowie audiovisuellen Künstlerinnen und Künstlern vorgelegt, die für uns gearbeitet haben, um neue Werke zu entwickeln.

Marko Ciciliani: Neben uns als Team aus Kunst und Forschung waren in den Labperioden die jeweiligen Komponierenden und oft noch Gastforschende oder Gastkünstlerinnen und -künstler dabei, so dass ein extrem lebendiger Diskurs zwischen uns allen stattfand. In den fünf Tagen beobachteten und diskutierten wir gemeinsam, wie das Stück zwischen Performerin (oft Barbara) bzw. Performer und Künstlerinnen und Künstlern entstand und sich entwickelte, und am letzten Tag mündete das Worklab in ein sogenanntes Lab-Konzert mit einem ausgewählten Publikum von 30 bis 35 Leuten, das zu den Aufführungen Fragebögen ausfüllte und von uns anschließend interviewt wurde.

Barbara Lüneburg: Die Komponierenden kamen normalerweise gleich zwei Arbeitsperioden hintereinander. In der zweiten Arbeitsphase wurde dann eine erweiterte Version des Stückes erarbeitet, in die das Feedback und Resultate der ersten Runden bereits integriert waren. Da konnte man also schon die ersten Ergebnisse unserer Forschungen erleben.

Marko Ciciliani: Der Grundgedanke war dabei immer, die Stücke aus drei unterschiedlichen Perspektiven zu untersuchen: aus der Sicht der Komposition, der Performance und des Publikums. Das brachte neben etlichen neuen Werken, die zum großen Teil in „Ludified“ dokumentiert sind, auch neue Forschungsmethoden zutage, um etwa gamebasierte Stücke besser miteinander vergleichen zu können; Andreas entwickelte beispielsweise „IRMA“.

Andreas Pirchner: Für meinen Bereich ist das ein Beispiel, wo mich die Herangehensweise in der künstlerischen Forschung tatsächlich inspiriert hat, neue Methoden zu entwickeln oder Methoden zu adaptieren. Zum Beispiel haben wir über Fragebögen versucht zu eruieren, wie das Publikum ein Stück wahrgenommen hat. Es stellte sich schnell heraus, dass es wichtig ist, zeitbezogene Rückmeldungen zu den Werken zu bekommen, damit Komponierende und Performende erfahren können, zu welchen Zeitpunkten der jeweiligen Stücke welche Rückmeldungen vom Publikum kommen. Wir haben daher mit „IRMA“ ein Werkzeug entwickelt, bei dem das Publikum in Echtzeit über Tablets Rückmeldungen zum Stück geben konnten, die anschließend zur Datenerhebung zurate gezogen wurden. Also statt unserer Fragebögen, über die wir nur zeitlich vage Informationen zu den Werken bekamen, hatten wir nun die Möglichkeit zur genauen Verzeitlichung von Erfahrungen.

Barbara Lüneburg: Im Sinne der künstlerischen Forschung bestand das eigentlich Künstlerische in den Kompositionsaufträgen und den Aufführungen der neuen Werke. Den Prozess der Entstehung und Aufführung der Stücke und die Wirkung auf das Publikum haben wir dabei ständig beobachtet und reflektiert, um die Ergebnisse in einer Feedbackschleife in die nächsten Stücke oder die nächsten Aufführungen davon einzuarbeiten. Die Kombination von all dem macht im Kern die künstlerische Forschung aus. Es war superspannend zu sehen und allmählich zu verstehen, wie alle – Komponierende, Performende und das Publikum – in dem Prozess zusammenkommen.

Ist dabei der Begriff „Ludomusikologie“ mit berührt worden?

Marko Ciciliani: Die Ludomusikologie ist nicht direkt mit unserer Forschungsfrage verbunden. Dort wird die Verwendung von Klang in Computerspielen behandelt, aber wir haben nie Computerspiele gemacht. Uns ging es wirklich immer nur darum, wie man Elemente aus Computerspielen im Kontext audiovisueller Komposition in ästhetisch sinnvoller Weise verwenden kann.

Wir sind aber mit der Ludomusikologie-Community im Austausch, denn es gibt thematisch Überschneidungen. Wir haben deswegen auch gegenseitig Gastvorträge bei unseren jeweiligen Konferenzen gehalten.

