„Ich versuche Bögen zu spannen, die ineinandergreifen.“ – NADJA KAYALI (IMAGO DEI) im mica-Interview

Während es in ihrem ersten sehr erfolgreichen Jahr der Festivalleitung um die Etablierung eines Kooperationsgedankens ging, heißt es für NADJA KAYALI nun, ein sensibles Ausbalancieren zwischen den Künsten, Disziplinen und Kräften zur Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart beim heurigen Festival IMAGO DEI darzustellen: die Themen Menschenrechte und Verfassung begegnen Märchen und Mythen nebst klassischer und neuer Musik. Ein Kommentar, der in eine mögliche Zukunft weist.

Der Club Festivalförderung ist eine wesentliche Neuerung, die Sie mit der Übernahme des Festivals etablierten. Was sagt das über die Bedeutung von Festivals als Auftraggeber für Komponist:innen und andere Künstler:innen?

Nadja Kayali: Dieser Festivalförderungsclub ist eine ganz wichtige Möglichkeit, Menschen, die sich mehr als nur zuschauend mit Kultur verbinden wollen, mit ins Boot zu holen. Er lässt mir abseits des erhaltenen Budgets Raum, Programme zu realisieren und außerdem in erster Linie Werkaufträge zu vergeben. So konnte ich im letzten Jahr beide Uraufführungen mit sehr großzügigen privaten Zuwendungen finanzieren. Ich versuche grundsätzlich, die Werke der Festivalcomposer und ihrer Person auf mehreren Ebenen ins Festival zu implementieren. Und nicht nur ins Festival: Bei der Präsentation der Festivalcomposer im Musiksalon der Nationalbibliothek gelingt es durch den sehr intimen Rahmen eine besondere Verbindung zum Publikum herzustellen. Oder die Idee, einen polnischen Komponisten, der durch die Nazis aus dem Repertoire gefallen ist, wieder zurückzuholen, wird nicht funktionieren, indem ich einfach ein Stück von ihm ins Programm aufnehme. Da muss ich mir schon mehr einfallen lassen. Das sind die Dinge, bei denen mir der Festivalförderungsclub einfach mehr Freiraum ermöglicht. So konnte ich in diesem Jahr zwei Festivalcomposers und sechs Literatinnen einen Auftrag geben. Auch wenn die Stücke länger oder komplexer werden, kann ich so ermöglichend reagieren. Ich bekomme also durch den Festivalförderungsclub in der Programmierung mehr Möglichkeiten und das kommt letztlich allen zugute.

Es war ja außerdem Ihr ausgesprochenes Anliegen, die entstehenden Werke in eine längere Zukunft zu begleiten als nur zur Uraufführung.

Nadja Kayali: Ich habe eine sehr spezielle Vision davon, was ein Festival leisten soll. Im Gegensatz zum Repertoirebetrieb kann ich in einem Festival tatsächlich aus verschiedenen Blickwinkeln, mit verschiedenen Genres, verschiedenen Künstler:innen aus verschiedenen Epochen ein Thema umkreisen und etwas miteinander verknüpfen, dass auf den ersten Blick vielleicht gar nichts miteinander zu tun hat. Das macht ein Festival so besonders und bedeutet gleichzeitig, dass ein Festival sehr umsichtig und achtsam zu planen ist, weil die Linien, die ineinander greifen, wirklich fest sein müssen.  Sonst wird das Ganze willkürlich, ein bunter Strauß von netten Blumen. Es ist wichtig, dass die Elemente des Programms ein Fundament, einen Zusammenhalt haben. Das ist eine Leitlinie in meinem gesamten künstlerischen Arbeiten. Ich versuche Bögen zu spannen, die ineinandergreifen. Wenn es gelingt, ist das spürbar, auch ohne davon zu wissen. Meine sehr künstlerische Herangehensweise bei der Programmplanung, die viel Intuition und auch Risiko inkludiert, soll einen nährenden und stabilen Boden für die Künstler:innen schaffen.

Außerdem kommt dem Festival auch die Funktion zu, Themen emotional erfahrbar zu machen. Wonach wählen Sie aus?

