In die Weite wandern – Willi Dorner im Gespräch mit Wendelin Pressl über Hermann Markus Pressl

An die zwei Jahre lang hat der österreichische Choreografie WILLI DORNER an seinem Porträt HERMANN MARKUS PREßL gearbeitet, das im Rahmen von WIEN MODERN zur Uraufführung kommt, und im Sommer 2024 in Bad Aussee im Rahmen von SALZKAMMERGUT 2024 in veränderter Form im öffentlichen Raum erneut aufgeführt werden wird. Auf Einladung von WIEN MODERN führten PREßLS Sohn, der bildende Künstler WENDELIN PRESSL, und WILLI DORNER ein Gespräch über ihre je persönlichen Zugänge zu HERMANN MARKUS PREßL, den Auswahlprozess für das sehr persönliche musikalisch-choreografische Porträt und die Frage, warum der 1994 in Griechenland verstorbene steirische Ausnahmekünstler bis heute für viele noch ein „Geheimtipp“ der neuen Musik ist.*

Willi Dorner: Wir kennen einander schon sehr lange, denn deine Cousine ist seit 29 Jahren an meiner Seite, und so muss ich dich auch schon vor rund 30 Jahren kennengelernt haben – und Hermann Markus Preßl, „Onkel Hermann“ für meine Frau, war von Beginn an so etwas wie DAS Familienthema, obwohl ich ihn gerade nicht mehr kennenlernen durfte.

Wendelin Pressl: Er war eine markante Person, auch ein sehr lustiger und trauriger, wilder und sanfter, ein sehr expressiver Mensch. Jemand der die anderen gerne herausgefordert hat und damit dafür gesorgt hat, dass man über ihn redet. Er war einfach ein unverwechselbar eigener Typ, und dadurch hält er sich wahrscheinlich auch so lange in den Geschichten unserer Familie.

Willi Dorner: Wenn wir in Aussee sind – der Vater meiner Frau, Hermanns Schwager, hatte sich ganz in der Nähe ebenfalls ein Haus gekauft –, dann sind wir eigentlich sehr oft auch mit euch beisammen, und ab einem bestimmten Zeitpunkt geht es bei unseren Treffen dann immer auch um ihn.

Wendelin Pressl: Deine Frau, ihre Schwester, mein Bruder und ich sind ja irgendwie gemeinsam groß geworden; wir waren wie Geschwister, und auch unsere Väter haben sich sehr gut verstanden. Mein Bruder und ich sind in Bad Aussee aufgewachsen, kurze Zeit auch in Graz, dann wieder in Aussee; und in der Zeit, in der wir hier gelebt haben, ist mein Vater drei Tage die Woche nach Graz gependelt, um dort zu unterrichten. Den Rest der Woche war er aber hier, wo er geboren wurde und verwurzelt war und von wo er sein Leben lang ausbrechen wollte. Ich denke, dass für meinen Vater dieses „Ausbrechen“ ein großes Lebensthema war. Er kommt ja aus Altaussee, aus so genannten eher „bürgerlichen“ Verhältnissen und wurde mehr oder minder gezwungen, den Beruf des Maschinenbauers zu erlernen – er musste sich, so sehe ich das, wohl sehr bald aus all diesen engen Zirkeln davonmachen. Und so waren schon allein das selbst finanzierte Musikstudium, und später dann seine langen Aufenthalte in Afghanistan Teile einer intensiven Emanzipationsbewegung. Diese war aus heutiger Sicht eine Aneinanderreihung von Ausbrüchen, und ich denke, dass er sich in diesen andauernden Ausbruchbewegungen selbst sehr stark aufgerieben hat. Denn auch die Grazer Szene dieser Jahre, auch die universitäre, war ja nicht nur progressiv, sie war auch eine Enge, aus der er sich letztlich hinausbewegen musste.

Willi Dorner: Graz und der Steirische Herbst waren in den 1970er-Jahren aber auch total hipp, da wurde im Fernsehen zur Prime Time Wolfgang Bauer übertragen. Ich bin damals mit 13 Jahren allein vorm Fernseher sitzen geblieben, während meine Eltern wütend das Zimmer verlassen haben – daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Meine eigene Biografie als Künstler erinnert mich auch sehr stark an Hermann Markus Preßl und seine so wichtigen Emanzipationsschritte – und ich denke, das war auch mit ein Grund, mich ihm mit dieser großen Intensität zu nähern.

