„[Ich] suche keinen Zufluchtsort, sondern die Zumutung“ – Matthias Kranebitter im mica-Interview

Matthias Kranebitter zählt zu den radikalsten österreichischen Komponisten der jüngeren Generation. Seine Werke dringen tief in die Wirklichkeit vor. Sie sind inspiriert von unserer digitalen Umgebung – den Geschwindigkeiten und Intensitäten, die auf unsere überspannten Körper wirken und unsere Wahrnehmung langsam umstrukturieren. Shilla Strelka spricht mit dem Komponisten über Sammelleidenschaft und Remix-Ästhetik, Frequenzbereiche und das „phantastische Rauschen“.

Du gehst in deinen Kompositionen sehr eklektisch vor, fügst Elemente unterschiedlicher Epochen und Kontexte zueinander oder dekonstruierst bestehende Sprachen. Welche Motivation verbirgt sich dahinter?

Matthias Kranebitter: An den Materialfortschritt kann ich in der heutigen postmodernen Zeit nicht mehr glauben, daher sehe ich meine künstlerische Arbeit als Rekontextualisierung des Vorhandenen. Man kann das auch als Dekonstruktion bezeichnen, wichtig wäre mir aber zu betonen, dass ich diesen Vorgang nicht als destruktiv, sondern als sehr konstruktiv wahrnehme. Es geht also nicht um eine simple Zerstörung des Bestehenden, sondern um das Schaffen neuer Zusammenhänge – einer neuen Syntax. Auch in meiner Elektronik arbeite ich nie an der Klangsynthese, also an der Schöpfung neuer Klänge, sondern ausschließlich samplebasiert – also mit kurzen Klangaufnahmen, aus denen ich dann meine dichten Texturen und Gesten webe. Es entsteht dadurch, wie ich denke, eine eigene und neue Klangsprache, auch wenn der Rohstoff selbst nichts Neues ist, sondern im Gegenteil nur aus vorhandenem Material besteht.

Lässt sich Heterogenität bei dir als Statement verstehen? Das Zappen zwischen unterschiedlichen Kanälen, der Remix als Demokratisierung einzelner, teils divergierender Elemente?

Matthias Kranebitter: In meinem Musikschaffen habe ich mich eigentlich von Anfang an sehr für das Anorganische, das Heterogene und Auseinanderklaffende interessiert. In der Kunsttheorie von Michail Bachtin sind dies alles ästhetische Aspekte der Karnevalisierung – ebenso wie die Auflösung und Relativierung von Hierarchien, Demokratisierung und Familiarisierung, was ich auch durch das Miteinbeziehen sogenannten „Trash-Materials” in meine Werke beabsichtige. Die Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren, Pluralismus und Widersprüchlichkeit, das sind alles für mich sehr aktuelle Konzepte, die in meine Arbeit einfließen.

„Musik als Datenmenge”  

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Ebenso trittst du in zahlreichen Werken in Dialog mit dem Barockkomponisten Pancrace Royer. Warum er?

Matthias Kranebitter: Pancrace Royer habe ich durch seinen Cembalohit „Le Vertigo” kennengelernt. Ich war fasziniert von dem Stück, weil es für Barockmusik sehr vulgär bzw. «un-höfisch» klingt – impulsiv, sprunghaft, roh. Das hat mich sehr an die Art Brut erinnert, die es natürlich in der Form im Barockzeitalter nicht gab. Von „Le Vertigo” habe ich eine Bearbeitung für Ensemble und Elektronik geschrieben, die genau an diesen musikalischen Ausdruck anknüpft.

Es gibt ein paar Werke von mir, in denen ich die Musik Pancrace Royers heranziehe, dort aber in einer sehr «digitalen Denkweise»: als Rohdaten, die ich dann durch algorithmische Prozesse schleuse und deformiere. Ähnliches mache ich auch mit anderem historischem Musikmaterial, wie etwa in dem Stück „stack overflow: exploiting 24 preludes” für das Decoder Ensemble Hamburg und deren Projekt „Big Data”.

Die Interpretation von Musik als Datenmenge ist für mich deshalb so reizvoll, weil in der Arbeit mit einem derart stark vorstrukturierten Rohstoff immer wieder Unerwartetes passiert. Die ursprüngliche Information geht in den ganzen Bearbeitungsprozessen nicht notwendigerweise verloren, sondern schlummert darin und kann plötzlich wieder durchbrechen.