Nadja Kayali: Ich mache das, wovon ich überzeugt bin. Und ich glaube zutiefst daran, dass diese Haltung auch auf das Publikum ausstrahlt. Das ist eine Frage der Authentizität. Ich nehme das Publikum sehr ernst und bemühe mich unentwegt, Publikum kennenzulernen, zu verstehen und dann auch mich selbst weiterzuentwickeln. Darin sehe ich eine große Chance, im Miteinander weiterzukommen ohne geschmäcklerisch zu werden. Ich muss mir überlegen, wie ich es schaffen kann, Menschen von dem zu begeistern, was mich begeistert und mir wichtig ist: das zeitgenössische Wirken polnischer Komponisten zum Beispiel. Es ist schon sehr gewagt, mit „Zwischentöne Polen“ drei Jahre lang einen Schwerpunkt mit einem Land zu setzen, das auf unserer musikalischen Landkarte kaum vorkommt. Doch nur durch die Beständigkeit schaffe ich es, das Interesse dafür zu wecken. Und wir können nicht das immergleiche Repertoire aus Klassik und Romantik spielen, wir wollen ja nicht einfrieren. Unser Musikbetrieb doch schon so irrsinnig museal. Also denke ich beständig über Strategien nach, Menschen für Dinge zu begeistern, die sie noch nicht kennen. Das betrifft auch ganz stark die Komponistinnen vergangener Tage, denn sie wurden in ihrer Zeitgenossenschaft zu männlichen Kollegen einfach nicht ernst genommen und das ist bis heute so. Gleichzeitig geht es darum, Verbindungslinien aufzuzeigen, diese Komponistinnen fallen ja nicht aus dem luftleeren Raum. Dabei hat die Qualität nie eine Rolle gespielt, es war immer nur das Geschlecht. Heute geht es immer um Qualität, aber damals ging es nur um Geschlecht. Frauen arbeiteten immer unter anderen Bedingungen. Für mich hat es eine große Wertigkeit, dass Frauen Musik machen und komponieren, deshalb gibt es das Kammermusikkonzert von der in Österreich gänzlich unbekannten Maria Bach und Grazyna Bacewicz.

„Ich sehe es auch als meine Aufgabe, Publikum einzuladen. Dafür mobilisiere ich alle meine Kompetenzen.“

Zwischentöne Polen“ und „Imago Deae“ sind zwei Schwerpunkte im Festivalprogramm, immer steht aber das Miteinander bei Ihnen im Vordergrund.

Nadja Kayali: Ich sehe es auch als meine Aufgabe, Publikum einzuladen. Dafür mobilisiere ich alle meine Kompetenzen. Was eine Unmenge Zeit erfordert. Das hat im vorigen Festivaldurchlauf für fast alle Veranstaltungen quasi volle Zuschauerräume gebracht. Obwohl die Medien in Wien solche Ereignisse kaum besprechen, weil sie in Niederösterreich stattfinden. Da wird nicht auf den Inhalt, nur die Aufführungsorte geachtet. Das tut weh. Es wird der Interdisziplinarität des Festivals überhaupt nicht Rechnung getragen: letztes Jahr hatte ich Puppenspiel und Tanz, heuer eine szenische Lesung und Literatur und Recht ganz stark verankert. Dieses Schubladisieren ist ein echtes Problem.

Es verhindert, solches Engagement wie das Ihre sichtbarer werden zu lassen und die Wirkungen und Entwicklungen neuer Denkräume und Wahrnehmungsfelder abzubilden. Besagte szenische Lesung findet sich im Titel „Nach Lemberg!“ – eine musikalisch-juristische Erkundung?

Nadja Kayali: Diese szenische Lesung basiert auf einem rechtsphilosophischen Sachbuch über einen SS-Richter, der Korruptionsfälle in Konzentrationslagern untersucht hat. Dieses Stück habe ich schon vor ein paar Jahren aus Prozessakten kompiliert und in einen privaten Kontext gesetzt: als Gespräch zwischen dem SS-Richter Konrad Morgen und seiner Verlobten. Es geht die ganze Zeit um Korruption. Diese Verbindung der Aushöhlung des Rechtsstaates mit der Aushöhlung der Menschenrechte und Korruption mit den „Ukrainischen Skizzen“ von Józef Koffler, einem Komponisten, der 1944 von den Nazis ermordet wurde und in Lemberg zuhause ist – einem Gebiet, das polnisch, österreichisch, ukrainisch, russisch war – wird augenöffnend sein. Diese Skizzen werden zudem mit den Interventionen von Nava Hemyari aufgeführt. Als Iranerin ist sie ständig mit dem Thema Menschenrechte befasst. Eine weitere Ebene, um Recht und Musik noch enger zu verzahnen: Ich spanne den Bogen von Jozéf Koffler zu seinem Schüler Roman Haubenstock-Ramati, der ja auch ein polnisch-jüdischer Komponist und im Wien der 1970er Jahre ein bedeutender Professor an der Musikhochschule war, bei dem Beat Furrer und Peter Ablinger studierten. Peter Ablinger bekam einen Kompositionsauftrag von mir und so habe ich eigentlich eine „kompositorische Familiengeschichte“ dargelegt. Den recht präzisen Auftrag, ein Werk zu Hans Kelsen für das Platypus Ensemble zu schreiben, formulierte er zu einem Stück für Ensemble, das seine Instrumente nicht verwenden darf. Die Gespräche und rechtlichen Texte haben ihren Niederschlag gefunden. Das Ensemble spricht, aber sein Text steht in Kontrast zu einem projizierten Text.

Und dann kommt noch eine juristische Ebene hinzu …

Nadja Kayali: Ein zweiter Bogen bindet gedanklich die rechtliche Komponente noch stärker an und hat einen Einfluss auf die Musikinterpretation: Die zwei Juristen Hersch Lauterpacht und Rafael Lemkin, die an der Universität Lemberg studierten, brachten neue Straftatbestände ins Völkerstrafrecht ein: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Genozid“. Der eine stellt auf das Individuum ab, der andere auf die Gruppe. Genau vor diesem Hintergrund wird „Décisions“ interpretiert werden. Um eine grafische Partitur zu interpretieren, muss man ja bestimmte Kriterien entwickeln, die in diesem Fall juristische waren. Das Klavier ist das Individuum und das Ensemble im Zuschauerraum die Gruppe. „Décisions“ ist dafür geeignet, weil sie den Raum lässt, genau solche Dinge daraus zu kreieren, ohne sie dafür zu verbiegen.