Wendelin Pressl: Emanzipatorisch würde ich auch meinen persönlichen Weg definieren, aber in eine andere Richtung: Mich zu befreien von einem Vater, der auch Künstler war, der in einer bestimmten Szene sehr bekannt war und von dem ich mich lösen musste. Ich erinnere mich aber daran, dass unsere Cousinen schon sehr früh begonnen haben, unseren Vater intensiv zu befragen. Über das Leben, aber auch künstlerisch, was ihn unglaublich gefreut und auch angeregt hat, während wir Buben damals seine Kunst – und seine Geschichten – schon besser, ja beinahe auswendig, kannten. In eben dieser für uns doch auch wichtigen Phase, in der wir nach eigenen Wegen gesucht haben, nicht so stark mit ihm auseinandersetzen konnten und wollten. Du hast, als du dann in die Familie gekommen bist, diese Geschichten auch wieder und wieder gehört. Mit diesem Projekt finden sie nun alle auf künstlerischer Ebene zusammen.

Willi Dorner: Und doch hat es auch bei mir diese lange Zeit gebraucht, um mich jetzt so intensiv mit Hermanns Kunst auseinanderzusetzen. Ein Auslöser war dabei das bevorstehende „Kulturhauptstadt-Europa-Jahr“ Salzkammergut 2024. Als klar war, dass genau hier in der Gegend, in der Hermann Markus Preßl gelebt und gearbeitet hat, ein europäisches Festival dieser Dimension stattfinden wird, das einen internationalen Blick, einen Blick von außen in diese enge Region bringen wird, habe ich mir gedacht: „Das ist der richtige Moment, mich genauer mit ihm zu befassen und ihm ein Projekt zu widmen.” Ein Projekt, das eben auch in der Region selbst gezeigt werden wird, einer Gegend, in der ihn alle als Mensch kennen – aber keiner weiß, was dieser „Spinner“ eigentlich künstlerisch gemacht hat.

Wendelin Pressl: Das stimmt. Als Mensch kennen ihn, ob noch persönlich oder durch all die Erzählungen, in der Region noch viele, aber dass sich jemand eine Platte von ihm im Wohnzimmer auflegt – das findet wohl eher selten statt. Seine Musik in Aussee zu vermitteln, überhaupt neue Musik hier bekannter zu machen, ist sicher nicht das Leichteste. Umso großartiger ist es, dass du dieses Projekt ins Leben gerufen hast.

„Und ich muss auch sagen, dass jede und jeder, die bzw. den ich dann angesprochen habe, sofort gemeint hat, das ist super, und sich die nötige Zeit genommen hat, mit mir zu reden. Man könnte das große Feedback eigentlich mit einem Wort zusammenfassen: endlich!“

Willi Dorner: Man muss dazu erzählen, dass ich das Projekt „Porträt Hermann Markus Preßl“ schon sehr früh für das Europäische Kulturjahr vorgeschlagen hatte, es dann aber hieß, es wäre nicht zu realisieren – und plötzlich kam ein Anruf, dass man es doch in das Programm aufnehmen will. Und dann musste aus den vielen persönlichen Gesprächen und tradierten Episoden und Anekdoten doch ziemlich überraschend ein Projektkonzept entwickelt werden, an dem du einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet hast. Denn jetzt gehen die Fragen doch sehr viel tiefer in die künstlerische Biografie dieses Künstlers. Ich habe im Frühjahr 2022 begonnen, damals noch mit Blick nur auf Aussee, und dann war für mich relativ schnell klar, dass ich das Projekt auch in Wien zeigen will, und als ich mit Bernhard Günther dazu ins Gespräch gekommen bin, habe ich eigentlich offene Türen eingerannt. Und ich muss auch sagen, dass jede und jeder, die bzw. den ich dann angesprochen habe, sofort gemeint hat, das ist super, und sich die nötige Zeit genommen hat, mit mir zu reden. Man könnte das große Feedback eigentlich mit einem Wort zusammenfassen: endlich! Befragt habe ich in den letzten Monaten dann viele Zeitgenoss:innen, private wie vor allem künstlerische, etwa auch seine ehemaligen Schüler:innen.

