„Ich habe diese Öffnung als befreiend empfunden” – Der Kulturwissenschaftler CHRISTIAN ELSTER im mica-Interview

Der Kulturwissenschaftler Christian Elster hat ein Buch über das Phänomen des Musiksammelns geschrieben. Mit Markus Deisenberger sprach er über die sinnliche Seite des Sammelns und das Sammeln in der digitalen Zeit.

Sie haben an den Universitäten Hamburg und Zürich ethnografisch erforscht, wie Menschen ihre Musik sammeln, ordnen und archivieren. Wie kommt man zu diesem Thema? 

Christian Elster: Ich bin seit März Postdoc am Institut für Europäische Ethnologie in Wien, habe vorher empirische Kulturwissenschaft studiert, mich aber schon immer für Musik interessiert – mit neun wurde ich großer Queen-Fan –, aber auch für Kultur und Gesellschaft im weitesten Sinne. Zum Studieren nach Freiburg ging ich vornehmlich, weil es dort ein Punk-Label gab, das schon damals fast ausschließlich mit Schallplatten handelte, was ich gut fand. Dort habe ich angeheuert und mich zugleich an der Uni eingeschrieben. Von der Germanistik, mit der ich anfing, habe ich schnell zur Volkskunde gewechselt, wie es damals noch hieß, bevor man es an vielen Unis in Europäische Ethnologie umbenannte. Neben dem Studium habe ich viel Musik gemacht, gesammelt und aufgelegt, hatte eine Band, kurzzeitig sogar ein Label. Irgendwann entschloss ich mich dann, doch mal das Studium fertig zu machen. So habe ich zunehmend auch akademische Perspektiven auf popkulturelle Phänomene eingenommen.

Was wäre die Alternative gewesen? 

Christian Elster: Im Raum stand auch, eine kaufmännische Ausbildung zu machen und Schallplattenhändler zu werden, aber das kam mir zu kurz gedacht vor. In diese Zeit des mit-dem-Studium-Fertigwerdens fiel dann das erste große Vinyl-Revival, was mich sehr irritierte, denn in der Musik, in der ich mich bewegte – im Garagerock, Soul und Punk -, hat es Vinyl immer gegeben. Diese Irritation war der Ausgangspunkt, um darüber zu forschen. Ich habe mich gefragt: Warum kommt die Schallplatte gerade jetzt angeblich zurück? Und: Warum war sie in gewissen Kreisen, wie etwa dem meinen, nie wirklich weg? In meiner Magisterarbeit ging es um die subkulturelle Bedeutung der Schallplatte. Mein damaliger Professor fragte mich dann, ob ich nicht Lust hätte, zu promovieren. Hatte ich, weil das Thema aus meiner Sicht noch eine Menge Potenzial hatte, um größer darüber nachzudenken. 

Warum ist die Schallplatte in manchen Kreisen verschwunden? Weil man das Versprechen der Musikindustrie, die CD sei in allen Belangen besser, glaubte? 

Christian Elster: Das war sicher von der Industrie so gewollt, ja. Viele Leute haben ihre Schallplattensammlungen verkauft und alles, was sie auf Schallplatte hatten, noch einmal auf CD nachgekauft.

Was umgekehrt heute wieder geschieht. Viele kaufen sich jetzt das, was sie in den 1990ern auf CD anschafften, wieder auf Vinyl nach. 

Christian Elster: Ganz genau. Das, was in den 1990er Jahren versetzt wurde, wird jetzt wieder teuer auf Vinyl nachgekauft. Es gab Kreise, unter anderem die Hardcore- und Punkszene, in der vor allem deshalb weiter Schallplatten produziert wurden, weil es auf einmal relativ billig war. Es gab Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre plötzlich freie Kapazitäten in Presswerken. Viele fingen, als die CD ihren Siegeszug antrat, an, Platten zu machen. Oft mit selbst gestalteten Siebdruck-Covers, was auch den geringen Kosten geschuldet war, aber zu einer ganz eigenen Ästhetik führte. Allerdings hat sich das dann auch schnell konsolidiert. Heute ist es sehr viel teurer eine Platte zu machen als eine CD. Aber in dieser Zeit wurde das zu einem subkulturellen Stil, so meine These. Der Klang ist natürlich auch ein anderer, wobei man lange und ausführlich darüber diskutieren kann, inwiefern und wann der tatsächlich besser ist. Natürlich gibt es noch andere Faktoren, die Schallplatten attraktiv machen: das große Cover, die Haptik etc.