Andreas Pirchner: Eine Schnittstelle war auch der gemeinsame Zugriff auf die „Digital Games Studies“, zum Beispiel bei der Frage, wie Performende sich verhalten, wenn sich kein festgelegter Weg durch eine Komposition erkennen lässt, sondern aktives Entscheiden erforderlich ist.

„Jede Disziplin braucht Veränderung.“

Hat sich denn aus dieser Forschung so etwas wie partizipative Komposition oder partizipatives Performen ergeben?

Barbara Lüneburg: Es gibt unter den geschaffenen Kunstwerken einige, bei denen auch das Publikum partizipieren konnte. Aber das ist keine logische Schlussfolgerung aus dem Forschungsprozess, eher eine der Ausformungen, die sich daraus ergeben haben.

Marko Ciciliani: Ich habe mich am Anfang gegen Publikumspartizipation gewehrt, weil ich sehr daran interessiert war, wie sich die Rolle der Performenden in so einem Kontext manifestiert. Wir hatten in den Werken oft komplexe Situationen, die den Aufführenden vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten boten. Ich fragte mich, wie Performende mit diesem großen Gestaltungsbereich ihre persönliche Version der Stücke artikulieren konnten. Soll ein Stück für Publikumspartizipation offen sein, muss es aber simpler gestrickt sein, es darf keine Lernkurve oder Auseinandersetzungsperiode vorausgesetzt werden, das Stück muss sofort funktionieren. Publikumspartizipation stand nicht im Mittelpunkt unserer Arbeit, es hat sich allerdings wohl ein wenig eingeschlichen und einige unserer Gastkünstlerinnen und -künstler hatten es in ihre Werke inkludiert. Trotz aller anfänglicher Skepsis fand ich den Aspekt der Publikumspartizipation in diesen Projekten dann doch sehr faszinierend, sodass ich, wenn auch in sehr vorsichtigem Maße, selbst begonnen habe, damit zu arbeiten.

Barbara Lüneburg: Hier zeigt sich, dass künstlerische Forschung die Forschenden, also Künstlerinnen und Künsler, auch verändert. Man wird über die Forschung mit Dingen konfrontiert, mit denen man sich auseinandersetzen muss, und darüber wird Interesse geweckt für etwas, das sonst vielleicht gar nicht in der eigenen Kunst Platz gehabt hätte.

Andreas Pirchner: Man könnte auch sagen, dass sich die künstlerische Forschung gar nicht so sehr von einer lebendigen naturwissenschaftlichen Forschung unterscheidet. Denn jede Disziplin braucht Veränderung, ohne ein Fortschreiten generiert sie ja kein neues Wissen mehr. In dem Sinne ist die Institutionalisierung von künstlerischer Forschung eine Gratwanderung zwischen Festgelegtem, Etabliertem und Offenem. Das Arbeiten in der Kunst, in den Laborkonzerten kann für die traditionelle wissenschaftliche Herangehensweise ein unglaublicher Gewinn sein.

„An die Stelle der Objektivität tritt hier die Intersubjektivität.“

Ist es notwendig, in der künstlerischen Forschung Abstand vom eigenen Werk bzw. dem eigenen Performen zu gewinnen, und wenn ja, wie gelingt das?

Barbara Lüneburg: Bei der künstlerischen Forschung muss man einen Balanceakt machen zwischen dem Involviertsein, das typisch ist für die Kunst, und der Notwendigkeit, gleichzeitig einen Schritt zurückzutreten, um möglichst neutral betrachten zu können. Aber wo verankert man sich dann, um sich nicht in seiner persönlichen Prägung oder Erfahrung zu verfangen? Dafür braucht es unbedingt einen theoretischen Hintergrund, man muss den wissenschaftlichen, theoretischen und auch den künstlerischen Kontext fixieren, um das Heraustreten in eine Außenperspektive, die durch die innere Erfahrung geprägt ist, zu ermöglichen. Man braucht eine systematische Herangehensweise und muss wissen: In welchem Kontext stehe ich und steht mein Projekt? Was ist mein Hintergrund? Was möchte ich eigentlich mit meiner Forschung erreichen? Wie objektiviere ich das, was ich sehe und subjektiv erlebe?