Wendelin Pressl: Es gibt, muss man dazu ergänzend erzählen, nicht so wie bei anderen Künstler:innen ein Buch oder anderes, bereits zusammengestelltes und, etwa digital, aufbereitetes und publiziertes Material. Das, was an Unterlagen da ist, liegt vor allem bei uns im Privatarchiv und wurde im Zuge deines Projekts gesichtet. Du hast dich im Zuge der Recherchen also von Station zu Station weiterbewegt, für dich immer wieder neue Namen entdeckt, diese Personen dann kontaktiert und interviewt, ein sehr spannender Prozess, wie ich finde. Ein wunderbares Beispiel dafür ist Gerhard Zeller, den du so kennengelernt hast.

Willi Dorner: Oh ja, wann immer ich Gerhard Zeller anrufe, schaue ich vorher auf die Uhr, wie lange ich Zeit habe, und wenn ich eineinhalb Stunden Zeit habe, dann rufe ich ihn an, denn so lange muss mindestens Zeit sein, wenn wir ins Gespräch kommen.

„Aus ihren diversen gemeinsamen Provokationen, die sie im universitären Rahmen sehr bewusst forciert haben, sind dann auch Projekte wie das Liegenlied entstanden, das Teil des Projektes bei Wien Modern bzw. dann im Salzkammergut sein wird.“

Wendelin Pressl: Er ist eben ein „eigener Kopf“, so wie mein Vater es auch war, aber er ist DER Zeitgenosse, wenn es darum geht, über den Künstler Hermann Markus Preßl so viel wie möglich zu erfahren. Die beiden waren sehr eng befreundet, und Gerhard hat sicherlich bei meinem Vater sehr viele Projekte initiiert und durch seine Impulse ausgelöst; es war eine sehr fruchtbare Freundschaft, die vor allem in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre besonders intensiv wurde, als die beiden Familien gemeinsam im selben Zinshaus in Graz lebten. Zwei Dinge, an die ich mich besonders erinnere, sind ihre ständigen Diskussionen über das „Heilige Nichts“, und dass ihre Arbeit an der Grazer Hochschule ein immer wiederkehrendes Thema ihrer Gespräche war. Aus ihren diversen gemeinsamen Provokationen, die sie im universitären Rahmen sehr bewusst forciert haben, sind dann auch Projekte wie das Liegenlied entstanden, das Teil des Projektes bei Wien Modern bzw. dann im Salzkammergut sein wird. Darin trat Gerhard Zeller ja als priesterähnliche Gestalt auf, während die Sängerin mit ihren leuchtend roten Haaren in ihrer Darstellung deutlich an eine Hure erinnern sollte.

Willi Dorner: Sowohl diese roten Haare wie auch die Gesten, die die Sängerin im Laufe der Komposition ausführt, sind von Hermann Markus Preßl in der Partitur vorgegeben. So schreibt er darin etwa, dass die Komposition sehr ruhig beginnt – bis es dann zur „äußersten Expressivität“ kommt, „um nicht zu sagen Geilheit“… Es geht also um die Transformation der Sängerin, die im Laufe des Stücks zu einer lasziven, geilen Hure wird, deren Aktionen mit einem Orgasmus auf dem Klavier enden.

Wendelin Pressl: Der Priester und die Hure, das war, zumindest damals, ein überaus provokantes Thema – zudem kam dann noch, dass die Uraufführung des Werkes in der Katholischen Hochschulgemeinde in der Lechgasse in Graz stattfand, die zwar selbst progressiv war, aber dann doch nicht so sehr wie mein Vater und Gerhard – und ich erinnere mich, dass sie es sehr genossen haben. Gerhard hat zum Beispiel sehr viel Aufwand betrieben, sein Kostüm so optimal wie möglich zu gestalten mit dem Zweck, als möglichst unsympathischer Priester aufzutreten -mit nach hinten gegelten Haaren und großem Klunker-Ring am kleinen Finger. Seine Frau Annemarie Zeller, die Sopranistin der Uraufführung, lag währenddessen als rothaarige Hure auf dem Klavier, mit langen, über das Klavier fallenden Haaren und einem roten Kleid … Hermann Markus Preßlhat in die Partitur zu allen Teilen je eine kleine Handlungsanweisungen verfasst, die im Original handgeschrieben zwischen den Noten steht.