Ist der Plattensammler, so wie zum Beispiel ich einer bin, eine sterbende Gattung? 

Christian Elster: Ich glaube nicht. Aber die Praxis des Sammelns differenziert sich aus. Sammeln Sie denn ausschließlich Platten oder hören Sie auch Musik über Spotify, Youtube etc.?

“Die Sammlung wird so zum Backup.”

Ich sammle leidenschaftlich Vinyl, beobachte aber, dass ich zunehmend, weil sich meine Hörgewohnheiten ins Mobile verlagern, MP3-Files konsumiere. Das führt dazu, dass ich Platten im Regal stehen habe, die ich noch nie zu Hause gehört habe, sondern immer nur portabel auf einem MP3-Player. Ist es ein Zeichen der Zeit, dass wir unser Konsumverhalten ändern, ohne es letztlich zu wollen? 

Christian Elster: Was Sie beschreiben ist oft zu beobachten. Ich würde sagen, diese Veränderungen im Umgang mit Musik gehen mit einer Medientransformation einher, die so umfassend ist, dass etwa selbst die größten Kritiker von Spotify und ähnlichen Angeboten irgendwann nicht mehr anders können, als sie zu nutzen. Das widerspricht aber nicht der Praxis, weiterhin Schallplatten zu kaufen, auch wenn sich dadurch zweifelsohne ihre Bedeutung ändert. Die Platte hat immer noch die Funktion Musik zu speichern, ist also Tonträger, ich kann aber auch den Download-Code nutzen, um an die Inhalte heranzukommen. Umgekehrt hören viele Leute Spotify und kaufen sich dann das auf Platte, was ihnen wirklich gefällt. Die Sammlung wird so zum Backup. Es ist eben nicht so, dass die Medien einander ablösen, sobald ein neues aufkommt, sondern sie bestehen auf unterschiedlichen Ebenen und in variierten Größenordnungen parallel weiter. Dadurch gibt es Bedeutungsverschiebungen. Die althergebrachte Idee vom Sammeln, über die beispielsweise Walter Benjamin und Jean Baudrillard viel geschrieben haben, die in Sammelgegenständen immer etwas sehr Exklusives, Einzigartiges sahen, gilt in digitalen Umgebungen so nicht mehr. Sammeln, so meine These, funktioniert hier intuitiver und ist etwas, das im digitalen Wust Orientierung schaffen kann. Wenn jemand in einem Streamingportal eine Playlist anlegt, sammelt er oder sie zwar keine Gegenstände, aber kuratiert auf ganz persönliche Weise eine fremde Sammlung, wenn man so will. Also: Das Sammeln erfährt Transformationen, aber ich würde nicht sagen, dass der Sammler deshalb ausstirbt.

Wie sieht es mit echtem Wissen aus, der Kennerschaft, die einen früher in Plattenläden wohltuend umfing? Hat die auch ausgedient? Sind wir alle nur noch Konsumenten? 

Christian Elster: Eine interessante Frage. In vielen Kreisen und für viele Musikfans ist diese Kennerschaft nach wie vor von großer Bedeutung. Connaisseurhaftes Wissen ist allgemein ein zentraler Aspekt, wenn es um idealtypische Vorstellungen von Sammlern geht, die übrigens in aller Regel männlich imaginiert werden. Gleichzeitig hat der Pop-Nerd, wie man ihn aus „High Fidelity” kennt und der ja damals schon in gewissem Sinne eine tragische Figur war, weiter an kulturellem Kapital eingebüßt, sicher auch weil der Zugang zur Musik so viel einfacher geworden ist. Heute zeugt es eher von kulturellem Kapital, wenn man sich über mehrere Genres hinweg auskennt, wenn man weiß, was los ist…

