Jazz in Österreich – Ausdruck einer großen musikalischen Vielfalt

Was die österreichische Jazzszene heutzutage auszeichnet und wofür sie inzwischen auch außerhalb der Grenzen geschätzt wird, ist die enorme musikalische Vielfalt, die sie abbildet. Egal ob in den eher noch traditionelleren Schienen, in den Groß- und Kleinbesetzungen, in den experimentellen und avantgardistischen Nischen, in den freien oder stileübergreifenden Bereichen, quasi auf allen Gebieten lässt sich ein sehr reges, innovatives und kreatives Treiben festmachen. Und das noch dazu auf einem künstlerischen und spieltechnischen Niveau, das jedem internationalen Vergleich standhält. (Zur PDF Version des Artikels)

Das VAO als Ausgangspunkt vieler Karrieren

Untrennbar mit der Geschichte des österreichischen Jazz verbunden ist der Name Vienna Art Orchestra (VAO). Die 1977 von Mathias Rüegg gegründete Big Band galt über drei Jahrzehnte – 2010 kam es zur Auflösung des Orchesters – als eines der Aushängeschilder der heimischen Szene. International überaus erfolgreich diente das Jazzorchester für nicht wenige MusikerInnen auch als Sprungbrett für ihre Karrieren. So musizierte unter anderem der Saxofonist Wolfgang Puschnig, der später mit seiner Veröffentlichung „Alpine Aspects“ eine weit über die Grenzen hinausreichende Bekanntheit erlangte, beim VAO. Ebenso ein langjähriger Wegbegleiter dieses Klangkörpers war der Saxofonist Harry Sokal, der sich vor allem Mitte der 80er-Jahre durch seine Mitgliedschaft im legendären Art Farmer Quintett und im schweizerisch-österreichischen Trio Depart international einen Namen machen konnte. Beide, sowohl Puschnig wie Sokal, prägen bis heute das Geschehen in der Szene.

Zwei Vertreter der darauffolgenden Generation, die ebenfalls im VAO ihre ersten Karriereschritte im Jazz tätigten, sind der Trompeter Thomas Gansch und der Kontrabassist Georg Breinschmid. Wie ihren Vorgängern ist es auch diesen beiden gelungen, sich als fixe Größen im österreichischen Jazz zu etablieren. Thomas Gansch sorgt mittlerweile als Mitglied der allerorts die Konzertsäle füllenden Blechbläsercombo Mnozil Brass international für Furore. Georg Breinschmid, der ursprünglich eigentlich aus der Klassik stammt und einst bei den Wiener Philharmonikern beschäftigt war, ist mit seinem Trio Brein’s Cafe höchst erfolgreich unterwegs.

Die Auflösung des Vienna Art Orchestra hinterließ klarerweise eine große Lücke, die aber doch relativ schnell gefüllt werden konnte. Dass der großformatige Jazzsound hierzulande in seinen vielen Facetten immer noch stattfindet, ist unter anderem der Jazz Big Band Graz unter der Leitung von Heinrich von Kalnein und Horst Michael Schaffer zu verdanken, die schon seit den frühen 2000er-Jahren aktiv ist und den klassischen Big-Band-Sound einer facettenreichen musikalischen Erweiterung unterzogen hat („Urban Folk Tales“). In dieselbe Kerbe, nur etwas mehr experimentell ausgerichtet, schlägt das von Daniel Riegler geleitete und aus dem Umfeld der Jazzwerkstatt Wien entsprungene Ensemble Studio Dan, das Kammerorchester und Big Band in sich vereint und bereits auf Zusammenarbeiten mit so namhaften internationalen Stars wie dem Gitarristen Elliott Sharp zurückblicken kann. Auch im Westen Österreichs tut sich diesbezüglich einiges, wie das von Martin Franz und Martin Eberle gegründete Jazzorchester Vorarlberg zeigt.

