„Ich will die Leute mit meiner Musik nicht mehr anspringen […]“ – ULRICH DRECHSLER im mica-Interview

Den Klarinettisten ULRICH DRECHSLER schlicht als Musiker zu bezeichnen, greift mittlerweile viel zu kurz. Natürlich ist er immer noch ein solcher, doch bettet er sein musikalisches Schaffen mittlerweile unter dem Titel LIMINAL ZONE in einen deutlich erweiterten Rahmen ein. ULRICH DRECHSLER hat sich ein Art Plattform geschaffen, von der er aus in verschiedensten Funktionen – von Musiker über Labelbetreiber und Veranstalter bis hin zu Vernetzer – tätig ist. Mit „Chrome“ ist nun Teil zwei seiner dreiteiligen Veröffentlichungsserie LIMINAL ZONE erschienen. Und so, wie sich seine Rollen in der Zahl vermehrt haben, so zeigt sich auch der musikalische Auftritt des gelernten Jazzers mittlerweile deutlich weiter gefasst. Im Interview mit Michael Ternai erzählte der gebürtige Deutsche über die Idee hinter LIMINAL ZONE und seine neuen musikalischen Präferenzen.

Mit „Chrome“ erscheint nun Teil zwei deines Projektes Liminal Zone. Kannst du vielleicht kurz deine Idee zu diesem doch sehr umfangreichen Projekt skizzieren?

Ulrich Drechsler: Die Idee zu Liminal Zone hatte ich 2016. Zu der Zeit war ich auf der Suche nach einem Format, in dessen Rahmen ich meine unterschiedliche Musik einheitlich präsentieren kann. Ich hatte nämlich immer das Problem, dass es für mich – da ich in so vielen unterschiedlichen Bereichen unterwegs bin, Jazz, Elektronik, Neoklassik, Filmmusik – immer schwierig war, das alles zu präsentieren. Daraus entstand die Idee einer Plattform, auf der all diese Projekte, die ich mache, wunderbar nebeneinander existieren und auch direkt miteinander verbunden werden können. Es ist quasi so etwas entstanden, wie mein persönlicher musikalischer Spielplatz. Ein Rahmen, in dem ich experimentieren kann, neue Dinge hinzufügen kann, aus dem ich auch mal etwas rausschmeißen kann, umbesetzen kann usw. In diesem Rahmen sind nun auch die drei Projekte angesiedelt. „Caramel“, das im letzten Jahr erschienen ist und in die Richtung Jazz, Neoklassik und ein wenig Weltmusik geht. An diesem Album hat ja auch Yasmo mitgearbeitet.

Jetzt erscheint mit „Chrome“ ein Album, das sehr in Richtung Neoklassik/Ambient geht. Anders als auf „Caramel“ bilden dieses Mal ein Streichertrio, meine Klarinette und Live-Elektronik von Peter Zirbs das Fundament des Sounds. Nächstes Jahr kommt dann das Album „Azure“, auf dem es in Richtung Hip-Hop gehen wird. Bei „Azure“ wird es auch darum gehen, zusätzlich zum Live-Format die Aufnahmen mit Produzentinnen und Produzenten aus dem Ausland abzuwickeln.

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Liminal Zone ist aber nicht nur allein als Plattform zum Veröffentlichen von Alben gedacht.

Ulrich Drechsler: Genau. Liminal Zone geht schon weit darüber hinaus. Ich habe von der Plattform aus auch begonnen, andere Projekte zu initiieren. Letztes Jahr im März stand ja plötzlich alles still und alle wurden von der Panik ergriffen. Ich selber brauchte auch zwei Wochen, um mich aus der Schockstarre zu lösen. Dann habe ich mir gedacht, dass ich mit 20 Jahren Berufserfahrung doch auch eine Menge Kontakte habe. Die Frage, die sich mir stellte, war, was ich mit denen anfange. Ich begann damit, eine Infrastruktur aufzubauen. Zum einen für mich selber, zum anderen aber auch, um für den Kulturstandort Wien neue Möglichkeiten zu schaffen.

Das Erste, womit wir im letzten Sommer begonnen haben, war eine Kooperation mit dem Supersense auf der Wiener Praterstraße. Das ist ein toller Ort mit einem analogen Tonstudio, in dem man zudem auch vor Ort Schallplatten schneiden kann.

Dort haben wir mitLiminal Zone analogueeine kleine MTV-artige Unplugged-Konzertreihe gestartet, zu der wir vor allem Künstlerinnen und Künstler aus dem FM4-Umfeld eingeladen haben. So waren unter anderem Lylit und Drahthaus zu Gast. Die Reihe hat großartig funktioniert, weil die Leute diesen Rahmen einfach lieben.

