„INDISCHE MUSIK ZU ERLERNEN IST EIN PROZESS, AUF DEN MAN SICH EINLÄSST“ – RINA KILLMEYER IM MICA-INTERVIEW

RINA KILLMEYER ist die Mitbegründerin des Vereins RAGA, dessen Ziel die Verbreitung von indischer Musik in Österreich bzw. in Europa ist. Im Gespräch mit Jürgen Plank erzählt die Flötistin, wie sie mit klassischer indischer Musik in Kontakt gekommen ist und was sie daran fasziniert. Außerdem spricht RINA KILLMEYER von ihrer Zeit in Indien und den Ragas, den melodischen Regeln und Strukturen der Musikstücke, bei denen es stets auch einen sehr großen Freiraum für Improvisation gibt. Vor kurzem hat die umtriebige Musikerin als Teil des Duos Passion Flower den Impro-Parcours #3-Preis gewonnen.

Wie ist dein Interesse für indische Musik entstanden?

Rina Killmeyer: Durch das Reisen. Im Jahr 1997 war ich zum ersten Mal in Indien. Ich war damals für 6 Monate unterwegs, auch in Nepal. So bin ich mit der indischen Musik in Berührung gekommen. In Varanasi habe ich einen sehr netten Flöten-Verkäufer jeden Tag am Ganges getroffen. Er hat mich immer nett angelächelt und irgendwann musste ich einfach eine Flöte kaufen, so bin ich zur Bansuri gekommen. Und ich habe dort mein erstes Konzert mit indischer Musik gehört und erkannt, dass es viele Leute aus dem Westen gibt, die dort indische Musikinstrumente erlernen.

Wie ging es dann weiter?

Rina Killmeyer: Ich bin dann öfters nach Indien gereist, einmal sogar mit dem Auto. Es hat 5 Jahre gedauert, bis ich gesagt habe: jetzt fahre ich nur wegen der Musik nach Indien, ich möchte das Instrument und die Musik wirklich erlernen. Ende 2001 habe ich dann ernsthaft beschlossen Bansuri zu lernen und habe in Delhi bei Shri Harsh Wardhan zu studieren begonnen. Ich habe auch bei ihm zu Hause gewohnt. Das war dann der richtige Einstieg, weil es geheißen hat: wenn du nicht 6 bis 8 Stunden pro Tag übst, brauchst du gar nicht anzufangen. Ich habe dann immer wieder vom Großmeister Pt. Hariprasad Chaurasiagehört und bin dann im Jahr 2002 zu ihm gefahren, nach Mumbai. Und in den nächsten fast 10 Jahren habe ich den Großteil des Jahres dort verbracht und in Indien gelernt. Ich war immer nur ein paar Monate zum Geldverdienen in Österreich. Ich habe aber unter anderem auch beim Bansurimeister Pt. Nityanand Haldipur und beim Dhrupadmeister Ustad Fariduddin Dagar gelernt. (Anm.: Dhrupad wird ein Gesangsstil der klassischen indischen Musik genannt)

Vermutlich hört das Lernen in diesem Bereich ohnehin nicht auf, oder?

Rina Killmeyer: Genau, ich lerne immer noch. In Österreich habe ich vor fast 10 Jahren begonnen, bei Daniel Bradley Unterricht zu nehmen. Seine Lehrerin, Srimati Annapurna Devi, war auch die Lehrerin meines Meisters. Das Lernen hört nie auf, da hast du Recht, das ist eine Lebensaufgabe.

Inzwischen bist du selbst Lehrerin, wer sind deine Schüler:innen?

Rina Killmeyer: Zu mir kommen Leute, die in Indien die Flöte kennen gelernt haben oder indische Musik ein wenig gestreift haben. Oder Leute, die Yoga machen und denen die Musik sehr gut gefällt. Es kommen auch Profimusiker:innen, die ein wenig in diese Musiktradition eintauchen möchten. Das ist ganz verschieden.