Willi Dorner: Zum Beispiel, dass das Klavier im Raum stehen soll und „Zuhörer unerwünscht“ wären, während sich „Betende rundherum beliebig lagern“ sollten.

Wendelin Pressl: …typisch preßl’sche Handlungsanweisungen!

Willi Dorner: Als Lehrender zum Beispiel war er eher zurückhaltend, hat zugehört, auch zugelassen – aber wenn man ihm dann ein Werk abgegeben hat, war er sehr genau. So wurde mir zumindest beschrieben, wie er als Lehrender gewesen sein soll.

Willi Dorner: Ich denke schon, dass er bei all seinem subversiven Humor, den er zum Beispiel in den Projekten mit Gerhard Zeller ausleben konnte, als Professor fachlich streng war.

„Ich denke, dass er innerhalb der damaligen universitären Strukturen eine ganz besondere und wichtige Ausnahmefunktion innehatte. Um den ehemaligen Studenten Thomas Schreiner sinngemäß zu zitieren, versuchte Hermann Markus Preßl stets zu erklären, dass es, anstatt mit oder gegen den Strom, besser wäre, an dessen Ufer zu schwimmen. Und in die Weite zu wandern.“

Willi Dorner: Aber im Unterricht offen, freundschaftlich, zugewendet – er hatte ja auch das „Offene Haus“ bei sich zuhause.

Wendelin Pressl: Ja, das stimmt schon. Und ich erinnere mich, dass immer wieder viele Studierende bei uns waren, und dass die Diskussionen anregend und wertschätzend waren, ja, dass er als Lehrender doch sehr beliebt war. Ich denke, dass er innerhalb der damaligen universitären Strukturen eine ganz besondere und wichtige Ausnahmefunktion innehatte. Um den ehemaligen Studenten Thomas Schreiner sinngemäß zu zitieren, versuchte Hermann Markus Preßl stets zu erklären, dass es, anstatt mit oder gegen den Strom, besser wäre, an dessen Ufer zu schwimmen. Und in die Weite zu wandern. Mir gefällt dieses Bild. Und apropos Weite, der Komponist Klaus Lang empfand das Betreten des preßl’schen Unterrichtsraums überhaupt als erscheinen in einem neuen Universum. Für mich persönlich war das als Kind sehr prägend, bei allen Widersprüchen. Denn zugleich lehrte mein Vater unter anderem an der Kirchenmusik, schrieb auch zwei große Messen, und er und schickte mich in ein kirchliches Internat. Auf der anderen Seite lebte er diesen harten, radikalen Konflikt mit all diesen Strukturen aus. Ich erinnere mich, dass er zu mir sagte, als er mich an diese Schule schickte: „Wendel, du gehst jetzt zu den Katholen, damit du nachher weißt, wie schlimm die sind.“ Und: „Nachher bist du von denen geheilt.“ Es hat funktioniert – aber lustig war es nicht. Letztlich war auch dieses „Heilige Nichts“, das er so leidenschaftlich gesucht und vertreten hat, seine Antwort auf seine eigene Religiosität – oder Nicht-Religiosität.

Willi Dorner: Ich verstehe das auch so, oder habe es an einer Stelle gelesen, dass dieses „Heilige Nichts“ wegführen sollte von dieser starken Ich-Bezogenheit, hinein in eine Gemeinschaft. Und ich erinnere mich an Geschichten über seine Reisen nach Afghanistan, wo er oft tagelang auf dörflichen Gemeinschaftsfesten war, bei denen musiziert wurde, wobei jedes der Dörfer seine eigene Musik gespielt hat, die wiederum von den anderen Dörfern aufgegriffen und nachgespielt wurde – und wie sich so über Musik Grenzen aufgelöst haben und Gemeinschaften verbunden haben. Ich stelle mir das fast wie eine Ekstase vor, ein Trancezustanden, ein Sich-Verlieren im Gegensatz zur Ich-Bezogenheit unserer Gesellschaft. Dieses „wir sitzen gemeinsam, musizieren gemeinsam und tun“, das fand ich sehr schön.

