„Ins Offene“ (Für Gerd Kühr) – col legno

Wer sich ins Offene bewegt, verlässt die Grenzen des Geschlossenen. Der Horizont dehnt sich. Der Blick geht in die Ferne. Es eröffnen sich: Weite, Distanz, das Gefühl einer unvollständigen Endlichkeit, als stünde man vor dem offenen Meer oder am Gipfel eines Dreitausenders. Dorthin, in diese Weite, wagte sich Gerd Kühr. Der Komponist und Dirigent aus Kärnten war langjähriger Professor der Musikhochschule in Graz. Unter ihm entwickelte das Institut für Komposition einen hervorragenden Ruf – über die Landesgrenzen, ins Offene hinaus. 2019 emeritierte Kühr. Zuletzt erschien via col legno eine CD als Hommage an seine Tätigkeit. Freund:innen und ehemalige Studierende des Komponisten schrieben Klavierstücke. Der Titel führt natürlich: „Ins Offene“.

Die CD setzt sich aus 16 Stücken zusammen. Das Klavierduo Chiemi Tanaka und Krzysztof Dziurbiel interpretierten acht Interludien, die Kühr 2014 komponiert hatte. Joanna Wozny, Robert Höldrich und Florian Geßler schrieben als Fortführung „für Gerd“. Mit Elisabeth Harnik, Beat Furrer und Christoph Renhart stimmten weitere Kolleg:innen in den Abschiedskanon ein. „Die Stücke stellen für mich das jeweils Individuelle dar, die Vielfalt, die je eigene musikalische Fantasie“, sagt Gerd Kühr zu mica. Sie spiegelten wider, was er am Grazer Institut über all die Jahre so geschätzt habe – das Hinterfragen manch selbstverständlich erscheinender Aspekte und das Verfolgen neuer Spuren.

Diese Arbeit habe mit dem Vervollständigen eines Mosaiks zu tun, sagt Kühr. Man wisse nie, ob es je vollständig werden kann. Die kompositorische Sisyphusarbeit zwischen den Konventionen der Tradition und dem Kontext der Innovation mag ein Wesenszug seiner Arbeit sein. Sie lasse sich aber auch auf seine Lehrtätigkeit erweitern. Schließlich schließt das Zusammendenken des Gewesenen im Jetzt eine ständige Suche nach dem Erst-zu-Findenden ein. Man beginnt von vorne, verlässt sich nicht auf das Vergangene, sondern findet Fragmente in ihren Bruchstücken und ordnet im Offenen.

„Gerade rhythmische Effekte, die komplexe Stimmführung und ihre effektive Struktur zeichnen seine Kompositionen aus“, sagt Chiemi Tanaka, die mit ihrem Klavierkollegen Krzysztof Dziurbiel „Ins Offene“ der CD führt. „Insbesondere am Anfang und Ende seiner Stücke verwendet er den Klavierdeckel als Teil der Komposition, um einen besonderen Klang zu erzeugen. All diese Elemente bringen nicht nur große Spannung, sondern auch den besonderen experimentellen Charakter in sein Werk“, so Tanaka. 

Cover "Ins Offene"

Der Geist des Rationalen durchziehe dieses Werk, sagt Christoph Renhart. Außerdem seien es feinfühlend empfundene und „ausgehörte“ Klänge, die ein Gespür für Fragilität bestätigen lassen. Renhart, selbst Komponist und Festivalkurator, hat für die CD seinen Klavierzyklus „Orakel der Nacht” eingespielt. Er schätze die kompositorische Logik Kührs, die einer Balance stehe mit dem Suchen nach und dem Finden von qualifizierten Zusammenhängen. Vieles, das in seiner Musik vorkomme, so Renhart, verkörpere Kühr auch als Person: „das Subtile und Fokussierte, das Ehrliche und Maßvolle, ein historisches Wissen und Bewusstsein.“

Allesamt Tugenden, die in vieler Hinsicht Nachahmung als etwas Erstrebenswertes darstellten, so Christoph Renhart. Er erinnert sich an ein Porträtkonzert des Universitätsarchivs, bei dem Gerd Kühr über seine Musik und Tätigkeit als Professor sprach. „Man spürte, wie wichtig ihm nicht nur der künstlerische Erfolg seiner Studierenden war, sondern auch, wie er sich menschlich um die jungen Künstler:innen sorgte. Manchmal, so meinte er, müsse er ihnen sogar das Komponieren verbieten, damit sie auch Ferien machten und sich ein wenig erholten. Sie sollten ihren Weg nicht nur entlang eines Fünfliniensystems gehen, sondern auch mit Weit- und Rundumblick.“

Wer sich durch das „Offene“ hört, sie wie Skizzen im Sinne eines Scheidenden liest, empfindet etwas von der Bedeutung Kührs an der Kunstuni in Graz nach. Dafür muss man mit seinem Werk, das international ausgezeichnet und aus den elfenbeintürmlerischen Grenzen der Universität brechen sollte, nicht vertraut sein. Die CD von col legno bietet Einstieg wie Ausblick. Sie ist eine Suche nach dem Erst-zu-Findenden. Und repräsentiert, wie viele von Gerd Kühr initiierte Projekte der letzten Jahrzehnte, das Schaffen im Offenen.

Christoph Benkeser

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