Für uns war es daher zum Beispiel sehr wichtig, die Interviews zu führen, und zwar mit den Komponierenden, mit den Performenden und mit Publikumsmitgliedern, um eben auch die Publikumsperspektive mit hineinnehmen zu können. Wir haben uns gegenseitig reflektiert und auch mal infrage gestellt. Das ist einer der großen Vorteile der PEEK-Projekte: Man kann interdisziplinär arbeiten. Wir konnten uns auf jeden Fall immer zu dritt gegenseitig den Spiegel vorhalten.

Marko Ciciliani: In der künstlerischen Forschung gibt es meiner Meinung nach keine sogenannte Objektivität. Die Fragen aus der eigenen Praxis zu entwickeln, sie dann wieder in die eigene Praxis zu überführen und darüber versuchen zu reflektieren, ist einfach durch das fragende und kreative „Subjekt“ geprägt. Natürlich muss man sich die Möglichkeit schaffen, durch geeignete Methoden eine kritische Distanz zu gewinnen, aber diese ist nicht gleichzusetzen mit einer Objektivierbarkeit, wie man sie in den Naturwissenschaften proklamiert. An die Stelle der Objektivität tritt hier die Intersubjektivität. Außerdem muss man seine Forschung auf eine Art und Weise vermitteln können, dass für Außenstehende nachvollziehbar wird, warum man von einem Schritt zum anderen gekommen ist. Oft arbeitet man in der künstlerischen Forschung mit Fallstudien, in unserem Fall waren das eine Anzahl von Kompositionen und Performances, mit denen wir uns dann auseinandersetzten. Das ist natürlich keine quantitative Forschung.

Andreas Pirchner: Wenn man in unserem Fall die Musikwissenschaft als Hilfswissenschaft zur künstlerischen Forschung sieht, kann man vielleicht Inseln innerhalb der Fragestellungen schaffen, die vor einem subjektiven Hintergrund gestellt werden, um Methoden anzuwenden, die eine Objektivierung anstreben. In unserem Fall sind von der „Hilfsdisziplin“ Musikwissenschaft Rückmeldungen an die Performenden und Komponierenden generiert worden, was natürlich wieder Subjektivität hervorbringt. Aber ich glaube, dass man zumindest in Teilbereichen eine Objektivierung anstreben kann, zum Beispiel in Hinblick auf die Forschung rund um das Publikumserleben. Natürlich immer unter dem Vorbehalt, dass die Forschenden selbst als Personen ebenfalls eingeordnet werden müssen, das hat ja Barbara schon angedeutet.

Barbara Lüneburg: Es geht nicht um Wahrheitsfindung, sondern um Erkenntnisgewinn, ein typisch geisteswissenschaftliches Phänomen. Keine der Geisteswissenschaften kann wirklich „absolute Wahrheiten“ herausfinden. Spannend kommt bei der künstlerischen Forschung hinzu, dass nach Erkenntnis aus einer Perspektive von innen heraus gesucht wird, die in anderer Forschung so nicht geleistet werden kann. Diese innere Perspektive auf Vorgänge ist das Faszinierende der künstlerischen Forschung, eine Perspektive, zu der von außen normalerweise niemand sonst so unverfälscht Zugang hat.

Marko Ciciliani: Im Diskurs begegnet man immer wieder dem Vergleich von künstlerischer Forschung mit den Naturwissenschaften, reproduzierbare Ergebnisse und Objektivität sind dabei oft die Schlagworte – eine mühsame Diskussion, weil an entgegengesetzten Polen agiert wird. Oft wird aber übersehen, dass es ähnliche Phänomene schon lange in den Humanwissenschaften gibt. Gerade Soziologie und Anthropologie haben oft mit ähnlichen Problemen zu tun, was die Frage von Perspektiven, Forschungsergebnissen und Interpretation betrifft.

Barbara Lüneburg (c) Andreas Pirchner

Haben denn Soziologen, gar Neurowissenschaftler am Projekt mitgewirkt oder gehörte das zum theoretischen Fundament eurer Arbeit?

Marko Ciciliani: Keine reinen Soziologen und keine Neurowissenschaftler. Die Vorgängerin von Andreas im Projekt war Susanne Sackl-Scharif, sie ist Musikwissenschaftlerin und Kultursoziologin. Von ihr stammen die Entwürfe der Fragebögen für die Publikumsforschung. Sie hat die Arbeit sehr geprägt, indem sie ihre soziologische Perspektive mit eingebracht hat. Auch die Anthropologin Georgina Born war im Advisory-Board involviert.

Wie bilden sich die Erkenntnisse auf die Entwicklung und Abbildung von Partituren ab, wie findet die Vermittlung von Komponierenden zu Performenden statt? Und wie muss es aussehen, damit die Wirkung auf das Publikum Berücksichtigung finden kann?

Marko Ciciliani: Traditionell notierte Partituren gibt es keine. Das gilt für alle, die im Rahmen von GAPPP gearbeitet haben. Bestenfalls gibt es textbasierte Partituren, also Beschreibungen der unterschiedlichen Aufgaben in einem Stück. Oft dient der visuelle Anteil des Stücks als Ergänzung einer Partitur, auf die dann verschiedene Reaktionen erfolgen können. Deswegen haben wir in vielen Projekten das visuelle Resultat auch als eine Form von Partitur gesehen, etwa eine 3D-Landschaft, in der dann bestimmte Navigations- und Handlungsmöglichkeiten gegeben sind.

Barbara Lüneburg: Einer der ganz wichtigen Begriffe wurde für uns der Begriff vom „Space of Possibility“ aus den Game-Theorien, also der Möglichkeitsraum. Statt einer Partitur bekamen wir eine visuelle und auditive Umgebung, die an gewisse Regeln gekoppelt waren. Dieses Prinzip war übernommen aus den Games. Diese komplexe Umgebung entspricht dem Möglichkeitsraum, der sonst von einer Partitur vorgegeben wird. Darauf und damit improvisierten wir mit unseren Instrumenten, das heißt, es gab für die Performenden enorm viel Freiheit innerhalb eines festgelegten Möglichkeitsraumes.

Weckt das dann auch die spielerische Lust am Performen und im Performer?

Barbara Lüneburg: Wer gern improvisiert, mag das sicher. Aber man ist nicht als Gamerin bzw. Gamer in dem Stück, sondern als Performende bzw. Performender, also hatte ich immer das Publikum und dessen Erleben im Hinterkopf: Was hört das Publikum? Wie bzw. was sieht es? Wie kann ich ihm eine Struktur geben, wie kann ich es durch diesen Möglichkeitsraum in einer ästhetisch sinnvollen Art und Weise führen.

In deinem Background steht ja eine klassische Ausbildung – bildet sie nicht trotz allem eine Grundlage dafür, auf diese Weise arbeiten zu können? Ist eine Loskopplung von der Musiktradition durch die Digitalisierung möglich bzw.  sinnvoll?

Barbara Lüneburg: Für mich ist die klassische Ausbildung die Grundlage für all mein Tun. Selbst das Streichquartett für virtuelle Instrumente von Rob Hamilton, das ein Werk von GAPPP war, in dem ich meine virtuelle Geige nur durch eine 3D-Brille gesehen habe und meine Arme quasi in der Luft ohne reales Instrument bewegt habe, war für die Performance durch professionelle Violinistinnen bzw. Violinisten konzipiert. Andererseits brauche ich wiederum meine Jahre und Erfahrung in der zeitgenössischen Musik, um so improvisieren und mit dem angebotenen Material komponieren zu können, wie ich es in GAPPP tun muss.

Andreas Pirchner: Wobei man anfügen muss, dass Barbara eine absolute Ausnahmekünstlerin ist. Die meisten traditionell ausgebildeten Performenden brauchen viel stärker eine vorgegebene Partitur. Dieses freie Improvisieren und sich dabei auch auf solche technologischen Umgebungen einzulassen, geht ja weit über die klassische Ausbildung hinaus. Beispielsweise das Stück aus unserem Symposium, wo nur ihre Schattenrisse hinter einer Leinwand sichtbar wurden [„String Mask Overflow“ von Pedro Gonzalez-Fernandez; Anm.], birgt eine extreme Körperlichkeit, die sie da als Performerin umsetzen musste. Vielleicht hat das längerfristig eine verändernde Wirkung auf die Ausbildung, heute wird ja auch wahrscheinlich weniger Generalbass-Improvisieren gelehrt als vor hundert Jahren. Die Entwicklung von Kunst wirkt doch auf die Ausbildung zurück.