Die Konzerte werden aufgenommen und ein kleiner Ausschnitt erscheint dann auf einer streng limitierten 10-Zoll-Plattenauflage. Was ich bei dieser Konzertreihe gemerkt habe, ist, dass das funktioniert, wenn man es schafft, einen Mehrwert für alle drei Parteien – für die Künstlerinnen und Künstler, für die Veranstalterinnen und Veranstalter und für das Publikum – zu schaffen. Durch Corona sind die Leute vorsichtiger und zugleich auch anspruchsvoller geworden. Du musst den Leuten heute mehr bieten.

Dann haben wir auch im 24 Hours eine kleine Club-Serie gestartet, die im Herbst fortgesetzt wird. Ebenfalls mit dem 24 Hours wollen wir mit „Liminal Zone listens“ so etwas wie Listening Sessions starten. Wir wollen Künstlerinnen und Künstler, Labels, Journalistinnen und Journalisten sowie Agenturen einladen, ein, zwei, drei Platten mitzunehmen und gemeinsam mit dem Publikum zu hören und zu diskutieren, einfach um bewusstes Musikhören zu fördern. Das wird natürlich eine kleine Sache bleiben, aber es ist etwas, was mir sehr am Herzen liegt, vor allem in Zeiten, in denen sehr viele Menschen Musik als digitales Wegwerfprodukt konsumieren.

Ulrich Drechsler / Chrome (c) Severin Koller

Auch mit dem Muth bin ich eine schöne Kooperation eingegangen. Elke Heese, die neue Intendantin vom Muth, will das Haus in den nächsten Jahren neu positionieren und hat mich eingeladen, einen sehr schönen Zyklus zu kuratieren, zu dem klassische Ensembles und führende Vertreterinnen und Vertreter der heimischen Elektronikszene eingeladen werden, gemeinsam ein Programm zu gestalten. Das Ganze wird dann noch mit eigens konzipierten Visuals ergänzt. Es wird eine große elektroakustische, audiovisuelle Suite werden. Der Gedanke ist, das Stammpublikum des Muth an neue Musik heranzuführen und junges Publikum in den Konzertsaal zu bringen. Und auch dem Muth mehr Sichtbarkeit zu verschaffen.

Last, but not least habe ich letztes Jahr für Liminal Zone auch ein eigenes Label gegründet, mit dem ich jedes Jahr zwei bis drei Veröffentlichungen plane. Daraus ist auch die Idee entstanden, dass wir mit internationalen Produzentinnen und Produzenten aus den Bereichen Ambient, Trip-Hop und Electronica kooperieren. Die Idee, die dahintersteckt, ist, dass wir auf der ganzen Welt Remix-EPs produzieren lassen, die wir dann über unser Label veröffentlichen und streuen, sodass alle Beteiligten Reichweite und Sichtbarkeit erzielen und so neues Publikum generieren können.

Generell kann man sagen, dass die Dinge wachsen und gedeihen. Und trotz Corona haben wir es geschafft, dass alles – natürlich auch mit stops and goes– funktioniert und auch begeistert aufgenommen wird. Auch weil alles sehr flexibel angelegt ist. Sie sind mit einem relativ geringen finanziellen, logistischen und organisatorischen Aufwand verbunden. Daher können wir sie schnell auf- und wieder abdrehen. Wir können den Standort wechseln, wenn es notwendig ist. Was auch noch hinzukommt, ist, dass auch die Wirtschaft und die Hotellerie gemerkt haben, dass es wieder chic ist, Kunst, Kultur und vor allem Musik zu fördern.

„Das Schöne an diesen ganzen Aktivitäten ist, dass ich eigentlich mehr denn je zum Musikmachen komme.“

Das hört sich jetzt alles sehr arbeitsintensiv an. Wo findest du zwischen all den Aktivitäten eigentlich den Raum und die Zeit, Musik zu schreiben und zu machen? Du musst ja ein richtiger Workaholic sein.

Ulrich Drechsler: Das läuft alles parallel. Aber ich bin kein Workaholic. Überhaupt nicht. Ich habe eine Familie und die ist mir hoch und heilig. Abends um sechs mache ich alles, was mit der Arbeit zu tun hat, zu. Und dann nehme ich mir Zeit für mich und meine Familie. Wenn du mich fragen würdest, Musik oder Familie, würde ich mich immer für die Familie entscheiden. Ich bin jetzt schon 52 und habe schon die eine oder andere Krise durchlebt. Das hat mich einfach gelassener gemacht. Ich weiß, dass die Dinge irgendwann immer irgendwie weitergehen. Niemand von uns ist in der Vergangenheit irgendwo unter einer Brücke gelandet. Zum Essen und zum Trinken haben wir auch alle etwas.