Was ermöglicht dir die akustische Übersetzung unserer Umgebung, die Dopplung der Geschwindigkeiten und der Reizüberflutung. Mit dem historischen Materialismus gedacht, ginge es um einen Erkenntnisgewinn. Welcher Art?

Matthias Kranebitter: Zu glauben, tatsächliche gesellschaftliche Veränderung durch Komponieren zu erreichen, wäre naiv. Ich möchte mich beim Komponieren mit der Welt beschäftigen, die mich umgibt, mit für mich aktuellen Themen, da geht es selbstverständlich dann auch um Überforderung. Auch wenn ich selbst in ein Konzert, ins Theater oder Kino gehe, suche ich keinen Zufluchtsort, sondern die Zumutung.

Mich interessieren aber vor allem auch psychologische oder psychoakustische Phänomene in Zusammenhang mit Überinformation. Beispielsweise die „Clustering Illusion”, die Eigenschaft unseres Gehirns, Zufallsmustern, die zwangsläufig in großen Datenmengen vorkommen, Bedeutungen zu geben, Gestalten wahrzunehmen oder Stimmen zu hören, die so gar nicht vorhanden sind.

In meiner Komposition „polychotic listening tasks” beschäftige ich mich wiederum mit dichotischem Hören, einem psychologischen Test, bei dem du simultan mit gänzlich unterschiedlichen akustischen Signalen konfrontiert wirst, um deine selektive Wahrnehmung zu testen, oder auch dem sogenannten Cocktailparty-Effekt, d. h. der Fähigkeit unseres Gehirns, Störschall zu unterdrücken und einzelne Schallquellen im dichten Klanggemisch zu extrahieren.

Ich glaube schon, dass man im Strudel der Informationsflut über sich und seine Wahrnehmung Erkenntnisse gewinnen kann. Aber natürlich ist das von Mensch zu Mensch verschieden. Mich selbst interessiert es, und deshalb setze ich mich in meiner Arbeit damit auseinander. Ich sehe es jedoch nicht als Dopplung des Alltags, weil wir im Alltag nicht die Ruhe und Zeit haben, auf uns und unsere Wahrnehmung so zu achten, wie wir es in einer konzentrierten Konzertsituation können. Das ist dann ein gänzlich anderes Erlebnis.

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Da du in deiner Ästhetik unsere sich verändernde Wahrnehmung reflektierst, scheust du dich − in fast logischer Konsequenz − auch nicht davor, fortschrittliche Technologien und neu entwickelte Software in deine Komposition zu integrieren. Ist dieser selbstverständliche Umgang mit digitalen Tools eigentlich in gewisser Hinsicht Voraussetzung für einen zeitgenössischen Komponisten?

Matthias Kranebitter: Ich habe erlebt, dass das Erlernen einer neuen Software sehr inspirierend auf die kompositorische Arbeit wirken kann. Es eröffnen sich plötzlich neue Wege, neue Möglichkeiten und dadurch auch neue eigene Gedanken. Man könnte auch sagen „die Grenzen meiner Software bedeuten die Grenzen meiner Welt”. So gesehen versuche ich mich nach Möglichkeit in diesem Feld ständig weiterzubilden. Im Berufsalltag ist das manchmal leider etwas schwierig, weil du ständig Kompositionsaufträge abarbeiten musst und nur wenig Zeit für das Risiko, in etwas gänzlich Neues einzutauchen, bleibt. Ich finde das aber extrem wichtig für meine Arbeit.

Ein Beispiel ist deine Komposition „The Complete Unfiguranted Egalitarian Aural Realism Pt. 1″ für Nimikry, bei dem du dich auf dieses Risiko einlässt. Dafür komponierst du u. a. mit der vom Duo entwickelte Software „DigitAize” und integrierst sie in deine Sprache. Ich stelle es mir fordernd vor, sich als Komponist mit solchen Technologien, die eigentlich für Instrumentalist*innen ausgelegt ist, auseinanderzusetzen. Was treibt dich an?