Das kreative Treiben abseits des
Vienna Art Orchestra

Es war aber nicht nur das VAO-Umfeld, das das musikalische Geschehen in der österreichischen Jazzszene bestimmte. Auch abseits des Orchesters tummelte sich eine Reihe von kreativen JazzkünstlerInnen, die es zu internationaler Geltung geschafft haben. Zu diesen zählt unter anderem der Gitarrist und Betreiber des Labels Material Records Wolfgang Muthspiel, der, zunächst in der New Yorker Szene aktiv, nach seiner Rückkehr nach Österreich eine Vielzahl sehr erfolgreicher Projekte (u. a. das Soloprojekt „Vienna Naked“, das Wolfgang Muthspiel Trio feat. Larry Grenadier sowie seine Zusammenarbeit mit Jeff Ballard) initiieren und vorantreiben konnte. Ein Musiker, der ebenfalls von Österreich aus seine Karriere so richtig in Angriff nehmen konnte, war Ulrich Drechsler. Der gebürtige Deutsche schaffte es u.a. mit seinem Cello Quartett die europäische Club- und Festivallandschaft durch den eigenständigen Klang dieses Ensembles zu überraschen.

Dafür, dass auch in Sachen Improvisation und Freejazz in Österreich immer schon viel passierte und es auch heute noch tut, lieferte Franz Hautzinger den Beweis. Der Trompeter aus dem Burgenland verstand es auf unverkennbare Weise – wie man es auch auf seiner legendären CD „Gomberg“ (2000) sehr schön hören kann –, den Jazz hin zu den avantgardistischen Richtungen zu öffnen. Zwei, die sich ebenfalls den Ruf von Botschaftern der österreichischen Szene erarbeiten konnten und daher auf jeden Fall Erwähnung finden sollten, sind der Hammond-Orgel-Virtuose Raphael Wressnig und der Pianist Roland Guggenbichler. Während der Erstgenannte sich mehr zum Blues, Funk und zur Roots-Music amerikanischer Prägung hingezogen fühlte, versuchte sich der andere mit seinem Ensemble Mozuluart an der Verwebung des Jazz mit der Musik Afrikas und der Klassik.

Die Bedeutung der Jazzwerkstatt Wien

Einen großen Anteil an der dynamischen Entwicklung der heimischen Jazzszene in der jüngeren Vergangenheit hat ohne Zweifel die 2004 von Clemens Wenger, Clemens Salesny, Wolfgang Schiftner, Daniel Riegler, Bernd Satzinger und Peter Rom gegründete Jazzwerkstatt Wien. Die sechs Musiker teilten die Meinung, dass in Wien für die junge heimische Jazzszene einfach zu wenig passiere und es notwendig sei, die eigenen Kräfte zu bündeln, um an dieser Situation irgendetwas ändern zu können. Gesagt, getan riefen sie gemeinsam den Verein Jazzwerkstatt Wien mit einem dazugehörenden gleichnamigen Label ins Leben. Was die Beteiligten damals im Sinn hatten, war die Schaffung einer Plattform, die als Anlaufstelle für die junge Szene dienen und ihr die Möglichkeit bieten sollte, sich zu präsentieren und zu vernetzen. Aus der einstigen kleinen Gruppe von sechs ist mittlerweile eine bedeutende musikalische Institution geworden, die aus dem Wiener Musikleben nicht mehr wegzudenken ist.

Die stilistische Vielfalt als Markenzeichen des österreichischen Jazz

Dass sich der Jazz nicht immer innerhalb der eigenen traditionell gefassten Grenzen abspielen muss, sondern sehr wohl auch im crossoverschen Sinne spannende neue Blüten treiben kann, zeigen vor allem VertreterInnen der jungen Generation in einer sehr aufregenden und musikalisch vielfältigen Form. Das von dem Gitarristen Matthias Löschers und dem Bassist Stephan Kondert gemeinsam mit dem New Yorker Schlagzeuger Daru Jones betriebene Trio Ruff Pack etwa schlägt Brücke hin zum Hip-Hop. Der Salzburger Pianist Philipp Nykrin kreuzt den Jazz in seinem Bandprojekt mit Elementen der elektronischen Musik. Die sich um den Grazer Saxophonisten und Klarinettisten Siegmar Brecher scharrende Combo Edi Nulz dagegen interpretiert ihn vollkommen scheuklappenbefreit auf eine unwiderstehlich rockige und punkige Art. Der junge Gitarrist Diknu Schneeberger dagegen lässt ihn in virtuoser Weise im Gipsy-Swing aufgehen. Mit der Kammermusik und mit weltmusikalischen Elementen wiederum verbindet ihn der Grazer Saxophonist und Klarinettist Patrick Dunst. Ein wahrer Experte im Mischen von Stilen ist auch das mehrfach ausgezeichnete Quartett Kompost3, das sich irgendwo zwischen Funk, Jazz, Rock und diversen Formen von elektronischer Musik seine ganz eigene Nische geschaffen hat.