„INDISCHE MUSIK HAT EINE ORALE TRADITION, MAN LERNT NUR ÜBERS HÖREN“

Wie ist der indische Weg zu unterrichten?

Rina Killmeyer: Man lernt nicht mittels Noten zu spielen, man schreibt nicht wie bei uns Noten auf. Indische Musik hat eine orale Tradition, man lernt nur übers Hören. Die Lehrer:in spielt vor, man spielt nach. Man singt auch sehr viel im Unterricht und macht viel Rhythmus-Arbeit und lernt sehr komplexe Rhythmus-Patterns und Kalkulationen. Das gehört alles zum Lernen dazu. Indische Musik zu Erlernen ist ein Prozess, auf den man sich einlässt. Das dauert natürlich und man braucht viel Geduld, auch mit sich selbst. Natürlich ist nicht jeder bereit, so viel Zeit aufzuwenden, eben sechs bis acht Stunden Übungszeit pro Tag. Ich will den Schüler:innen das mitgeben, was sie gerne mitnehmen möchten.

Bild Rina Killmeyer
Rina Killmeyer (c) Peter Griesser

In Indien gibt es ähnlich wie in Europa in der Musik eine Klassik.

Rina Killmeyer: Ja, das ist eine E-Musik. Es ist eine rhythmisch und melodisch sehr komplexe Musik, die aber mit der europäischen klassischen Musik nicht viel zu tun hat. Aber es gibt so viele unterschiedliche Musikrichtungen und Stile in Indien und die Musik, die ich studiert habe, ist eine ernste Richtung. Man spricht von karnatischer Musik in Südindien und von Hindustani-Musik in Nordindien. Beides fällt unter den Begriff indische klassische Musik.

Indische Klassik ist Kunstmusik

In Indien durchdringt Religion den Alltag, inwiefern ist die klassische Musik in Indien religiös konnotiert?

Rina Killmeyer: Ja, die Religion durchdringt den Alltag und spielt immer eine Rolle. Es kommt auch darauf an, wo die Musik gespielt wird. In Südindien ist der Text sehr wichtig und das sind schon religiöse Texte. Die nordindische Musik wird von Moslems genauso wie von Hindus gespielt, da bringt jeder seine eigene Religion ein. Für viele Musiker:innen ist das Musikmachen an sich ein spiritueller Weg, das gilt auch für das Lernen und das Spielen der Musik. Das muss nicht so sein, aber für viele indische Musiker:innen ist es so. Indische klassische Musik ist auf jeden Fall Kunstmusik, die von allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, Kultur, Religion oder Sprache praktiziert und genossen werden kann.

„DIE KÜNSTLER:INNEN VERÄNDERN SICH UND DIE RAGAS VERÄNDERN SICH“

Da es keine Notation gibt und es sich um eine orale Tradition handelt, gibt es vermutlich auch Platz für Improvisation, Neuinterpretation bzw. für die Weiterentwicklung der Stücke.

Rina Killmeyer: Ja, das ist richtig. Das Wichtigste sind die so genannten Ragas. Es ist schwer zu erklären, was das ist: Ein Raga bezieht sich auf eine melodische Struktur, auf einen melodischen Rahmen, in dem es Regeln gibt. Die Ragas bestehen aus einer spezifischen Abfolge von Tönen, die auf einer bestimmten Tonleiter basieren. Man kann aber nicht sagen, dass ein Raga eine Tonleiter ist, sondern das ist viel mehr. Oft wird Raga als Entität, als etwas Lebendiges bezeichnet: Jeder Raga hat seine eigene Persönlichkeit und Identität und verändert sich natürlich auch. Man hält sich an die Regeln, wenn man diese Melodien spielt. Man lernt diese Klangfarbe von jedem Raga und dessen Charakter kennen. Es ist auch wichtig, dass das Publikum den Raga erkennt, wenn man ihn spielt. Aber innerhalb eines Ragas gibt es ganz viel Raum für Improvisation. Vor rund 100 Jahren wurden die Ragas anders interpretiert, und wir wissen nicht, wie diese Musik davor geklungen hat. Natürlich sind die Ragas auch im Spiegel der Zeit zu sehen, sie entwickeln sich weiter. Es ist immer ein Austausch zwischen den Künstler:innen und dem Publikum und den Emotionen der Ragas. Die Künstler:innen verändern sich und die Ragas verändern sich.

