Keine Zeit, kein Geld, fehlendes Interesse – Tagung „Publikumsentwicklung in der Neuen Musik“, Teil 2

Was ist Neue Musik? Wie lautet die richtige Bezeichnung – Neue, zeitgenössische oder moderne Musik? Und wie wird Publikum für diese Kunstform generiert beziehungsweise wer ist und soll überhaupt das Publikum dieser Sparte sein? Zu allen diesen schwierigen Fragen sollten am Mittwoch, dem 26. September 2018, in der MUSIK UND KUNST PRIVATUNIVERSITÄT DER STADT WIEN (MUK) im besten Falle Antworten gefunden werden, zumindest aber Diskussionen zustande kommen, die zum Nachdenken anregen. ULLA PILZ leitete dabei durch die umfangreiche Tagung “Publikumsentwicklung in der Neuen Musik”, die von MICA – MUSIC AUSTRIA in Kooperation mit der MUK veranstaltet wurde.

Ein Stück ausschließlich für eine Schlagzeugerin bzw. einen Schlagzeuger ist nichts Besonderes, aber eins, bei dem diese bzw. dieser keine Instrumente bei sich hat, sondern ausschließlich ihren bzw. seinen Körper bespielt, das gibt es nur selten. Insbesondere wenn die Performance von Vinko Globokars „?Corporel“ so eindringlich und intensiv ausfällt, wie es Hannes Schöggl zur Einleitung des zweiten Teils der Tagung „Publikumsentwicklung in der Neuen Musik“ darbot. Solch eine Darstellung zieht die ZuschauerInnen in ihren Bann und erlaubt es ihnen nicht, den Blick abzuwenden. Eine Erfahrung, die auch für ein breites Publikum wünschenswert wäre. Auf das Erreichen von neuen Publikumsgruppen zielt „Audience Development“ ab. Eine ausführliche Studie der Europäischen Kommission, an der Cristina Da Milano, unter anderem Präsidentin des European Centre for Cultural Organisation and Management (ECCOM), mitarbeitete, hat dieses Feld nun genauer untersucht. Laut Da Milano geht es bei „Audience Development“ weniger um das Erreichen von Touristinnen und Touristen als vielmehr von Einheimischen. Umfragen würden aber deutlich zeigen, dass zahlreiche Leute nicht Teil von kulturellen Veranstaltungen sind. 37 Prozent haben laut Da Milano gesagt, sie hätten keine Zeit für Kultur, und 34 Prozent, die Kosten dafür seien zu hoch. Laut Da Milano sind diese Antworten jedoch nur Ausreden – der eigentliche Grund sei schlichtweg das fehlende Interesse, wie 31 Prozent bestätigen würden.

Für die Studie wurde zunächst eine Sekundärforschung durchgeführt, gefolgt von einer Analyse von Fallbeispielen und letztlich der Verbreitung und Kommunikation der Ergebnisse. Die allgemeine Definition von „Audience Development“ lautet gemäß der Studie wie folgt: „ein strategischer, dynamischer und interaktiver Prozess, um Kultur großflächig zugänglich zu machen“. „Audience Development“ verfolge das Ziel, einzelne Menschen und Gemeinschaften zu erreichen. Dabei sei es von größter Bedeutung, verschiedene Instrumente und Strategien einzusetzen, genügend Zeit einzuplanen und professionelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für das Gebiet zur Verfügung zu haben. „Audience Development“ könne betrieben werden, um das Publikum zu vergrößern, die Beziehung zum Publikum zu vertiefen oder das Publikum zu diversifizieren, was jedoch viel Zeit benötige. Auch wenn es kein einheitliches Patentrezept für ein erfolgreiches „Audience Development“ gebe, zählte Da Milano dennoch acht Punkte auf, die entscheidend für den Prozess seien: der Ort, das Programm, die Co-Creation, der Kapazitätenausbau, organisatorische Änderungen, die Datennutzung, das Digitale, Kooperationen und Netzwerke.

„Audience Development“ in Kulturorganisationen

Christina Da Milano (c) Susanne Reiterer
Christina Da Milano (c) Susanne Reiterer

Anschließend hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, verschiedene Workshops zu besuchen. In einem dreistündigen Workshop arbeitete Cristina Da Milano weiter in Richtung „Audience Development“, wobei sie zunächst die soziale Verantwortung von Kulturinstitutionen ansprach, die auch dadurch entstünde, dass viele Kulturbetriebe von öffentlichen Geldern finanziert würden. Barrieren ökonomischer und geografischer Art seien nicht die erheblichen Schwierigkeiten für das Publikum, sondern vielmehr Probleme kultureller Dimension, da die Angebote meist zu kompliziert oder zu weit entfernt vom Gewohnten seien. Die Teilnehmenden konnten im Rahmen des Workshops die Adressatinnen und Adressaten und die Mission der eigenen Organisation definieren und herausfinden, ob die BesucherInnen im Zentrum der eigenen Mission stehen und, sollte dies der Fall sein, ob die Publikumsgewinnung Erfolg hätte. Außerdem sollten die drei größten Publikumsgruppen der eigenen Organisation definiert werden, um zu hinterfragen, ob diese überhaupt erreicht werden sollten oder andere Gruppen von Interesse wären.