Das musikalisch offene und scheuklappenbefreite Denken ist überhaupt zu einem bestimmenden Leitmotiv und zu einer Art Markenzeichen vieler Acts aus Österreich geworden. So auch beim schweizerisch-österreichischen Trio Rom/Schaerer/Eberle, das vermutlich alle Pfade beschreitet, nur nicht jene, die man als traditionell bezeichnen kann. Das 2013er-Erfolgsalbum „At The Age Of Six I Wanted To Become A Cook“ darf mit zum Spannendsten gezählt werden, was hierzulande in den letzten Jahren in Sachen Jazz entstanden ist.

Wie das Trio Rom/Schaerer/Eberle konnte sich auch der inzwischen nach Berlin übersiedelte David Helbock international etablieren. Den aus Vorarlberg stammenden Pianisten darf man, gemessen an der Vielzahl seiner Projekte, ohne Weiteres als einen der Aktivposten der österreichischen Szene bezeichnen. Wie vieler seiner Kolleginnen und Kollegen zeichnet auch ihn ein ungemein breites musikalisches Spektrum aus. Egal ob er nun als Solokünstler in Erscheinung tritt, im Duo mit dem Geiger Simon Frick, in seinem nach ihm benannten Trio oder mit der Formation Random/Control: Der Pianist versteht es auf unkonventionelle Art, seine eigene Note zu setzen und den Bogen vom Jazz über Ethno- und volkstümliche Musik bis hin zum Pop der Marke Prince zu spannen.

Weltweit ebenso einen Namen gemacht hat sich der Hang-Virtuose Manu Delago. Der gebürtige Tiroler ist nicht zuletzt als Perkussionist in der Band der isländischen Pop-Ikone Björk zu größerer Bekanntheit gelangt. Doch sein Schaffen allein auf die aufsehenerregende Zusammenarbeit zu reduzieren, ist natürlich viel zu kurz gegriffen. Vor allem das Ensemble Handmade sei an dieser Stelle als ein international sehr erfolgreiches hervorgehoben.

Wenn man schon bei der Erwähnung von Künstlern aus dem Westen Österreichs ist, darf dder Name eines Musikers auf keinen Fall fehlen: Christoph „Pepe“ Auer. Nicht nur, dass der ebenfalls aus Tirol stammende Saxophonist und Bassklarinettist musikalisch schon das eine oder andere eindrucksvolle Ausrufezeichen setzen konnte, nimmt er heute vor allem als Gründer und Betreiber des Labels Session Work Records den Status einer unverzichtbaren Persönlichkeit der gesamtösterreichischen Szene ein.

Tirol scheint sich in den letzten Jahren generell zu einer Art Hochburg des Jazz in Österreich entwickelt zu haben. Das jüngste Beispiel ist das junge aufstrebende Kammerjazz-Rock-Quartett HI5, das sich vor allem mit seinem aufsehenerregenden 2014er-Album „Attack – Decay – Sustain – Release“ überregional Gehör verschaffen konnte.

Die neuen Bandleaderinnen

Spricht man über die österreichische Jazzszene, so spricht man auch von einer Szene, in der in den letzten Jahren erfreulicherweise auch Musikerinnen als Bandleaderinnen das Zepter in die Hand genommen haben. Vom Jazz als alleinige Männerdomäne kann man in Österreich daher nicht mehr wirklich sprechen. Die junge Generation von Musikerinnen liefert auf eindrucksvollste Weise den Beweis, dass sie ihren männlichen Kollegen um wirklich nichts  nachstehen. Die gebürtige Salzburgerin Angela Tröndle etwa, die mit ihrem Bandprojekt Mosaik Mitte der 2000er-Jahre erstmals im großen Stil auf sich aufmerksam machen konnte, konnte als Sängerin, Pianistin und Songschreiberin mit ihren Projekten The Little Band from Gingerland und LUNA*LAB mittlerweile längst auch außerhalb ihrer Heimat sehr erfolgreich reüssieren. Ebenfalls aus Salzburg stammt Sabina Hank. Die Sängerin und Pianistin mit ihrem unverkennbaren Stil konnte sich in den letzten Jahren unter anderem als musikalische Partnerin von keinem Geringeren als Willi Resetarits einem größeren Kreis bekannt machen („Abendlieder“).