Wendelin Pressl: Es gibt in vielen seiner Kompositionen Handlungsanweisungen, in denen man dann auch so etwas nachlesen kann, wie „im Idealfall lösen sich die Sänger auf und beginnen zu schweben“ oder “im Idealfall verliert das Publikum das Zeitgefühl und löst sich im Heiligen Nichts auf“. Mir gefällt dieses „im Idealfall“ sehr – und dann dieser Wunsch, dass sich dieser Prozess in einem Nichts auflöst, in einem Zustand, der Trance sein kann, Meditation, was auch immer – das Ende solcher Stücke stelle ich mir immer wie ein endloses Fade-out vor…

Willi Dorner: Ich habe gerade dazu auch mit dem Leiter des Vocalforum Graz, Franz Herzog, gesprochen, weil es ja wirklich bei kaum einem Stück einen klassischen Schluss gibt, zum Beispiel verlässt bei Asralda der Chor langsam den Saal. Die Sänger:innen sind verschwunden, aber man hört weiterhin den Gesang langsam ausklingen, so, als würde er nie verklingen. Diese Frage, wie man aufhört, wenn man nicht aufhören soll, stand und steht immer im Zentrum der Auseinandersetzung mit Werken der gleichnamigen Werkgruppe von Hermann Markus Preßl.

Wendelin Pressl: Ich erinnere mich an Konzerte, in denen der Chor verteilt im Raum stand und dann am Ende den Saal einfach singend verlassen hat, während das Publikum noch hoch konzentriert dasaß, man die Spannung förmlich knistern gehört hat – und dann waren sie weg, es war still, und keine:r hat geklatscht, bis endlich jemand begonnen hat – und, ah, das war die Erlösung… ganz wunderbar. An diesen Schlüssen haben sie schon sehr lange getüftelt, damit sie einen so mitnehmen, wie sie es tun.

Willi Dorner: Typisch für mich ist auch das Stück Ronde 1 für Altblockflöte. In diesem Fall sitzt die Instrumentalistin in der Mitte auf einem Drehstuhl und muss sich drehen, um der Partitur zu folgen. Die Notenblätter sollen dabei, lautet die Anweisung Preßls, so um die Musikerin platziert werden, dass man sie gar nicht sieht. Und irgendwann steht sie auf und schreit Zeilen aus einem Gedicht. Die Musik, in diesem Falle die um die Musikerin platzierten Notenblätter, löscht die Person quasi aus.

Wendelin Pressl: Das ist schon sehr performativ. Der Stuhl, den man sich ein bisschen wie einen drehbaren Barhocker vorstellen kann, ist in diesem Fall per Pedal mit einer Ratsche versehen, und wenn er sich dreht, wird auch die Ratsche zum Klingen gebracht, während die Musikerin zudem auch noch eine Sirene bedienen muss. Und dann hat sie, glaube ich, noch ein oder zwei Flöten, die sie auch spielt – sie hat also wirklich sehr viel zu tun. Stücke wie dieses wurden auch oft mit oder eben für ganz bestimmte Musiker:innen entwickelt, in diesem Fall war das Rosemarie Grün. Und mein Vater war sicher bei den Proben auch immer dabei.

Willi Dorner: Ich kann mir gut vorstellen, dass die Musiker:innen bei diesen Stücken auch viele Fragen an deinen Vater hatten.

Wendelin Pressl: Sie haben auch sicher viel ausprobiert, beide Seiten, wie weit man instrumental, aber auch körperlich gehen kann. Ich glaube schon, dass sie sich viel gemeinsam mit den Werken auseinandergesetzt haben.

Willi Dorner: Es gibt aber auch sehr viele Spielräume bei diesen Kompositionen.