Mir ist im Zuge meiner Forschung aufgefallen, dass sich viele Leute, die sehr große Sammlungen haben, selbst nicht als Sammler bezeichnen. Das hat auch damit zu tun, dass Sammeln häufig als etwas Spleeniges oder Neurotisches wahrgenommen wird. In der klassischen psychoanalytischen Literatur zum Beispiel sind die Sammler oft die mit der Analneurose, die zwanghaft agieren und sich nicht unter Kontrolle haben. Solches Wissen, ganz unabhängig davon, ob da nun was dran ist oder nicht, ist in der Welt und beeinflusst Menschen. Ein Interview mit einem Sammler, der um die 6.000 Schallplatten und noch mal so viel CDs hat, ist mir in der Hinsicht besonders stark in Erinnerung geblieben. Er fragte mich immer wieder, ob ich denn auch schon mit ‚richtigen Sammlern‘ gesprochen hätte. Wenn wir über Musik sprachen, war alles gut. Da konnten wir auf Augenhöhe austauschen. Aber sobald ich ihm eine Frage stellte, die auf sein Sammelverhalten abzielte und zu sehr nach Wissenschaft klang, machte er total dicht und wollte plötzlich auch nicht mehr als Sammler adressiert werden. Ich denke, er hatte Angst, ich könnte ihn in meiner Analyse als Freak abstempeln, der nicht von seiner Leidenschaft für Popmusik lassen kann. Dieses Beispiel zeigt, dass es stereotype Vorstellungen davon gibt, wie ein Sammler zu sein hat. Andererseits belegt es, dass Musiksammeln viel mit Identität zu tun hat. Das Alter ist dabei ein wichtiger Faktor. In der In-Crowd bleibt sammeln und das dazugehörige Wissen cool. Von außen betrachtet kann es auch als kauzig erscheinen. Es gibt ja diesen Diskurs über ‚Berufsjugendliche‘, die es bis Dreißig und auch später nicht schaffen, sich von der Popwelt loszusagen, um sich endlich dem wirklichen Berufsleben zu widmen. Auch wenn Pop etwas ist, das Leute heute bis in ihr Alter tragen, weil sie damit aufgewachsen sind, gibt es Leute, die damit kämpfen. Das Wissen, das mit dem Sammeln einhergeht und das Sie als wohltuend beschrieben haben, ist also immer relativ und braucht den richtigen Kontext, um seinen Wert zu entfalten. Dieser Kontext hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten sicherlich gewandelt. Auch deshalb gibt es Menschen, die unter ihrer Sammelleidenschaft leiden – manchmal, weil ihnen sie Sammlung das eigene Älterwerden vor Augen führt, manchmal auch, weil aufgrund der Sammlung der Wohnraum zu eng wird oder sogar die Statik gefährdet ist.

Hat die Spotify-Playlist die Plattensammlung als Gesprächsstoff und Identifikationsgeber vollends abgelöst? Kann sie diese Funktion überhaupt übernehmen? 

Christian Elster: Das kommt jetzt drauf an, ob sie mich als Kulturwissenschaftler oder Musikfan fragen. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus würde ich sagen: Nein. Auf Spotify weiß ich oft gar nicht, was ich suchen soll. Umgang mit Musik hat für mich viel mit Visuellem, mit Materialität und Räumlichkeit zu tun. Im eigenen Plattenregal oder im Laden kann ich auf Sachen stoßen, die dann plötzlich ungeahnte Bedeutungs- und Verweisketten öffnen. Die Platte, die ich rausziehe, erinnert mich an ein anderes Album oder an ein besonderes Ereignis, eine Person oder so. Aber ich habe mit vielen Menschen Gespräche geführt, die auch in digitalen Umgebungen ähnliche und für sie sehr sinnliche Erlebnisse hatten. Man muss da besonders als Kulturwissenschaftler aufpassen, nicht diesen wiederkehrenden kulturpessimistischen und technikeuphorischen Diskursen aufzusitzen, die es mit der Etablierung neuer Medien immer gibt. Zurzeit Walter Benjamins, als die Film- und Tonaufnahme aufkam, gab es ganz große Kritik daran, dass dadurch das, heute würde man sagen ‚Live-Erlebnis‘, verlorengehe. Die Musik habe auf Platte keine Aura, hieß es. Ähnliche Diskussionen hatten wir, als die CD auf den Markt kam oder als im Zuge des Streamings über das Konzept der Kultur-Flatrate diskutiert wurde. Es transformieren sich Umgangs- und Verhaltensweisen, deshalb ist aber nicht alles gleich schlechter.

Bild (c) Christian Elster

„Die Genregrenzen erweitern sich. Die Fluchtwege mehren sich” haben Sie in einem Interview mit dem Spiegel gesagt. Gleichzeitig nimmt die Funktion von Musik als Identitätsstifter ab. Hängt das miteinander zusammen, indem die Verbreiterung die konzentrierte Identifikation verhindert? 