Unbestritten zu den vielseitigsten, umtriebigsten und kreativsten Musikerinnen des Landes zählt die niederösterreichische Saxophonistin Viola Falb (Falb Fiction, Phoen, Kitsch ‘n’ Glory), die einst im Umfeld der Jazzwerkstatt Wien tätig war und mittlerweile wegen ihres außergewöhnlichen musikalischen Schaffens vielfach ausgezeichnet wurde. Nicht weniger ideenreich und innovativ zu Werke gehen auch die Komponistin, Sängerin und Elektronikerin Susanna Ridler, die in ihrem Projekt [koe:r] den Bogen vom Jazz hin zur Computermusik schlägt, und die beiden für die tiefen Töne sorgenden Kontrabassistinnen Gina Schwarz und Judith Ferstl (chuffDRONE), die auf sehr spannende und vielfältige Weise zeigen, dass sie ihre eigene Rolle längst nicht mehr als die einer Sidewoman definieren und gewillt sind, ihre ganz eigenen musikalischen Akzente des Jazz zu setzen.

Den Jazz in Richtung Pop tragen unter anderem Künstlerinnen wie Marina Zettl. Die Grazer Sängerin, die es mit ihrem Kollegen Thomas Mauerhofer inzwischen auf drei hochgelobte Alben (zuletzt „Watch Me Burn“, 2013) gebracht hat, kann mittlerweile auf eine beachtliche Fanschar auch außerhalb Österreichs blicken. Einen ähnlichen musikalischen Ton schlagen die Liedermacherinnen und Komponistinnen Laura Winkler, die gerade mit ihrem zweiten Holler-My-Dear-Album hoffnungsvoll in den Startlöchern scharrt, und Stephie Hacker, deren Konzertreisen sie schon bis in die USA und nach Japan geführt haben, an.

Eine Künstlerin, die man vor allem in der Zukunft auf jeden Fall im Auge behalten sollte, ist Susana Sawoff. Vor einigen Jahren noch mit der Elektro-Pop-Punk-Combo Sawoff Shotgun unterwegs, beschreitet die Tochter eines Australiers und einer Spanierin nun als Liedermacherin einen deutlich jazzorientierteren Pfad.

Weg vom klassischen Jazz-Instrumentarium

Die musikalische Offenheit und der ausgeprägte Wille zum Experiment von VertreterInnen des österreichischen Jazz spiegeln sich auch deutlich in dem Umstand wider, dass viele MusikerInnen immer mehr auch vom klassischen Instrumentarium abgehen. Nicht mehr nur Piano, Bass, Schlagzeug, Trompete, Saxophon und dergleichen geben alleine den Ton an, auch Streichinstrumente oder solche für den alpinen Raum typische Instrumente finden vermehrt Verwendung. Der Klang des Akkordeons etwa wird unter anderem von Leuten wie dem international sehr erfolgreichen Klaus Paier, von Christian Bakanic (Trio Infernal) und Paul Schubert (Trio Akk:zent) auf innovative Weise mit jazzverwandten Spielarten eingewoben. Rein auf Instrumente der Klassik vertrauen das radio.string.quartet.vienna und auch das Duo BartolomeyBittman. Die Zither – vielleicht eines der typischsten alpinen Instrumente – wird von den über alle Genregrenzen hinweg agierenden Musikern Martin Mallaun und Christoph Dienz zum Einsatz gebracht.

Michael Ternai

 

Foto Wolfgang Puschnig: puschnig.com
Foto JBBG: Erich Reismann
Foto Franz Hautzinger: Clara Zalan
Foto Kompost 3: Astrid Knie
Foto David Helbock: Bettina Frenzel
Foto Angela Tröndle: Daniel Domig
Foto Marina Zettl: Veronika Bartussek
Foto Klaus Paier: Jörg Becker

Dieser Artikel ist als Broschüre im April 2015 erschienen, in einer deutschen und englischen Version.
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