Matthias Kranebitter: Die Software von Nimikry ist wirklich innovativ, deshalb fand ich es sehr spannend, mich darauf einzulassen. Ich habe darin eine Möglichkeit gesehen, die Elektronik mit den zwei Musikern zu synchronisieren, ohne ihnen ihre Freiheit in der Tempogestaltung zu rauben, da sie die Elektronik bis in ihre kleinsten Bausteine durch ihr Spiel steuern konnten. Es hat uns zwar eine Woche lang intensive Programmiernächte gekostet, und einiges hat selbstverständlich nicht so funktioniert, wie anfangs angenommen, aber in jedem Fall hat mich die Aufgabenstellung angeregt, mich auch kompositorisch weiterzubewegen.

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Google-Anwendungen, Zufallsalgorithmen, vorsortierte Datenmengen – in welchem Verhältnis siehst du deine Arbeit und Varianten künstlicher Intelligenz?

Matthias Kranebitter: Es gibt Stücke, wie z. B. „Ghost Box Music”, in denen ich mich explizit mit künstlicher Intelligenz beschäftige und der Frage nachgehe, wie die Google-Spracheingabefunktion Lärmtexturen interpretiert. Ich habe mich gefragt, auf Basis welcher Erfahrungen der Algorithmus unerkennbare Klänge interpretiert und in Text übersetzt. In meinen Kompositionsprozessen operiere ich eigentlich ständig mit Algorithmen, denen zu gewissen Anteilen auch Zufallsoperationen zugrunde liegen. Das hilft mir, im mikroskopischen Bereich eine ständige Fluktuation zu erzeugen, permanente Abwandlungen, die um eine zentrale Idee kreisen. Vor allem bei großen Datenmengen ist das extrem hilfreich, um die Übersicht zu bewahren und sich nicht in diesen Details zu verlieren.

Darüber hinaus habe ich eine Vorliebe für künstliche Computerstimmen, die in vielen meiner Kompositionen zum Einsatz kommen. Ihr emotional-distanzierter Ausdruck passt auch auf einer konzeptuellen Ebene gut. Und mit Hilfe von Auto-Tune, also Programmen für automatische Tonhöhenkorrekturen, kann die Stimme dann sogar singen!

Wie Iannis Xenakis, Conlon Nancarrow oder Tony Conrad hast du einen Hintergrund in der Mathematik. Inwiefern beeinflusst das naturwissenschaftliche Denken deine kompositorische Arbeit? Lassen sich Interdependenzen festmachen?

Matthias Kranebitter: Die Mathematik spielt in meinem Komponieren eine zentrale Rolle, da ich sowohl die Elektronik wie auch das musikalische Material für die Instrumentalpartien in meinen Stücken mit Algorithmen generiere. Besonders im Anfangsprozess eines Stückes oder bei der Materialsuche, beim Herumexperimentieren, kommt oft Inspiration aus mathematischen Modellen – z. B. auszutesten, wie verschiedene Wahrscheinlichkeitsverteilungen in dichten Texturen klingen oder welche Funktionskurven bei der Steuerung welcher musikalischer Parameter klanglich attraktive Resultate liefern. Da kannst du heutzutage mit jedem Computer extrem schnell Resultate errechnen und diese dann auch ruhigen Gewissens schnell wieder verwerfen. Schlussendlich zählt das klangliche Resultat, die Mathematik ist bei mir eigentlich stets Werkzeug und nicht Konzept. Sie hilft sehr, das Chaos zu steuern, und vor allem bei großen Klangmassen sind stochastische Operationen nicht wegzudenken.

„[M]ein Interesse besteht in der Störung an sich, oder der Verstörung.”

Matthias Kranebitter (c) Igor Ripak
Matthias Kranebitter (c) Igor Ripak

Wie viel Zerstörungswut ist notwendig, um Neues zu schaffen? Ist Wut der falsche Ausdruck?

Matthias Kranebitter: Von Wut würde ich hier gar nicht sprechen, auch nicht von Zerstörung. Mein Interesse besteht in der Störung an sich – oder der Verstörung. Das halte ich für notwendig in der Kunst. Es geht mir schon immer darum, Grenzen zu überwinden, das bedeutet ja auch zu reflektieren, was Musik überhaupt momentan ist und was außerhalb noch möglich wäre. In gewisser Weise ist, Neues zu schaffen, ein aggressiver Akt gegen die Gewohnheit und das Bestätigte. Das soll aber nicht heißen, dass sich meine Musik nur als Gegenposition definiert, sondern vielmehr als der ständige Versuch einer Befreiung, die „Öffnung auf neue Felder”, ein konstruktiver Nihilismus, wie ihn Jean Dubuffet, der Vater der Art Brut, in seinen Texten beschreibt.