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Du hast eben von Regeln bei den Ragas gesprochen, die einzuhalten sind. Welche Regeln gibt es da?

Rina Killmeyer: Jeder Raga hat sein eigenes Klangbild. Es kommt auch darauf an, ob das ein nordindischer oder ein südindischer Raga ist, da gibt es große Unterschiede. Gewisse Phrasen sind wichtig, in der indischen Musik sind es diese mikro-tonalen Verzierungen, die die Emotionen hervorbringen. Wie man an die Töne heran geht, wie die Verzierungen genau sind, welche Töne wichtig sind, bestimmte Kombinationen von Tönen: all das macht einen Raga aus.
Es gibt einen Teil im freien Metrum, bei dem die Melodie im Vordergrund steht, der Alap. Dann folgt ein rhythmischer Teil ohne Perkussion, der Jhor. Dann geht man über zu Kompositionen, die von Perkussionist:innen begleitet werden und in unterschiedlichen rhythmischen Zyklen gespielt werden. Da gibt es eine große Breite an Möglichkeiten. Man muss das Hören! Man lernt die Ragas durchs Üben kennen, aber auch durch das Hören. Man lernt die Struktur der Ragas und verinnerlicht sie. Dann versucht man das Gelernte auch wieder zu vergessen und die Ragas stets neu zu spielen und dabei in der Struktur zu bleiben.
Bei jedem Raga kommen gewisse Stimmungen, die so genannten „Rasas“, zum Ausdruck und in Nordindien werden Ragas zu bestimmten Tageszeiten gespielt. Daher veranstalten wir auch gerne Night Ragas.

Du organisierst mit dem Verein Raga, den du mitbegründet hast, Konzerte mit indischer Musik in Österreich, in Europa. Wie werden diese angenommen?

Rina Killmeyer: Bisher haben wir hauptsächlich in Österreich Konzerte organisiert. Auch in Bosnien und in Ungarn haben wir mal ein Projekt gehabt, mit der Kathaktänzerin Kaveri Sageder und in Kooperation mit der indischen Botschaft. Ich habe den Verein Raga gemeinsam mit Peter Wiesinger gegründet, er spielt auf der Mandoline südindische Musik. Wir agieren natürlich in einer Nische und versuchen, mittels Konzerten und Workshops das Interesse für diese Musik ständig zu erweitern. Aber es geht natürlich mit kleinen Schritten voran. Es ist schwer die Leute in die Konzertsäle zu bekommen. Wenn sie die Musik hören, sind sie meist begeistert. In anderen Ländern in Europa, etwa in Frankreich oder in Deutschland, ist indische Musik viel mehr verbreitet: dort gibt es mehr Leute, die diese Musik praktizieren. Und mehr Zuhörer:innen und Interesse.

Du hast bereits in Indien Konzerte gespielt, wie wirst du dort rezipiert? Wurdest du integriert in die Szene der lokalen Musiker:innen?

Rina Killmeyer: Ja, das war schon so. Ich bin meist als Solistin aufgetreten, in Begleitung von Tabla und Tanpura (Anm.: gezupfte Langhalslaute). Als ich dort gelebt habe, habe ich auch andere Projekte gemacht, in Richtung Theater. Und ich habe auch mit Tänzer:innen gearbeitet.

„WENN DIE MUSIK GUT IST, NIMMT SIE MICH IMMER MIT“

Wenn es um Rhythmus geht und Musik mit einer Querverbindung zu Religion gehört werden kann, dann ist es vielleicht auch möglich in Trance zu fallen. Kann das bei der Musik, die du spielst, passieren?