Das Schöne an diesen ganzen Aktivitäten ist, dass ich eigentlich mehr denn je zum Musikmachen komme. Ich lerne so viele neue Menschen kennen, von denen ich wahnsinnig viel kreativen Input bekomme. Ich habe so viel mit jungen und extrem talentierten Künstlerinnen und Künstlern zu tun haben, die wahnsinnig viel Feuer unter dem Hintern haben und mich sehr inspirieren. Natürlich gibt es auch Tage, an denen ich keinen einzigen Ton spiele. Dann aber setze ich mich wieder eine Woche hin und schreibe drei Stücke oder gehe ins Studio und produziere etwas. Der Konzertkalender ist zudem richtig voll. Es kommen jede Woche immer neue Sachen dazu. Auch da ist jetzt eher das Thema, dass ich aufpassen muss, dass es nicht zu viel wird.

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Ich kenne dich jetzt schon ziemlich lange und natürlich auch deine vielen Projekte, die musikalisch alle sehr verschieden sind. Mit Liminal Zone schlägst du wiederum ein anderes musikalisches Kapitel auf. In dem Projekt kommt nämlich alles, was dich musikalisch ausmacht, zusammen.

Ulrich Drechsler: Ursprünglich wollte ich ja Klassik studieren, bis ich festgestellt habe, dass mir das klassische Konzept doch etwas zu eng ist. Dann ist es Jazz geworden. Kurz nach dem Studium bin ich nach Wien gekommen, wo mir dann Café Drechsler quasi passiert ist. Ich hatte lange Jahre immer das Thema laufen, dass ich nicht wusste, in welche Richtung es mich wirklich hinzieht. Zwischendurch wollte ich natürlich auch irgendwann einmal ein supertoller Saxofonist werden. Dann habe ich aber die Klarinette für mich wiederentdeckt, die ich eigentlich seit meinem Klassik-Studium auf die Seite gelegt hatte, und habe mich da komplett reingetigert. Irgendwann habe ich mir dann die Frage gestellt, wieso ich mich eigentlich zwischen den Genres entscheiden soll. Vor vier, fünf Jahren, bevor die Idee zu Liminal Zone kam, kam in mir die Klarheit hoch, dass ich mich nicht entscheiden muss. Ich kann alles, was mir Spaß macht, auch tun. Es gibt so viel tolle Musik aus allen Bereichen, warum soll man diesen Umstand nicht nutzen? Man muss dafür nur das richtige Format finden. Und das war quasi die Grundidee für Liminal Zone. Und ja, damit, dass ich mich nun von meinem Kerngenre Jazz immer weiter entferne, hast du recht.

Was deine neuen Veröffentlichungen – vor allem jetzt auch „Chrome“ – auszeichnet, ist dieser wunderbar warme, elegante Sound, der einen wirklich in das Geschehen hineinzieht.

Ulrich Drechsler: Der wichtigste musikalische Aspekt war für mich immer Klang, weil er ein essenzieller Teil der Musik ist. Der Klang ist der Träger der Emotion und ist das, was die Menschen berührt. Wie schnell, wie laut, wie hoch wir spielen, ist nur Inhalt und austauschbar. Der Klang ist die Stimme. Und darum bin ich auch Musiker geworden. Ich will mit meiner Stimme Menschen berühren. Ich machte mich auf die Suche nach immer neuen Klängen und habe dann begonnen, mich auch an etwas größere Formate heranzuwagen. So auch bei „Caramel“. Da spielte ein Sextett und die Musik war fast zur Gänze durchkomponiert. Davor habe ich eigentlich nur klassische Jazznummern geschrieben, zu denen man improvisieren konnte. Mit „Chrome“ trage ich diese Idee nun ein Stückchen weiter.