Du hast schon öfter deine Faszination an der Art Brut erwähnt. Was genau interessiert dich daran?

Matthias Kranebitter: Die Malerei von Dubuffet finde ich sehr inspirierend. In der Serie „nihilistic studies” beziehe ich mich explizit auf seine Theorie und Schriften. Da geht es immer auch um den Versuch einer kulturellen Befreiung, um den vorhin erwähnten konstruktiven Nihilismus. Viele seiner Bilder − wie in der Art Brut im Allgemeinen − weisen diese dichten, heterogenen und überladenen Texturen auf, eine Art „phantastisches Rauschen”, das ich auch oft in meinen Stücken beabsichtige. Auch sehe ich Zusammenhänge zwischen der Art Brut und dem eben genannten Konzept der Karnevalisierung bei Michail Bachtin. Und in gewisser Weise sehe ich mich und meine Arbeit auch als Außenseiter in der akademischen Neue-Musik-Welt.

Und wie kritisch muss ein*e Komponist*in heutzutage sein? Wie fasst du das Verhältnis von Politik und Kunst?

Matthias Kranebitter: Für mich ist Musik als Kunstform immer eine Reflexion auf unsere Gesellschaft und in diesem Sinne politisch – oder vielleicht besser präpolitisch. Kunst soll Fragen aufwerfen, soll verwirren und beunruhigen, Politik hingegen sucht nach Antworten. Die liefert die Kunst nicht, sonst wäre sie ja didaktisch oder propagandistisch. Da denke ich zum Beispiel an Christoph Schlingensief und daran, wie er mit seinen Arbeiten gesellschaftliche Wunden offenlegte, dabei aber natürlich keine Heilrezepte gab. Er öffnete Räume, in denen sich allerhand ereignen kann. Dieses Öffnen kann relevant für einen Heilungsprozess sein.

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Da Kunst meiner Meinung nach die Sinne herausfordern sollte, dadurch Bewusstsein schaffen bzw. erweitern sollte und zu Mündigkeit, Selbsterfahrung und Zweifel anregen, lässt sich solche Kunst natürlich nicht mit autoritären oder faschistischen Strömungen vereinen. In diesem Sinne ergreift man als Künstler*in vielleicht unwillentlich tatsächlich Partei, was aber wohl eher dem Umstand geschuldet ist, dass der heute wiederaufkeimende Faschismus eigentlich gar keine Politik ist. Es findet sich darin kein politischer Diskurs, und es lässt sich mit dieser „politischen Überzeugung” weder verhandeln, noch lassen sich Kompromisse eingehen.

Wie wir wissen, ist es dir nicht daran gelegen, leicht konsumierbare Klangwelten zu schaffen. Welche Rolle spielt die Jouissance, das Lustvolle in deiner Arbeit, wenn das Wohlgefällige schon keinen Platz hat?

Matthias Kranebitter: Geistige Herausforderung kann ich als sehr lustvoll empfinden und genießen, ähnlich wie es bei der physischen Herausforderung im Sport ist. Musikalische Kunst soll ja auch nicht zum passiven Konsum einladen, um darin sein Selbst zu vergessen und „abzuschalten”, sondern zur Wachsamkeit anregen, und diese geistige Wachsamkeit erlaubt vielleicht einen noch viel größeren, weil aktiven Genuss, als eine oberflächliche Emotionalisierung erreichen könnte. Ich persönlich empfinde jedenfalls Lust an allen drei Aspekten meiner Arbeit: beim Komponieren, Musizieren und auch beim Zuhören.

Das Wohlgefällige verbinde ich mit Gewohnheit, mit der vielzitierten Komfortzone, und die steht für mich eigentlich im Widerspruch zur Lust, die ja eigentlich einem Streben, also einem Entwicklungsprinzip zugrunde liegt.

Digitale Elektronik ist aus deinem Œuvre nicht wegzudenken. Lässt sich für ausschließlich klassisches Instrumentarium eigentlich noch relevant komponieren?