Adapt or die

Thomas Demidoff (c) Susanne Reiterer
Thomas Demidoff (c) Susanne Reiterer

Der dänische Musikwissenschaftler und -journalist Thomas Demidoff präsentierte in einem weiteren Workshop das Projekt „New Music: New Audiences“ (kurz: „NewAud“), in dem es um die Entwicklung neuer Konzertformate ging. Beim „NewAud“ handelte es sich um ein transeuropäisches Projekt mit dem Fokus auf Neuer Musik, an dem 18 verschiedene Länder und 32 Ensembles teilnahmen. Gefördert wurde das Projekt vom EU-Kulturfond , um Neue Musik für ein neues Publikum zu erschließen und in einem Netzwerk gemeinsam arbeiten zu können. Da insbesondere junge Menschen die alten Konzerttraditionen überholt fänden, sollten diese überdacht und durch neue, innovative Formate ersetzt werden. Sechs Kategorien von Konzertexperimenten wurden dabei definiert, und zwar Konzerte, die außerhalb des gewöhnlichen Konzertsaals stattfinden (beispielsweise an Flughäfen, in U-Bahn-Stationen, Diskos etc.); Onlinekonzerte (über Streaming oder digitale Schnittstellen); neue Konzertsituationen, die das Publikum einbeziehen; Konzerte mit sozialem Charakter (beispielsweise durch zusätzliches Essen, Trinken oder Diskussionen mit den Musizierenden); Konzerte für Kinder (da insbesondere drei- bis siebenjährige Kinder in der Lage sind, Neue Musik wertzuschätzen, und noch keine Vorurteile ihr gegenüber haben); Cross-over-Konzerte (beispielsweise Neue Musik in Kombination mit Video, Tanz, Skulpturen etc.). Die an dem Projekt teilnehmenden Ensembles konnten zu ausgewählten Kategorien Konzertformate entwickeln. Laut Demidoff ist die Quintessenz von „Audience Development“: adapt or die (anpassen oder sterben).

Neue Musik an österreichischen Schulen

Marie Therese Rudolph (c) Susanne Reiterer
Marie Therese Rudolph (c) Susanne Reiterer

Im dritten Workshop mit dem Titel „Was gibt’s an Neuer Musik an österreichischen Schulen“ skizzierte die Musik- und Tanzberaterin Marie-Therese Rudolph von KulturKontakt Austria die Situation von Lehrenden, Schülerinnen und Schülern, Kunstschaffenden und Kulturinstitutionen in Bezug auf Vermittlungsprojekte. Grundsätzlich nannte sie zwei Herangehensweisen an das weite und vielfältige Gebiet der Neuen Musik sowie ihre zahlreichen Mischformen: einerseits eine Herangehensweise mit rezeptiv-analytischem Schwerpunkt, die auf ein intensiviertes Hörerlebnis und Verständnis von Musik zielt, und andererseits eine Herangehensweise mit künstlerisch-kreativem Schwerpunkt, die über eine musikalisch-praktische Auseinandersetzung mit Musik einen Zugang eröffnet. Themenfelder und die darin verankerten Konzeptideen verknüpft mit Beispielen aus der Praxis bildeten den Hauptteil des interaktiven Workshops. Es wurde hin- und zugehört (Hörsensibilisierung, Hörlandkarten etc.), Musik handelnd erfahrbar gemacht (durch Improvisation, Theatermusik, Auseinandersetzung mit Autografen etc.) oder selbst komponiert (Klangmaschinen, Aleatorik, grafische Notation etc.).

Zahlen vs. Nuancen

Tugba Ucars „Light on the Path“ vereinte alle Teilnehmenden der Tagung im Anschluss an die Workshop-Phase mit einer vielschichtigen Symbiose aus Klavier- und Elektronikklängen und Tanz. Die acht in weiße Laboranzüge gekleideten Tänzerinnen bildeten dabei eine Klammer zum Beginn der Tagung mit dem vierköpfigen Tanzensemble in schwarzer Kleidung. In der abschließenden Fragerunde erhob Cristina Da Milano das Wort gegen den politischen Zwang, Erfolg stets mit Zahlen belegen zu müssen. Es sei gerade für die so bunte Neue Musik wünschenswert, nicht immer nur die schwarzen und roten Zahlen für Erfolg und Misserfolg zu betrachten, sondern die Nuancen, die sich in der Motivation und der Qualität dieses Genres verstecken.

"Zug ins Gelobte" (c) Susanne Reiterer
“Zug ins Gelobte” (c) Susanne Reiterer

Malina Meier

Links:
Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK)