„Ästhetische und gedankliche Radikalität ist angesagt […]“ – KLAUS KARLBAUER und ROSIVITA im mica-Interview

Im Zentrum des neuen Albums „To live in the Borderlands“ von KARLBAUERPROJECTS (ROSIVITA & KLAUS KARLBAUER) steht das „Grenzereignis“, der vermeintliche geografische Übergang zwischen Heimat und Fremde, der transitorische Übergang vom einen zum anderen. Der Stacheldraht dient als ikonisches Gedankenbild einer Zeit, deren Bilder sich in das kollektive Bewusstsein eingefleischt haben, tief und triefend. Er schließt ebenso ein, wie er ausschließt. Das Album adressiert dabei Übergänge und Nicht-Orte, Bewegung und Stillstand, den eigenen Körper als letzte Grenze, die niemals zu überwinden sein wird. Die Präsentation findet am 11. November 2017 in der Wiener BRUNNENPASSAGE statt. Im Gespräch mit Ada Karlbauer erzählten KLAUS KARLBAUER und ROSIVITA über den Sound einer präparierten Anton-Karas-Zither, desolat und voller Spinnweben, über die Thematik der Grenze und deren groteske künstlerische Verzerrung sowie über das Eintauchen in die Rhythmen und Klänge von Worten.

Kürzlich erschien Ihr neues Album „To live in the Borderlands“. Im Zentrum der musikalischen Auseinandersetzung steht dabei die Frage nach dem Sound der Grenze, dem Sound des geografischen Überganges zwischen Heimat und Fremde als akustischer Leitmetapher der Gegenwart. Was sind Ihre Gedanken dazu? 

Klaus Karlbauer: Ich setze mich seit dem Jahr 2015 künstlerisch in zahlreichen Arbeiten sowohl visuell als auch in Texten und Performances mit dem „Grenzereignis“ auseinander. Die zentralen Fragestellungen lauten: Wie gehen wir mit Grenzen um? Wem nützen Grenzen? Wie klingen Grenzen und wie klingt das, was sie (be)schützen sollen, die „Heimat“? Wie klingt das Material, aus dem sie errichtet werden, der Stacheldraht? Was ist der „Sound of Gegenwart“?

Das Thema Grenzen wurde schon zugrunde geredet, geschrieben und visualisiert, ins Groteske verzerrt durch völlig missglückte Kunstaktionen. Ich erinnere an das blütenweiße Klavier, das Ai Weiwei in den Schlamm der mazedonischen Grenze transportieren ließ, damit eine syrische Pianistin ein unsagbar kitschiges Stück darauf spielt. Meine Idee ist dagegen ganz simpel, wie klingt das Material, aus dem schnell und kostengünstig Grenzen errichtet werden können? Und mich interessierte der Sound, der entsteht, wenn menschliche Haut die scharfen Spitzen des Stacheldrahts berührt und sich daran verletzt.

Auf dem Album werden bewusst nostalgische, gar verstaubte Heimatsounds mit ultralangsamen Elektronik-Sounds in Beziehung gesetzt. Es trifft sozusagen die künstlerische Metapher eines Grenz- oder Zwischen-Sounds auf jenen der „Heimat“, das Innere und das Äußere treten somit in Dialog.

Klaus Karlbauer:  Mein kompositorischer Ansatz war es, die Stücke so lange zu dehnen, bis es sie gerade noch nicht innerlich zerreißt. Dabei treten Brüche auf, die unerwartete akustische und reflektorische Räume eröffnen.

„Ich ließ mich vom musikalischen Material an der Hand nehmen und leiten.“

Der Klang einer präparierten E-Zither prägt den Sound des Albums grundlegend, wie kam es dazu?

Bild (c) ffilmetc.com

Klaus Karlbauer:  Am Anfang standen Fundstücke. Eine Zither, gefunden im Stallgebäude eines Bauernhofs, habe ich vor Jahren zu einer Elektro-Zither umgebaut. Jahre später, mehrere Zithern am Dachboden eines Hauses bei Wien, desolat, voller Spinnweben, ein Exemplar allerdings mit Originalunterschrift von Anton Karas. Ich beließ die Instrumente so, wie ich sie vorgefunden hatte, und machte mit verschiedenen Mikrofonen Testaufnahmen, die später zum Materialfundus für dieses Album wurden. Auf diesem Basis-Sound baut alles auf, was später dazu gespielt, gesungen und gesprochen wurde. Ich ließ mich vom musikalischen Material an der Hand nehmen und leiten.