Christian Elster: Möglichweise ist das so. Mir fällt es auch hier immer schwer, meine eigene persönliche biografische Entwicklung von der wissenschaftlichen Betrachtung loszumachen. Gleichzeitig ist mir während der Forschung immer wieder bewusst geworden, dass meine eigenen Erfahrungen gar nicht so individuell sind, wie ich anfangs vielleicht dachte, sondern dass sie, im Gegenteil, ziemlich typisch sind. Dass man sich in einem bestimmten Alter auf eine ganz konkrete Sache konzentriert und darin auch aufgeht, war und ist gerade in der Fanforschung oft zu beobachten und das können viele nachvollziehen, die sich für Musik interessieren. Dass man sich irgendwann öffnet, weil einem ein bestimmtes Genre auf Dauer zu langweilig wird oder einem die teilweise harten Szene-Regeln, was man gut finden darf und was nicht, auf den Nerv gehen, gab es damals und gibt es heute noch. Persönlich habe ich diese Öffnung als sehr befreiend empfunden. Gerade die ästhetischen Codes in der Garagenpunk-Szene, was man tragen darf und was nicht, welche Musik man hören darf und welche nicht, habe ich irgendwann als regelrechte Diktatur empfunden. Sich davon zu befreien und fortan das zu hören, was man will, war und ist für mich persönlich etwas sehr Befreiendes. Andererseits ist der Umstand, dass Popmusik für viele junge Menschen nicht mehr die Bedeutung hat, die sie noch in den 1980er oder 1990er Jahren hatte, viel diskutiert und teils evident.

Führt dieses Nebeneinander vieler verschiedener Genres zu einer Abnahme der Begeisterungsfähigkeit?

Christian Elster: Ich glaube nicht. Mit der Digitalisierung geht in vielerlei Hinsicht eine Verlusterzählung einher. Darüber, dass Gegenstände wie Schallplatten keine so große Rolle mehr spielen. Darüber, dass Musik keinen Wert mehr habe. Darüber, dass das befriedigende Gefühl abnehme, etwas lange erfolglos Gesuchtes, endlich gefunden zu haben und so weiter. Für all diese Klagen gibt es gute Gründe und diese nachzuvollziehen, ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Gleichzeitig haben sich die Möglichkeiten, auf verschiedenste Musik aus aller Welt zuzugreifen, enorm vergrößert. Darin steckt ein riesiges Potential, Begeisterung zu entfachen.

Das Geheimnisvolle hat aber doch abgenommen. Früher gab es keine sozialen Medien, die einen bis in die Garderobe mitnahmen. Es gab kein Youtube, das einem sofort zeigte, wie die Band aussieht und wie sie live klingt. Der Mangel an Information war, wenn man so will, verantwortlich für eine geheimnisvolle Aura. 

Christian Elster: Ja, da ist sicherlich was dran und ich gebe Ihnen Recht: Die Tiefe der Auseinandersetzung, die dadurch entsteht, dass ich mit meinem ersparten Geld in den Plattenladen gehe und mir diese eine Single oder dieses eine Album kaufe und dann ein halbes Jahr nichts anderes höre, gibt es nicht vermutlich nicht mehr. Aber auch ich kenne sie nur als Erzählung aus der Generation meiner Eltern. Heute stehen wir in den meisten Bereichen des Lebens einer postmodernen Vielfalt gegenüber. Das verzweifelte Gefühl des Sammlers, nie alles haben zu können, ist in diesem Zusammenhang ein viel drängenderes geworden, weil der Einblick, was es denn da draußen noch alles gibt, ein viel größerer geworden ist. Wobei dieser immense Überfluss – das haben zumindest einige Interviewpartner beschrieben – auch befreiend sein kann, weil man sich einer derart großen Überfülle gegenübersieht, dass der Ehrgeiz, die ganze Welt der Popkultur zu ersammeln – was sicher immer schon ein utopischer Anspruch gewesen ist – erst gar nicht aufkommt. Sammeln kann dadurch ungezwungener werden, individueller, weniger kanonisch.

“Aber viele, die sich sehr laut darüber beschweren, zu wenig abzukriegen, hätten auch in diesen Zeiten nicht von ihrer Musik leben können.”

Sie haben in Ihrem Interview mit dem Spiegel über das Ende von Itunes gesprochen. Apple hat der Industrie als Hersteller von Hardware lange Zeit die Bedingungen diktiert. Plötzlich steigt man aus. Dieses Gefühl, der Willkür eines oder mehrerer Konzerne ausgeliefert zu sein – ist das neu oder waren wir den Konzernen letztlich immer schon ausgeliefert? 