Marko Ciciliani: Natürlich spielt die klassische Ausbildung für Performer*innen wie bei Barbara eine prägende Rolle, aber genauso prägend sind die jahrelange Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik, die Erfahrungen mit Improvisation, die wir persönlich hauptsächlich in den Niederlanden gesammelt haben. Aber was man dazu braucht, lernt man nicht an Musikhochschulen.

Barbara Lüneburg: Oder wie Andreas sagt: Noch nicht. Es gibt ja zum Teil schon Ansätze, wo so etwas gelehrt wird. Für mich war die klassische Ausbildung eine extrem wichtige Grundlage. Ich will nicht sagen, dass sie eine unabdingbare Voraussetzung ist, um solche Musik zu spielen, denn ich kenne Improvisierende ohne klassische instrumentale Ausbildung, die in ihrem Feld fantastisch sind. Bei manchen GAPPP-Stücken wäre ihnen sicher ein tolles Ergebnis gelungen, bei anderen Stücken gingen die Komponierenden aber von ausgebildeten Instrumentalistinnen und Instrumentalisten aus.

Andreas Pirchner: Ja was bedeutet es überhaupt, ein Instrument zu lernen? Szilárd Benes zum Beispiel, der auch ein Langzeitkollaborateur bei GAPPP war, hat einen starken Klezmer- und Jazz-Background und improvisiert im „nicht-klassischen“ Genre.

Barbara Lüneburg: Aber gerade Szilárd ist das perfekte Beispiel für jemanden, der einfach unglaublich virtuos auf seinem Instrument und ein Top-Performer ist. Gerade sein klassisch-instrumentales Fundament ist enorm hoch.

Andreas Pirchner: Absolut. Aber trotzdem frage ich: Was ist die Ausbildung überhaupt? Geht es immer um die klassische Ausbildung oder auch um die in anderen Musiktraditionen?

Was ist für dich, Marko, eigentlich so interessant daran, dich von Games oder Spielumgebungen inspirieren zu lassen?

Marko Ciciliani: Vor etwa zehn Jahren spielte ich auf einem Festival, wo Künstler auftraten, die Gameartiges in ihren Projekten hatten. Ihre Aufführungen hatten eine besondere Dynamik und Frische, die mich spontan sehr gefesselt und in ihren Bann gezogen hat, obwohl ich nicht verstand, nach welchen Regeln die Stücke funktionierten.

Games hatten auf mich damals eher eine einschüchternde Wirkung, weil mir die Gamekultur mehr oder weniger unbekannt war. Trotzdem konnte ich den Eindruck, den diese Aufführungen bei mir hinterlassen hatten, nicht ignorieren und begann mich mit Spieltheorien und Game-Kultur zu befassen. Ich begann, Spielelemente in einige meiner Kunstprojekte zu integrieren, wobei mir half, dass ich mich früher intensiv mit Open-Form-Komposition befasst habe. Mir erschlossen sich allmählich irrsinnig viele Möglichkeiten, Game-Elemente in musikalischen oder audiovisuellen Kontexten nutzbar zu machen und so entstand dann die Idee, es im Rahmen eines größer angelegten Forschungsprojektes zu untersuchen. Es ging mir aber wirklich nie darum, richtige Games zu machen, auch wenn einige Projekte entstanden sind, die sehr danach aussehen, während andere Werke gar keinen Game-Aspekt erahnen lassen.

Deine Komposition „Formular Minus One“ sieht zum Beispiel aus wie ein Game, welche Stücke meinst du, die gar nichts dergleichen assoziieren lassen?

Marko Ciciliani: Bei „Tympanic Touch“ beispielsweise würde man im Konzertkontext wahrscheinlich nicht das Spiel erkennen, das zwischen den beiden Performenden abläuft.

Andreas Pirchner: Dazu kann ich sagen, dass beim GAPPP-Projekt einige unserer Annahmen durch unsere Publikumsbefragungen quasi empirisch bestätigt wurden, wenn wir zum Beispiel direkt und sehr offen die Wahrnehmung von Game-Elementen befragten. Oder umgekehrt Mitglieder der Fokusgruppen, die wir nach dem Konzert interviewten, teilweise selbst nach den Game-Elementen in den Stücken fragten.