Wendelin Pressl: Auf jeden Fall! Und gerade seine Art der grafischen Notation, auch wenn es das nicht nur bei meinem Vater gab, bietet sehr viele Freiräume in der Auseinandersetzung. Er liefert an manchen Stellen als bestimmende Konstante nur so etwas wie den eigenen „Herzschlag“ der Interpret:innen und lässt alles andere frei. Dann gibt es wieder strengere Passagen mit strikten Vorgaben. Die grafischen Notationen sind auch auf der bildnerischen Ebene sehr schön…

Willi Dorner: Eine ebenfalls sehr eindrückliche Partitur hat mir Franz Herzog für einen Chor von, ich glaube, 98 Sänger:innen und Musiker:innen gezeigt. Sie zeigt die Aufstellung der Musiker:innen in Form einer großen Spirale; das Bild vermittelt mir eine Drehbewegung, und die Wege des Dirigenten bzw. der Dirigentin durch die spiralförmige Aufstellung der Musiker:innen füllen eine eigene Seite an Anweisungen. Dieses Werk istschon allein aufgrund seiner Dimension bis heute noch nicht aufgeführt worden.

Wendelin Pressl: Wobei man sagen muss, dass viele Werke zu Lebzeiten in unterschiedlichen Besetzungen aufgeführt werden konnten, und gerade diese so vielfältigen Besetzungen hatten wieder mit den künstlerischen Freundschaften meines Vaters zu tun.

Willi Dorner: Diese Vielfalt versuchen wir im Rahmen des Projekts bei Wien Modern darzustellen. Der Abend läuft insgesamt über drei Stunden, wobei das Stück N.N./1 als „Zeitklammer“ bezeichnet werden könnte, die die Dauer des ganzen Abends umfasst. Man hört dieses Stück die ganze Zeit und kann auch dabeibleiben, man versäumt dann aber die beiden anderen Stränge, die der Abend verfolgt, wobei im Zentrum der einen das schon erwähnte Liegenlied steht. Weiters gibt es das Duo für Klavier und Geige Plexus, die Chorstücke, die an verschiedenen Orten stattfinden, und drei Geigensoli, die ihrerseits in unterschiedlichen Räumen des Volkskundemuseums gespielt werden. Bei der Zusammenstellung des Programms war mir wichtig, jenes „szenische“ Moment im Schaffen Preßls herauszuarbeiten, aber auch Werke auszuwählen, in denen Objekte im Mittelpunkt stehen; bei N.N./1 ist das zum Beispiel die Unendlichkeitswalze, und auch bei O du mei Gspån aus der Gruppe Ronde ist es ein eigenes Objekt, auf dem die Noten gedreht werden; im Falle von Ronde 1 ist es wiederum der sich drehende Stuhl; bei Asralda schließlich der Chor, dessen Bewegungen im Raum ich inszenieren werde.

Wendelin Pressl: Ich finde das ganz spannend, auch, weil du hier erst an die Materialrecherche gehen musstest. Es gibt Unterlagen an der Bibliothek der Kunstuniversitätin Graz, die dort dank der Bemühungen meiner Mutter auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich sind. In diesem Falle gibt es zumindest einen Onlinekatalog, den man einsehen kann. In anderen Fällen liegen die Unterlagen in privaten Händen.

Willi Dorner: Es gibt zum Beispiel Partituren, die nur bei Gerhard Zeller, Rosemarie Grün oder Franz Herzog liegen. Und es gab bislang noch niemanden, der sich dieser Auswahl verstreuter Originale gewidmet und sie zumindest ein erstes Mal zusammenführend erfasst hätte.

Wendelin Pressl: Und von einer Digitalisierung sind wir derzeit noch lang entfernt.

Willi Dorner: Im Falle von Ronde 1 ist die Partitur ja vier Meter lang, und ich bin da mit dem Archivar zusammengesessen, und wir haben überlegt, wie man so ein Original überhaupt digitalisieren kann. Wir haben in vielen Fällen bei der Vorbereitung lang herumdiskutiert, wie wir das Material verwendbar machen können, denn es sind eben nicht einfach nur Noten, sondern Dokumente unterschiedlichster Dimensionen und Formate.

Wendelin Pressl: Ich kann mir vorstellen, dass das für dich, da du kein Musiker bist, sondern Choreograf, noch einmal auf andereWeise herausfordernd war, dich mit diesem Material auseinanderzusetzen und diese Teile zusammenzutragen.

„Seine Auseinandersetzung mit Hauer weckte in Preßl wiederum das Interesse, Ordnungen zu kreieren, und seine Kompositionen spiegeln diesen Wunsch ganz deutlich wider, sie sind eigentlich „Anordnungen von Tönen“, die er verschieden generiert.“

Willi Dorner: Ich versuche bei der Arbeit auch sehr viel nachzulesen, um zu verstehen, was für Musik Hermann Markus Preßl macht. In einem Interview sagte er, er mache serielle Musik und beziehe sich mehr auf Hauer als auf Schönberg. Ich habe dann bei meinem Besuch bei Gerhard Zeller nachgefragt, und auch er bestätigte mir, dass Preßl Hauer interessanter fand und sich mehr mit ihm beschäftigte als mit den Kreisen rund um Schönberg im Wien der Jahrhundertwende, die eine bis heute wesentlich größere öffentliche Wahrnehmung erfuhren als eben ein Hauer. Seine Auseinandersetzung mit Hauer weckte in Preßl wiederum das Interesse, Ordnungen zu kreieren, und seine Kompositionen spiegeln diesen Wunsch ganz deutlich wider, sie sind eigentlich „Anordnungen von Tönen“, die er verschieden generiert. Hier habe ich mich selbst in meiner Arbeit sehr gut wiedergefunden, denn auch ich habe ein großes Interesse an „Ordnung“ in meinen Projekten und lehne mich auch stark an die Ausführungen von George Père in dessen Denken/Ordnen an, in dem er sich damit auseinandersetzt, wie wir Dinge oder Gedanken sammeln und dann anordnen, und hinweist, dass wir sie verschieden anordnen können. Nur ein einfaches Beispiel: Ein Regal voller Bücher kann völlig verschieden angeordnet werden, unter völlig verschiedenen Gesichtspunkten. Mich hat es sehr angesprochen, wie Preßl über diese Ordnung spricht, während auf der anderen Seite sein Hauptthema das „Heilige Nichts“ ist, also eigentlich die Auflösung und Verabschiedung jeglicher Ordnung. Und wie er das auflöst, nämlich aleatorisch, also „zufällig“, in Form von Wiederholungen, die sich dabei nie in sich wiederholen, das ist für mich in dieser Gegensätzlichkeit, auch im Denken, unglaublich anziehend.

Wendelin Pressl: Ich finde die Auswahl, die du letztendlich getroffen hast, ist eine feine Mischung, und ich bin schon gespannt.

Willi Dorner: Was mich sehr gefreut hat, ist, dass die Auswahl, die entstanden ist, einen großen Teil der sieben Werkgruppen widerspiegelt, in die Preßl selbst seine Arbeiten eingeteilt hat

Wendelin Pressl: Es hört sich nach einer sehr guten Mischung an, und ich finde es auch schön, dass weniger bekannte, aber eben auch so vielgespielte Werke wie Asralda, das sicher zu seinen bekanntesten zählt, in den schönen Räumen des Palais Schönborn zu erleben sein werden. Dass dein Abend danach auch nach aus Bad Aussee kommen wird, das freut mich aber ganz besonders, um noch einmal an den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen und dieses beständige Bemühen meines Vaters, aus der heimatlichen Enge „auszubrechen“. Ich erinnere mich jetzt noch an eine andere Anekdote aus seiner Jugend, die er immer gerne erzählt hat: Mein Vater hat damals die Jagdprüfung gemacht -mein Vater! Und als man ihn bei der Prüfung gefragt hat, warum er den Jagdschein haben will, hat er geantwortet, dass er in Zukunft, wenn er im Ort einkaufen geht, die Einkaufssackerl auf sein Gewehr hängen will, und das darf er nur, wenn er den Jagdschein hat. Das war ein Affront – und er hat den Jagdschein dann auch nicht bekommen, aber das war mein Vater: zugleich „feine Klinge“ und doch hart an seiner damaligen gesellschaftlichen Lebensrealität – und all das führte dazu, dass er für die einen eine faszinierende Künstlerpersönlichkeit ist und für die anderen ein Spinner.