„Das Interessante an den Texten ist die nahtlose Verschmelzung von politischer Analyse, Theorie und Poesie, einer Art von ‚Political Poetical Science’.“

Das Album basiert auf dem Text „Elsewhere, Within Here: Immigration, Flucht und das Grenzereignis“ von Trịnh Thị Minh Hà. Welche Rolle hat diese theoretische Grundlage für den gesamten Arbeitsprozess gespielt? 

Cover “To live in the Borderlands”

Klaus Karlbauer: Die Entwicklung des Projekts folgte einer anderen Chronologie, zuerst war der Sound, die sonische Erforschung der gefundenen, kaputten Zithern. Durch eine Kooperation mit AKG Acoustics im Rahmen unseres letzten Albums „Wonder Wheel“ hatte ich die Möglichkeit, mit vielen unterschiedlichen Mikrofonen aufzunehmen. Das dabei entstandene Material diente als Grundlage für „Music for Stacheldraht“, das nun den zentralen Track des Albums darstellt. Der Text kam erst später dazu. Unsere Freundin Anna Babka von der Universität Wien arbeitete zeitgleich an der Herausgabe eines Buches der Theoretikerin und Künstlerin Trịnh Thị Minh Hà, und zwar „Elsewhere, Within Here: Immigration, Flucht und das Grenzereignis“. Sie schickte mir Textausschnitte für mein Sound-Seminar am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien und ich erkannte sofort die Schnittmenge. Das Interessante an den Texten ist die nahtlose Verschmelzung von politischer Analyse, Theorie und Poesie, einer Art von „Political Poetical Science“. 

Rosivita: Der Text von Trịnh Thị Minh Hà war für mich die perfekte Basis für meine Textcollage. Ich konnte dabei tief in die Rhythmen und Klänge der Worte eintauchen. Das englische Original und auch die deutsche Übersetzung sind in einer sehr poetischen, durchlässigen, unbegrenzten Sprache abgefasst. Ein wunderschöner Text, der mich als Interpretin leitet, aber nicht einengt, an manchen Stellen zum Träumen veranlasst, gleichzeitig aber auch Gefahren aufzeigt und bewusst macht. 

„Das Performative ist kein Zusatz oder gar eine theatralische Inszenierung. Jegliche Performativität ergibt sich aus der Tätigkeit des Musikmachens, der Liveproduktion von Sound […]“

Das aktuelle Album lässt sich in gewisser Weise auch als Weiterentwicklung der letzten performativen Arbeit „Music for Stacheldraht“ begreifen.

Klaus Karlbauer:  Das Performative ist kein Zusatz oder gar eine theatralische Inszenierung. Jegliche Performativität ergibt sich aus der Tätigkeit des Musikmachens, der Liveproduktion von Sound, der Akt des Musikspielens steht im Zentrum. Musikalisch betrachtet ging es mir darum, die beiden textbasierten Stücke „Musik for Stacheldraht“ und „To live in the Borderlands“ in eine elektronisch-instrumentale Soundlandschaft einzubetten, die abgelegene, menschenleere Gegenden zeichnet.

Der finale Track des Albums „Music for Stacheldraht“ klingt fast wie ein Hörbuch, geleitet durch eine nicht menschliche Erzählerin. Wie sind Sie als Sängerin und Performerin mit diesem Textmaterial umgegangen, wie haben Sie Ihren Zugang gefunden?

Rosivita: Jeder Satz, jedes Wort erzeugen ein gewisses Gefühl. Meine Stimme wird Stimmung oder Un-Stimmung, der Mensch zieht sich dabei zurück. Was bleibt, ist purer Text. An manchen Stellen hörte ich die Schmerzen und das Leid einer ganzen Epoche, eine Brutalität hinter den Worten, die den Wahnsinn der Welt beschreibt, den ich wahrzunehmen glaubte. Die Musik von Klaus Karlbauer und der Text von Trịnh Thị Minh Hà zusammen waren wie ein wilder Ozean für mich, auf dem ich mit meiner Stimme dahingleiten konnte. Ein Abenteuer allemal.

Seit dem letzten Album „Wonder Wheel“ und dem „Fools Island Project“ sind ein paar Jahre vergangen, was hat sich in diesem Zeitraum verändert?

Klaus Karlbauer: Ich habe einfach immer weitergemacht – in guten und in schlechten Zeiten. Und man lernt dazu.