Quasi gleichzeitig habe ich vor einigen Jahren begonnen, fast ausschließlich wieder Klassik und Elektronik zu hören. Im Moment höre nur sehr wenig Jazz, was sich natürlich auch wieder ändern kann. Aber im Moment ist Neoklassik ein großes Thema für mich. Vor allem Sachen von Max Richter und Jóhann Gunnar Jóhannsson finde ich richtig toll.
Auch das Medium Film inspiriert mich sehr. Ich bin nach wie vor begeisterter Kinogeher und freue mich natürlich sehr, dass die Kinos jetzt wieder offen haben. Filmmusik ist nämlich auch etwas, was mich aktuell wahnsinnig anspricht. Gute Filmmusik ist eine solche, die sich nie in den Vordergrund drängt und die Dramaturgie des Films perfekt ergänzt. Genau das will ich mit meiner Musik mittlerweile erreichen. Ich will die Leute mit meiner Musik nicht mehr anspringen, auf die Art, dass sie gezwungen werden, sie zu konsumieren. Ich will, dass sie sich selber dafür entscheiden können, ob sie sie bewusst und einfach nur nebenher anhören wollen. Und ich habe von den Leuten zu „Caramel“ schon gehört, dass das sehr gut geht.

Mit „Chrome“ sind wir jetzt einen Schritt weitergegangen. Die Verbindung Streichertrio, Klarinette und Live-Elektronik hat eine richtig orchestrale Suite entstehen lassen, die manchmal wirklich kitschig schön ist, aber auch in manchen Momenten brachial laut ausbrechen kann. Ich habe mir bei diesem Album auch sehr viele Ideen aus der Filmmusik geholt, daher kann man wirklich sagen, dass „Chrome“ eine Art Soundtrack für einen imaginären Film ist.

Ulrich Drechsler / Chrome (c) Severin Koller

Du hast dir für „Chrome“ wieder ein hochklassiges Ensemble zusammengestellt. Warum ist die Auswahl gerade auf diese Musikerinnen und Musiker gefallen?

Ulrich Drechsler: Zuerst war Peter Zirbs da, den ich schon seit Langem kenne, mit dem ich aber seit Jahren nicht mehr wirklich in Kontakt war. Wir hatten uns irgendwie aus den Augen verloren.Vor einiger Zeit habe ich dann aber sein aktuelles Album gehört und dachte mir, dass ich eigentlich auch genau in diese Richtung gehen möchte: Minimal Music, Steve Reich, Philip Glass etc. So sind wir wieder rege in Kontakt gekommen.

Bei den Streicherinnen und Streichern war es anders. Da hatte ich zu Beginn eigentlich gar keine Idee, wer das übernehmen könnte. Da habe ich mich wirklich auf die Meinung von Kolleginnen und Kollegen verlassen. So hat mir Oliver Steger von Café Drechsler den Violinisten Efe Turumtay empfohlen, der mir dann den Bratschisten Simon Schellnegger und der wiederum hat mich dann auf die Cellistin Ida Leidl gebracht. So kam das Ensemble zustande.
Worauf ich sehr viel Wert gelegt habe, war die menschliche Komponente, dass man eben nicht nur gemeinsam probt, sondern zum Beispiel auch einmal gemeinsam auf ein Bierchen geht und über andere Sachen als nur über Musik redet. Ich finde das wichtig, weil ich glaube, wenn das passt, kann auch gute Musik entstehen.

Fest steht, dass auf „Chrome“ im nächsten Jahr das Album „Azure“ folgen wird. Aber abgesehen davon, wo willst du die Geschichte Liminal Zone noch überall hintragen?

Ulrich Drechsler: Was mir vorschwebt, ist etwas Ähnliches, was zum Beispiel das Cinematic Orchestra oder das Hidden Orchestra tut. Auch wenn sich diese Acts alle als Orchester bezeichnen, bilden deren Kern eigentlich nur zwei, drei Leute, die einen riesigen Pool an Musikerinnen und Musikern und Kreativen um sich scharen, die je nach Bedarf ihre Ideen ausführen. Diese Arbeitsweise finde ich wahnsinnig spannend und auch sehr zukunftsweisend.Das Team von Liminal Zone besteht aktuell aus ungefähr 25 Personen, aus Musikerinnen und Musikern, Fotografinnen und Fotografen, Visual Artists, Grafikerinnen und Grafikern, Filmerinnen und Filmern etc. Wenn man so ein Team zusammen hat, dann kann man jedes Projekt auch sehr gezielt so aufstellen, dass es mit anderen Genres kooperieren kann und auch immer zeitgemäß ist.

Das ist auch ein Aspekt an Liminal Zone, dass wir in den letzten drei, vier Jahren eine sich ständig erweiternde Corporate Identity entwickelt haben, die immer konkreter wird. Das Ganze entwickelt sich immer mehr hin zu einem Gesamtkunstwerk. Das finde ich wunderschön.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Michael Ternai

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