Matthias Kranebitter: Für rein klassisches Instrumentarium habe ich tatsächlich schon viele Jahre nicht mehr komponiert. Allerdings besteht mein nächster Auftrag für das Trio Catch für die Elbphilharmonie 2021 aus einer Komposition für Bassklarinette, Violoncello und Klavier. Wie ich das angehe, weiß ich noch nicht.

Black Page Orchestra (c) Igor Ripak
Black Page Orchestra (c) Igor Ripak

Das Sammeln und neu zueinander Fügen spielen in deiner Arbeit, wie bereits erwähnt, eine wesentliche Rolle. In den „Pitch Studies”, den „Harpsicord Pieces” oder „Ghost Box Music” analysierst und ordnest du die Frequenzspektren bzw. -muster. In deiner aktuellen Auftragsarbeit „Encyclopedia of Pitch and Deviation” für Wien Modern und das Klangforum Wien verfolgst du, wie der Titel schon verrät, einen enzyklopädischen Ansatz und folgst dabei scheinbar einem strikten Ordnungsprinzip, hinter dem sich ein forschender, investigativer Ansatz verbirgt. Lässt sich auf eine Erkenntnis hoffen?

Matthias Kranebitter: Wie gesagt finde ich konzeptuelle Hintergründe für mein kompositorisches Tun wesentlich und liebe es auch, mit scheinbar analytischen Methoden im Stück selbst zu spielen und eine Aura des Wissenschaftlichen vorzutäuschen.

„Ghost Box Music” ist während meiner Künstlerresidenz des IZZM Kärnten im Tonhof in Maria Saal entstanden. In diesem mittelalterlichen Gebäude, das früher ein Landesgericht war, kam es zu einigen Hexenprozessen. Ich habe mich dort mit einem Analogradio durch den ganzen Radiofrequenzbereich gezappt und dieses Rauschen aufgenommen. Daraus habe ich dann von der Google-Diktierfunktion Wörter und ganze Sätze transkribieren lassen, die im Radiorauschen so gar nicht enthalten waren. Es kam also zur vorhin beschriebene „Clustering Illusion”, hier aber interpretiert von einer künstlichen Intelligenz. Diesen Text habe ich nun einerseits von Algorithmen in spektrale Akkordfolgen übersetzen lassen, in Musik überführt und so gleichsam zum Klingen gebracht. Andererseits werden der Text und die Entstehungsgeschichte der Komposition von einer künstlichen Stimme wiedergegeben. Es war interessant zu beobachten, dass einige Textresultate sehr gut in Zusammenhang mit der Geschichte des Hauses gebracht werden konnten. Ob das nun Geisterstimmen waren oder der allwissende Google-Algorithmus, der mir vielleicht aufgrund meiner Standortdaten und vorangegangenen Suchmaschineneinträge passende Wörter aus dem Rauschen geliefert hat, bleibt ungeklärt. Beides ist unheimlich. Das ganze Stück war schlussendlich mehr Regie- als Komponierarbeit. Musikalische Entscheidungen habe ich darin nur sehr wenige getroffen. Es ist also alles quasi von Geisterhand determiniert.

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Auch in der „Encyclopedia” gibt es die außermusikalische Erzählebene eines virtuellen Sprechers, der durch das Stück führt. Das Stück hat in gewisser Weise Dokumentarfilmcharakter. Ich habe zum Thema Tonhöhen bzw. Frequenzen sehr viel recherchiert und Informationen zusammengetragen. Dieses angehäufte, unnötige Wissen möchte ich in einer poetischen Form mit dem Publikum teilen. Ich für meinen Teil finde es sehr unterhaltsam und habe im Nachhinein das Gefühl, selbst etwas über Insektenflügelschlaggeschwindigkeiten, Planetenbahnenobertöne oder Urananreicherung gelernt zu haben.

Die Liste gilt ja sowieso als die Erzählform des Spätkapitalismus schlechthin, in dem die Welt in Rankings und Top10s erklärt und begriffen wird.”

Matthias Kranebitter (c) Igor Ripak
Matthias Kranebitter (c) Igor Ripak

Es rückt also die Klanglichkeit in den Vordergrund, gleichzeitig geht es aber auch um die Einhaltung einer strengen Form.