Bild (c) ffilmetc.com

Rosivita: Die Musik ist für eine gewisse Zeit in den Hintergrund gerückt. Nun meldet sich der Drang zurück, meine Stimme verstärkt und gestärkt ertönen zu lassen. Meist erfolgt unser gemeinsamer Arbeitsprozess an verschiedenen Orten. Bei „To live in the Borderlands“ bin ich erst viel später eingestiegen, die Musik war schon größtenteils fertig. Ich habe das Buch von Trịnh Thị Minh Hà gelesen und bestimmte Teile daraus zu einer Collage montiert. Meistens bekomme ich ein Musikstück als Playback und versuche, die vorgegebene musikalische Stimmung zu erfassen, meist suche ich dann in meinem Textarchiv nach passendem Material, das ich an die Musik anpasse. Oft entstehen dabei vereinzelte Gesangslinien, die ich einbaue und aufnehme, diese sende ich dann per Mail zurück ins Studio. So entsteht eine Art Pingpong-Spiel, welches am Ende in einer gemeinsamen Aufnahmesession mündet.

Am Samstag, dem 11. November 2017 findet die Albumpräsentation von „To live in the Borderlands“ in der Brunnenpassage statt, was kann man sich davon erwarten?

Klaus Karlbauer: Nicht das ganze Album, sondern ein 30-minütiges Livekonzert inklusive Performance-Elementen. Ein weiterer musikalischer Gast ist Alireza Daryanavard an der Santur, dem iranischen Hackbrett.

Wie klingt nun eigentlich die Gegenwart?

Klaus Karlbauer: Kurz geantwortet: beschissen. Lang geantwortet: Man muss dieser politischen und gesellschaftlichen Trivialisierung und Destruktion einen Gegenentwurf präsentieren. Die Möglichkeit, Agitprop zu betreiben, wurde uns Künstlerinnen und Künstlern von „The real Trump“ aus der Hand genommen, indem er die zentrale Strategie der Moderne, die Provokation, als Grundlage seines Handelns definierte und ins Maßlose überhöhte. Da können sich alle Künstlerinnen und Künstler warm anziehen, die glauben, durch Provokation politisch relevant zu sein oder zu werden. Die Schockstarre scheint bei vielen Kolleginnen und Kollegen zu einem Dauerzustand geworden zu sein. Ästhetische und gedankliche Radikalität ist angesagt, zu handeln anstatt zu reden oder zu tippen. Gute Zeiten stehen bevor.

Rosivita: Vom Gipfel eines Berges fällt ein Fels ins feuchte Gras – was hören Sie? Mein Ohr ist bereits in die Zukunft gerichtet.

Wie geht es dann weiter?

Rosivita: Unter anderem mit meinem persönlichen Herzensprojekt unter dem Titel „Dalida revisited“, dabei handelt es sich um einen Chansonzyklus mit eigenen Songs, aber auch andere geliebten Coverversionen.

Klaus Karlbauer: Touren mit der Livefassung von „Borderlands“, weitere Konzerte sind bereits fixiert. Dann die Vertonung meines Abschieds von Wien mit dem Titel „Last Waltz in Vienna“, der Untertitel lautet „Warum ich dann doch eine Oper komponiert habe“, erste Stücke sind bereits entstanden, eine Liveshow inklusive Orchester und ein Album sind ebenfalls in Arbeit. Wien, das sich als Opern-Weltmeister versteht, wird thematisch in den Mittelpunkt gestellt – mitsamt dem, worauf es am meisten stolz ist, der Oper und dem Walzer. Alles Walzer! Der Walzer ist hier nicht nur eine beliebte musikalische Form des Tanzes, sondern wird in seinem breit gefächertem Narrativ untersucht: „Der Kongress tanzt“, „Last Waltz“, „Last Tango in Paris“ bis zu Leonard Cohens „Take this Waltz“. Aus dieser Konstellation werden die Themen abgeleitet, analytisch, assoziativ, poetisch, provokativ. Themen, die uns in unseren Lebenswirklichkeiten berühren, wie die Angst vor dem Tod, dem und den Fremden, eine verdrossene Abwendung von der Politik, Wutbürgertum und die scheinbar unstillbare Sehnsucht nach Heimat, indem Vergangenes, Unwiederholbares zu Heil bringenden Mythen verklärt werden, aber auch die als Liebenswürdigkeit getarnte Bösartigkeit der Wienerinnen und Wiener, der schwarze Humor und manches mehr.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Ada Karlbauer

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