Rina Killmeyer: Mich hat ja an dieser Musik so fasziniert, dass die mich ganz woanders hinbringt. Man hat das Gefühl, dass man auf eine Reise mitgenommen wird. Diese Reise kann für jeden, der die Musik hört, anders sein. Je nachdem wie der emotionale Zustand der Hörer:innen gerade ist: kann man sich darauf einlassen? Für manche ist diese Musik ganz schräg. Sicher kann man da auch in Trance-Zustände fallen. Man kann auch sehr analytisch zuhören. Ich denke mir: wenn die Musik gut ist, nimmt sie mich immer mit. Egal, ob das indische oder europäische Musik ist. Für mich ist es das schönste Kompliment, wenn meine Zuhörer:innen sagen, dass sie sich auf eine Reise mitgenommen gefühlt haben.

Besonders die Filmindustrie hat Musik aus Indien in die ganze Welt getragen. Wie ist diese Bollywood-Filmmusik im Vergleich zur klassischen indischen Musik zu hören, die du spielst?

Rina Killmeyer: Es handelt sich dabei um Unterhaltungsmusik. Die Musik in den Filmen war früher auch klassische Musik, da wurde auch klassisch getanzt. Das hat sich sehr verändert und entwickelt sich ständig weiter und hat nicht mehr viel mit der klassischen Musik zu tun. Auch beim Tanz hat sich da ein eigener Bollywood-Stil entwickelt.

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Hast du jemals ein Crossover-Projekt gemacht und etwa europäische Musik mit Bansuri gespielt?

Rina Killmeyer: Bis 2015 habe ich nur indische Musik gemacht, das war mir wichtig, weil ich sehr tief eintauchen wollte. Deshalb hatte ich auch keine Zeit für andere Projekte. Dann habe ich aber Fritz Novotny kennen gelernt und ab damals habe ich mit der Formation reformARTunit freie Improvisation gespielt. Das hat mir großen Spaß gemacht. Ich habe auch begonnen, mit Storyteller:innen wie zum Beispiel Prof. Parvis Mamnun, Birgit Lehner und Mareike Tiede zu arbeiten, auch im Bereich Theater. Da bringe ich dann die indische Musik ein, aber die freie Improvisation mache ich noch immer weiter. Ich habe auch ein Duo-Projekt mit der Harfenistin Angela Stummer-Stempkowski, sie kommt aus einer ganz anderen Richtung. Wir nennen uns Passion Flower und haben gerade den Impro-Parcours gewonnen. Ich habe auch schon beim Vienna Improvisers Orchestra mitgespielt. Das war sehr spannend, weil man ganz im Moment ist, da man gar nicht weiß, was kommt. Beim freien Improvisieren bringe ich oft indische Klangfarben oder Verzierungen ein.
Ich bin in letzter Zeit öfters mit iranischen Musiker:innen aufgetreten, wir versuchen dann, die beiden Traditionen zu verbinden. Die nordindische klassische Musik wurde übrigens von der persischen Musik beeinflusst.

Am 14. Juni 2023 spielst du in der Krypta am Petersplatz. Was ist für diesen Abend geplant?

Rina Killmeyer: Es wird zwei Sets geben. Zuerst werde ich ein Bansuri-Konzert spielen, mit Ashis Paul an der Tabla und mit Laura Bradley, der Tochter von Daniel Bradley, an der Tanpura. Ashis Paul ist ein großartiger Tablaspieler aus Kalkutta, wir arbeiten schon seit vielen Jahren zusammen. Im zweiten Set ist Daniel Bradley an der Sitar zu hören, Laura Bradley spielt Tanpura und Ashis Paul wiederum Tabla.

Herzlichen Dank für das Interview.

Jürgen Plank

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Live:
Sa 03.6.2023: Villa Wertheimstein, Döblinger Hauptstraße 94, 1190 Wien, 19:30h
Mi 14.6.2023: Krypta Petersplatz, 1010 Wien, 19:30h

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Links:
Rina Killmeyer
Verein Raga