Matthias Kranebitter: In den zwei genannten Stücken steht besonders die Werkform in meinem Interesse. Selbst wenn sich meine Sammlerleidenschaft direkt auf Klänge bezieht, wie beispielsweise in „pitch study No1/contra violin”, einer Anhäufung völlig unterschiedlichster Soundsamples, die aber alle eine gemeinsame Tonhöhe haben, wird diese Ansammlung in ihrer Präsentation als Auflistung für das Stück formbildend. Die Liste gilt sowieso als die Erzählform des Spätkapitalismus schlechthin, in dem die Welt in Rankings und Top10s erklärt und begriffen wird.

Du hast bereits mit dem Klangforum gearbeitet. Wie ist das im Fall von „Encyclopedia of Pitch and Deviation” gewesen, v. a. in einer Zeit, in der Probenarbeiten nicht so leicht umsetzbar sind? Inwiefern ist es eine Komposition für dieses Ensemble, inwiefern autonom davon?

Matthias Kranebitter: Bei der Auswahl der Besetzung, die mir ja völlig frei stand, hatte ich schon einige der Musiker*innen im Hinterkopf, mit denen ich wieder sehr gerne zusammenarbeiten wollte. So gesehen ist es wirklich für das Klangforum geschrieben, wobei ich mir natürlich in meiner Klangsprache und Kompositionsart treu geblieben bin. Aber auch das ist sicher im Interesse des Ensembles, dessen Mitglieder ich als überaus respektvoll und offen kennengelernt habe. Ich weiß natürlich über die Stärken der Musiker*innen Bescheid und was gut funktionieren wird und auch, wo ich selbst am meisten von deren Erfahrung lernen und profitieren kann.

Black Page Orchestra (c) Igor Ripak
Black Page Orchestra (c) Igor Ripak

2014 hast du das Black Page Orchestra gegründet, dem du seitdem als künstlerischer Leiter vorstehst. Welche Motivation lag dem zu Grunde?

Matthias Kranebitter: Ich denke, dass eigentlich jede*r Komponist*in sein eigenes Ensemble gründen sollte, um kompositorisch möglichst unabhängig zu sein. Wenn du kein eigenes Ensemble hast, musst du für die Aufführung deiner Stücke oftmals Kompromisse eingehen, um jemand anderem zu gefallen, und das ist nicht immer vorteilhaft. Auch die kuratorische Arbeit für die Konzerte unseres Ensembles liebe ich sehr. Ich lerne dabei extrem viel kennen, vor allem, was die jüngere Generation betrifft.

Nach Beendigung meines Studiums hatte ich das Gefühl, dass in der österreichischen Musiklandschaft eine ziemliche Lücke klafft und sehr viel interessante Musik junger Komponist*innen in Österreich noch gar nicht zu hören war. Dafür ist selbstverständlich niemand anderer verantwortlich zu machen als unsere Generation selbst. So gesehen war die Gründung eines eigenen Klangkörpers ästhetische Notwendigkeit.

Im selben Jahr hast du auch das Unsafe+Sounds Festival begründet, mit dem du diese Mission weiterführst. Wie vereinst du diese Funktionen? 

Matthias Kranebitter: Das Festival ist gleichzeitig mit dem Ensemble entstanden, als Plattform und zur Vervollständigung der Kette Komponist*in – Ensemble – Veranstalter*in. Mit dem Festival wollten wir vor allem raus aus dem akademischen Neue-Musik-Umfeld, und das ist uns, denke ich, sehr gut gelungen. Dass sowohl Ensemble wie auch Festival im Jahr 2020 noch existieren, habe ich bei deren Gründung nicht geahnt, liegt das sicher auch an meiner großartigen Kollegin.

Herzlichen Dank für das Gespräch! 

*Matthias Kranebitter ist mit dem Erste Bank Kompositionspreis 2020 ausgezeichnet. Seine Komposition wird vom Klangforum Wien gespielt. Die Uraufführung findet im Rahmen von Wien Modern am 18. November statt.

Termine:
17. – 20. Oktober 2020 – „Amerika oder die Infektion” – F23, Sirene Operntheater
22. Oktober 2020 – Gläserner Saal, Musikverein
18. November 2020 – „Encyclopedia of Pitch and Deviation”, Klangforum Wien, Mozartsaal, Konzerthaus – Wien Modern
23. Februar 2021 – Trio Catch, Elbphilharmonie, Hamburg

Links:
Matthias Kranebitter (Website)
Black Page Orchestra (Website)
Unsafe+Sounds Festival (Facebook)
Wien Modern (Website)