Willi Dorner: Ich hoffe sehr, dass wir mit diesem Projekt auch etwas dazu beitragen können, die Bekanntheit von Hermann Markus Preßl erneut zu steigern und auch das Bild dieses faszinierenden Künstlers zu vervollständigen und vom Klischee des „Spinners“ zu befreien. Letztendlich geht es darum, diesen nicht wirklich bekannten Hermann Markus Preßl durch die Vermittlung seiner künstlerischen Arbeiten besser kennenzulernen.

Wendelin Pressl: Das Wiederentdecken seiner Welt, mit der wir im Rahmen dieses Projekts zurzeit so intensiv beschäftigt sind, ist unglaublich bereichernd, und ich bin dankbar dafür.

* Moderation und Textfassung: Angela Heide; das Gespräch wurde erstmals im Katalog zu Wien Modern #36 veröffentlicht und uns zur Verfügung gestellt.

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Live

Wien Modern 2023: 11. Nov. 2023 – 15:00 Uhr – Volkskundemuseum Wien: „Porträt Hermann Markus Preßl“

Wien Modern 2023: 12. Nov. 2023 – 19:00 Uhr – Volkskundemuseum Wien: „Porträt Hermann Markus Preßl“ (Folgevorstellung)

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Links

Biografie Hermann Markus Preßl (Wien Modern)

Hermann Markus Preßl (music austria datenbank)

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Hermann Markus Preßl, (* 26. Mai 1939 in Altaussee/Steiermark, † 12. August 1994 in Nea Mouchri/Griechenland) war ein vielfach ausgezeichneter österreichischer Komponist (u.a. Kompositionspreis der Stadt Graz, Kompositionspreis für Kunst und Kultur des Bundeskanzleramts Österreich) und Violinist. So war er Mitglied im „Geiger-im-Himmel“-Quartett, des Grazer Philharmonischen Orchesters oder der Cappella Classica.

Nach Absolvierung einer Maschinenschlosserlehre studierte er ab 1959 Violine, Viola und Komposition an der Musikhochschule Wien, am Mozarteum Salzburg sowie der Musikhochschule Graz, welche er mit der Staatsprüfung für Violine (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) und dem Diplom mit Auszeichnung in Komposition (Universität für Musik und darstellende Kunst Graz) abschloss.

Anschließend war er als Musikpädagoge und Lehrer, u.a. als Lehrbeauftragter der Musikhochschule Wien und als Professor für Musiktheorie und Komposition an der Musikhochschule Graz, tätig. Seine Tätigkeiten als Dozent und Musiker führenten Hermann Markus Preßl zu Konzert- und Vortrags- und Forschungsreisen nach Afghanistan, Brasilien oder Singapur.

Einen substanziell-nachdrücklichen Einfluss auf sein musikalisches Schaffen nimmt in diesem Zusammenhang sein Aufenthalt in Afghanistan (1966 – 1971) ein. Neben einer Tätigkeit als Lehrbeauftragter an einer Musikschule in Kabul, sowie als Gastdozent für Musiktheorie und Komposition an der Universität in Kabul, arbeitete er dort als Musikethnologe (Dokumentation der größten existierenden Sammlung afghanischer Volksmusik, Schilderung und Charakterisierung afghanischer Musikinstrumente) und Komponist (u.a. im Auftrag der afghanischen Regierung). So erlangte Hermann Markus Preßl, neben seiner Tätigkeit als Musiker und Pädagoge, vor allem als Komponist der „Neuer Musik“ internationale Bekanntheit. Im Kontext und unter Einfluss seines Leitmotivs: „Ich verehre das „Heilige Nichts“. Die Musik dient mir, dieses „Heilige Nichts“ darzustellen.“ entstanden kompositorische Werke wie Ronde 50 (Solo für Violine; 1980), Die Herbstelegie (Duo für Viola und Violoncello; 1990) oder das in Kooperation mit Gerhard Zeller entstandene Kunstprojekt Liegenlied, welches im Rahmen von Wien Modern 2023 aufgeführt wird.