„Die ganz individuelle Unabhängigkeit von allem gibt es schlichtweg nicht.“

Marko, wie ist das für dich als Komponist, mögliche Intentionen deiner Stücke dann derart dezidiert zu überprüfen? Grenzt das nicht an manipulative Tendenzen?

Marko Ciciliani: Ja, warum macht man das? Wir probieren Sachen aus, reflektieren darüber und versuchen, Dinge genauer zu verstehen. Dabei ist ganz wesentlich, dass diese Erfahrungen auch wieder in die nächsten Versuche einfließen. In der künstlerischen Forschung findet man auffallend oft dieses iterative Arbeiten vor. Es ist einfach äußerst sinnvoll, um Dinge ausprobieren, fühlen und erkennen zu können, daran Fragen zu präzisieren und die gewonnenen Erkenntnisse bei nächster Gelegenheit gleich wieder in die künstlerische Praxis einfließen zu lassen. Das ist ein toller Prozess. Dabei geht es gerade um das „Manipulative“, aber nicht in einem negativen Sinn, sondern in dem Sinn, dass man aus dem Prozess etwas lernen will und das Gelernte sofort wieder anwenden möchte.

Andreas Pirchner: Es ist ein Merkmal der künstlerischen Forschung, dass der Messvorgang bzw. die Untersuchung wiederum das Untersuchte beeinflusst, also rückwirkt. Das steht im Unterschied zur naturwissenschaftlichen Herangehensweise, wo zwar womöglich auch veränderliche Prozesse untersucht werden, aber, während man nach zugrundeliegenden Regeln forscht, von einer in gewisser Weise unveränderlichen, messbaren Außenwelt ausgegangen wird. Ausnahme ist hier die Theorie zur Quantenphysik, in der es einen großen Diskurs zur Subjektivität des Betrachters gibt.

Barbara Lüneburg: Ein bisschen schwingt in deiner Frage auch der Mythos von der Unabhängigkeit des künstlerischen Genies mit, das losgelöst von jeglicher gesellschaftlichen Meinung arbeitet. In der künstlerischen Forschung wird klar gesehen und ist es relevant, dass Künstlerinnen und Künstler in einer Community, in einer Gesellschaft verwurzelt sind und dass Kreativität aus einem gemeinsamen Wissen erwächst, das im Feld geteilt wird. Die Kreativitätsforschung sagt übrigens, dass sich nichts grundsätzlich Neues entwickelt, das es vorher noch nie gab, sondern wir bauen immer gegenseitig aufeinander auf. Diese ganz individuelle Unabhängigkeit von allem gibt es schlichtweg nicht.

War dein vorangegangenes Forschungsprojekt „TransCoding – von Intellektuellenkunst zu partizipativer Kultur“ eine Art Vorüberlegung, aus der ein ganzheitliches Verständnis von Werk, Werksentstehung, Aufführung und Rezeption erwuchs, Barbara?

Barbara Lüneburg: TransCoding hatte die Verbindung von Komponierenden, Performenden mit ihren Zusehenden und die gegenseitige kreative Einflussnahme zum Thema. Ich fragte mich, ob man über Social Media ein Publikum dafür gewinnen kann, sich mit Neuer Musik zu beschäftigen und dann gemeinsam ein Kunstwerk zu schaffen. Die Idee dazu kam mir in Zeiten von Musikvideo Gangname-Style. Als Performerin war es für mich kein Problem, das Publikum in den kreativen Prozess mit einzulassen, da ich per se die Vermittlungsposition von Komponierenden zum Publikum innehabe. Aber ich denke nicht, dass TransCoding wirklich mit GAPPP vergleichbar ist, die Partizipation hat hier ganz andere Grundlagen als da und war in TransCoding wirklich auf eine langfristige, kreative Zusammenarbeit mit einer Online-Community angelegt.

Vermutlich sind doch dabei auch Erkenntnisse zur Musikvermittlung geboren worden …

Barbara Lüneburg: In der Musikvermittlung sind wir alle keine Expertinnen bzw. Experten. Bei meinem Projekt stand das auch nicht im Vordergrund, aber es wurde am Ende tatsächlich interessant für diese Disziplin.