Die notwendige Auf- und Einarbeitung der Geschehnisse, sodass Entwicklung tatsächlich stattfinden könnte, setzt innere Erfahrbarkeit voraus. Sie haben also eine Mission.

Nadja Kayali: Durchaus. Ich spüre eine Verantwortung, weswegen ich beispielsweise dieses Theaterstück damals auch geschrieben habe und jetzt noch einmal aufführe. Ich spüre schon, dass wir mit Kunst eine gesellschaftliche Verantwortung haben, aber auch etwas bewirken können. Und es gibt auch Partner:innen, die das verstehen.

Festivals haben ja auch eine Bedeutung für die Kunst an sich, dass die Kunst einen Bewusstwerdungs- oder Berührungsmoment erzeugen kann. Können wir mit Kunst das Unsichtbare sichtbar machen?

Nadja Kayali: Das Unsichtbare schwingt immer mit in der Kunst, aber ich glaube, wir können durchs Kreieren eher ins Spüren und Erfahren kommen. Wir sind ja mittlerweile in der Situation, dass es kaum noch Zeitzeug:innen gibt. Das zwingt förmlich dazu, sich zu überlegen, wie Themen auf eine Art und Weise transportiert werden können, dass sie wirklich emotional vermittelt werden. Es ist so wichtig, dass wir diese Themen nicht vergessen und uns damit auseinandersetzen.

Nebelweich. Toihaus Theater
Nebelweich. Toihaus Theater (c) Fabian Schober

„Ich gebe zu, es ist kein easy-cheasy Programm.“

Ist „Nebelweich“ als poetische Erkundung der beständigen Veränderung ein bisschen Trost und Wärme für die vielen schweren Erfahrungen, die man in großen Teilen des  Festivalprogramms dieses Jahr machen kann? Ihr Programm ist alles andere als unzeitgemäß, aber das faszinierend virtuos gebettet.

Nadja Kayali: Ich gebe zu, es ist kein easy-cheasy Programm. Es ist eine Herausforderung, weil Inhalte oft nicht im Vordergrund stehen. Doch ich bin nun mal auf Inhalte fokussiert. Also muss ich mir überlegen, wie ich das rüberbringen kann. Das ist dann meine Herausforderung. Es ist schwerer Tobak, angefangen von Kurdistan bis Lemberg und Syrien. Irgendwo spielt dennoch immer die Hoffnung mit. Hoffen und Zuversicht sind so stark. Das habe ich durch die jüngere Generation gelernt. Man könnte beim Älterwerden dazu neigen, misanthropisch und resigniert auf die Welt zu schauen. Aber es gibt eine jüngere Generation, die ein Anrecht auf Zukunft und Optimismus hat. Das habe ich jetzt internalisiert und das macht Freude.

Wir sehen die Schwierigkeiten in Zusammenhang mit  „Kurdistan“, aber wir haben verschiedene kurdische Musiker:innen in Österreich. Und die bringe ich jetzt zusammen. Sie können also gemeinsam ihre verschiedenen kurdischen Kulturen und Sprachen zeigen und miteinander verknüpfen.

Selbst beim Abend für Jad Turjman – diesem großartigen jungen Mann, der so ein wichtiges, nun fehlendes Vorbild war für viele junge Menschen – wird trotz der Trauer sein Werk lebendig erhalten und dem sind wir jetzt verpflichtet. Das ist eine Art von Transformation, die beständige Veränderung. Das ständige sich weiter und in andere Formen entwickeln ist ja Gegenstand des Lebens an sich. Das findet sich nicht nur in „Nebelweich“, auch beim „Mädchen mit den Schwefelhölzern“, genauso in der Klaviermatinee, wenn Bach Vivaldi bearbeitet. Auch da sind die Metamorphosen immanent.

Wird dieses Recht auf Hoffnung und Zuversicht zugestanden, spricht man sich gleichzeitig für die menschliche Schöpferkraft, für das Geschichtenerzählen, für die künstlerische Kreation aus.

Nadja Kayali: Ja, wozu machen wir das denn alles, wenn wir nicht zutiefst davon überzeugt wären, dass wir zuversichtlich in die Zukunft gehen. Auch wenn im Moment alle Anzeichen dagegenstehen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Sylvia Wendrock (Sprechgold)

Festival: 17. März–10. April 2023

Donnerstag, 9. März 2023, 19:30 Uhr
Prolog: Musiksalon
Gesprächskonzert

mica – music austria verlost 2×2 Freikarten für den multimedialen Abend “Nach Lemberg!” am Samstag, den 25. März 2023 im Klangraum Krems Minoritenkirche. Bei Interesse bitte bis zum 23.03.2023 um eine E.Mail an office@musicaustria.at – Betreff: “Imago Dei”.

Link:
Festival Imago Dei