Christian Elster: Auch wenn Popkultur sehr widerständige Facetten hat, ist sie, so wie ich sie in meiner Arbeit verstehe, außerhalb kapitalistischer Strukturen und ohne Medientechnik praktisch nicht denkbar. Musiksammeln lässt sich deshalb immer auch unter ökonomischen und machtspezifischen Aspekten ansehen. Die Monopolbildungen, die sich im Feld digitaler Technologien im Allgemeinen beobachten lassen, sind sicher höchst problematisch. Und wie sich diese Entwicklungen auf Künstler auswirken, ist ein ganz eigenes Thema. Für meine Forschung boten diese Prozesse der letzten Jahre Erkenntnispotenzial, weil sie Zuschreibungen an Technik wie auch Vorstellungen, die Menschen von Besitz und Verfügungsgewalt oder auch vom Wert von Musik haben, offenbaren. Es macht natürlich einen Unterschied, ob Musik in das Eigentum einer Person übergeht, wie beim Kauf einer CD oder Schallplatte, oder ob, wie beim Abo eines Streamingdienstes, lediglich ein Zugriffsrecht auf Zeit erworben wird. Wie das letztlich wahrgenommen wird, ist aber höchst unterschiedlich. Die Platte im Regal, die eine Person mit Unabhängigkeit und Subversion assoziiert, sieht die andere als unnötigen, konservativen Fetisch, der einschränkt. Besonders interessant fand ich das Vorgehen einer jungen Frau, die Musik fast ausschließlich über Spotify hört. Sie unterstützt unbekanntere Künstler, die ihr am Herzen liegen, in dem sie online CDs und Platten von ihnen gekauft, obwohl sie keine Abspielgeräte dafür hat. Das ist wie eine Form von modernem Ablasshandel. Es zeigt wie eine Person mit Widerstreitenden Interessen – Musik immer und überall hören zu können – und ihren moralischen Ansprüchen, Künstler zu unterstützen, umgeht. Eine Lösung struktureller Probleme stellt das aber natürlich nicht dar.

Wann erscheint Ihr Buch und wie wird es heißen? 

Christian Elster: Vermutlich erscheint es Anfang nächsten Jahres. Der Arbeitstitel lautet: “Pop-Musik Sammeln. Zehn ethnographische Tracks”. Der Text ist in Form von Tracks geschrieben, Kurzgeschichten, die das Thema des Musiksammelns aus zehn verschiedenen Perspektiven beleuchten. Es gibt zum Beispiel ein Kapitel über das Stöbern, das sich mit der sinnlichen Seite des Sammelns auseinandersetzt, einen Track zur Schallplatte und zum Ipod, die sich mit der Materialität, Technik und ökonomischen Aspekten des Sammelns befassen und Tracks, die Praktiken wie das Ordnen und Aussortieren in den Blick nehmen. Das sind alles verschiedene Spuren, auf ich im Zuge meiner Beobachtungen, Interviews und Artefakt-Analysen gestoßen bin und die nun auch Eingang in den Text gefunden haben. Die Tracks stehen wie Songs in einer Playlist für sich, es gibt aber auch immer wieder Querverweise, verbindende Aspekte aber eben auch Widersprüche, wie sie in unserem Gespräch immer wieder angeklungen sind.

Das heißt also, Ihr Buch bemüht sich mehr, die Phänomene des Sammelns aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten als eine allgemeingültige Version anzubieten? 

Christian Elster: Ganz genau. Als Ethnograf ist mir daran gelegenen, Komplexität aufzuzeigen und eben nicht vereinfachende Typisierungen vorzunehmen. Ich frage, wie sich Musiksammeln als Alltagspraxis im Einzelnen gestaltet, an welchen Orten es stattfindet, welche Dinge, Diskurse und Praktiken damit in Verbindung stehen und wie Menschen ihrem Handeln Bedeutung verleihen. Eine große Theorie des Sammelns würde dem widersprechen und die empirische Vielfalt glattbügeln. Dennoch lassen sich Entwicklungslinien nachzeichnen und Trends ausmachen, die ich in einem Hidden Track am Ende des Buchs zusammenführe. Es zeigt sich dabei, dass Sammeln, allen medientechnischen Transformationen zum Trotz, weiterhin zum Selbstverständnis und zur Selbstwahrnehmung vieler Menschen beiträgt. Ich plädiere dafür, Sammeln als eine Alltagskompetenz zu verstehen, durch die Menschen Ordnungen und sinnstiftende Wegmarken in analogen und in digitalen Umgebungen herstellen.

Markus Deisenberger

Link:
Institut für Europäische Ethnologie