Andreas Pirchner: Auch bei GAPPP sind sicherlich Ergebnisse aufgekommen, die der Musikvermittlung als Quelle dienen können. Aber es war nie unsere primäre Fragestellung. Im Gegenteil, Marko wollte oft keine weiteren Instruktionen als Erklärungen an das Publikum ausgeben, damit ­– auch im Sinne unserer Versuchsanordnung – klarere Ergebnisse erzielt werden konnten.
Marko Ciciliani: Das Publikum sollte möglichst wenig darüber wissen, womit wir uns befassen, damit keine Spekulationen entstehen. Es ging ja nicht darum, das „Wahre“ herauszufinden. Wir untersuchten drei Perspektiven, Komposition, Performance und Zuschauererleben, mit der Annahme, dass jede Perspektive eine andere ist. Und so traten auch eher Widersprüche auf, als dass sich alle einig waren. Es ging darum, ein differenzierteres Bild zu erhalten und zu realisieren, wie die gleichen Phänomene auf unterschiedliche Weise erlebt und gelesen werden können.

Das Stichwort für Qualitative Forschung …

Marko Ciciliani: Ja, schon. Die Stücke, die deutliche Game-Referenzen enthalten, bieten natürlich Bekanntes aus der Popularkultur und ermöglichen so vielleicht einen Zugang, aber das war für uns nie ein Kriterium.

Barbara Lüneburg: Für mich persönlich war es ungeheuer interessant, einmal die Stimmen aus dem Publikum direkt zu hören – solche hemmungslosen Diskussionen bekommt man ja sonst nach einem Konzert eher nicht so präsentiert. Ganz spannend ist auch ein Doktoratsprojekt von Christof Ressi, das aus GAPPP erwachsen ist. Er hat als Komponist mehrfach in unserem Projekt mitgearbeitet und interessiert sich dafür, wie man Stücke so gestalten kann, dass offene Form in Kunstwerken, die ja in unseren Game-beeinflussten Werken in GAPPP immer auch gegeben war, sinnlich und intellektuell durch das Publikum wahrnehmbar wird.

Also noch eine Entwicklung aus dem GAPPP-Projekt heraus …

Andreas Pirchner: Es sind auch sehr viele Stücke, die dem Buch auf einem Stick beigelegt sind, die weitere, spannende Werke beeinflussen werden.

Barbara Lüneburg: Wir haben ein großes Netzwerk aufgebaut, auch in andere Disziplinen hinein. Marko, wie viele Stücke hast du in der Zeit geschrieben?

Marko Ciciliani: Stücke wohl sieben oder acht, wie viele Papers ich geschrieben habe, weiß ich nicht.

Barbara Lüneburg: Der Output war enorm und wir werden auch weiterhin gefragt, Papers zu schreiben, auf Konferenzen darüber zu erzählen oder auch neue Stücke aufzuführen. Das neue Séance-Stück von Marko …

Marko Ciciliani: … „RAVE-Séance“. Das zähle ich eigentlich noch zu GAPPP …

Barbara Lüneburg: … das wandert jetzt durch Europa. Ich denke, wir haben mit GAPPP Spuren hinterlassen.

Andreas Pirchner: Es ist ein Feld mit Verknüpfungen und Relationen entstanden, die es ohne Markos Idee nicht gegeben hätte.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Sylvia Wendrock

Termine:
Freitag, 8. Oktober 2021, 16:00 Uhr: Nomadic Crossings Between Art and Research. Marko Ciciliani und Svetlana Maraš. Moderation: Christopher A. Williams, musikprotokoll, Graz
Sonntag, 14. November 2021: „Rave Séance“ von Marko Ciciliani, Festival Música Viva,O’Culto de Ajuda, Lissabon
Freitag, 26. November 2021: „Rave Séance“ von Marko Ciciliani, Modern Body Laboratory, Den Haag
Samstag, 27. November 2021: „Rave Séance“ von Marko Ciciliani, Splendor, Amsterdam

Links:
Marko Ciciliani
Marko Ciciliani (The Green Box)
Barbara Lüneburg
Barbara Lüneburg (The Green Box)
Andreas Pirchner
Andreas Pirchner (The Green Box)
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Ludified