„Ich bin ständig auf der Kippe zwischen Verstehen und Nichtverstehen.“ – KATHARINA ERNST im mica-Interview

Rhythmisches Schichten, performatives Spielen und wildes Weiterdenken: Die Schlagzeugerin und bildende Künstlerin KATHARINA ERNST erhält in diesem Jahr das Staatsstipendium für Komposition des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport und ist Artist in Residence beim Jazzfestival Saalfelden. Im Gespräch mit Sylvia Wendrock sprach sie über hohe Ansprüche, das Vermitteln zwischen Kopf und Körper und über das Abrackern, dem immer auch etwas Lustvolles innewohnen sollte. Und sie bringt damit weitere Aspekte unserer Serie „Crossways in Contemporary Music“.

Wie komponiert ein Schlagzeug spielender und visuell denkender Mensch? In dem Werkkomplex „a : z (ausdehnen : zusammenziehen)“ versuchst du ja, musikalische Strukturen durch Bewegung zu visualisieren.

Katharina Ernst vor blauem Hintergrund
Katharina Ernst (c) Michael Breyer

Katharina Ernst: Ich interessiere mich für sehr viele verschiedene Sachen, beispielsweise das Schlagzeugspielen, Malerei, Zeichnen und Choreografie, und ich denke, lese, wirke folglich viel in diesen Räumen. Fasziniert mich ein Thema, umkreise ich es dann, wie momentan eine zyklische Arbeit, versuche Rhythmus als Zyklus, eine Komposition nicht linear zu denken, um immer wieder am Anfang anzukommen. Mein abstrakter Wunsch sucht sich also einen Weg, der dann vielleicht zu einer musikalischen Komposition führt, wenn dem Thema innenliegende Dinge beispielsweise gut in der Musik aufgehoben wären. Bei „ausdehnen : zusammenziehen“ will ich eher musikalische Strukturen visualisieren und dem Körper dabei zuschauen, wie er Musik vollzieht. Bezogen auf das Zyklische stellt sich etwa die Frage, ob der Interpret bzw. die Interpretin einen musikalischen Zyklus spielen würde, während er oder sie an einem Ort stehenbleibt. Oder würde man mit diesem Körper auch in irgendeiner Form in eine zyklische Bewegung einbinden? Da bestehen sehr viele Möglichkeiten. Zusätzlich gibt es Dinge, die ihre eigene Form annehmen, also von mir gar nicht zu entscheiden sind. Dehne ich beispielsweise einen Groove in den Raum aus, sodass die Schritte von der einen Trommel zur anderen das Metrum, also etwa Achtelnoten, bilden, sind möglicherweise die Wege zwischen den Trommeln unterschiedlich schnell zurückzulegen, wenn die musikalischen Räume zwischen den Trommeln verschiedene Längen haben. Es sind solche Übersetzungsprozesse, um die es mir beim Komponieren geht. Allerdings nicht zu deren Illustration, sondern eher von abstrakten Vorstellungen ausgehend. 

Dein Mittel ist doch, die Zeit zu strukturieren, wenn du mittels Polymetrik Zeitportionen übereinander lagerst. Visuelle Kunst arbeitet auch oft mit Überlagerungen verschiedener Bildlaufgeschwindigkeiten. Deine Art der Visualisierung geht aber eher in den Raum, oder?

Katharina Ernst: Die Antwort ist meist so ALLES. Mir ist es am liebsten, wenn ich ästhetisch zu einem Resultat komme, das mir gefällt oder mich irgendwie interessiert. Viele Zeichnungen fertige ich an, um zu verstehen, und bin fasziniert davon, wie sich Polyrhythmik darstellt, nämlich immer als Symmetrie: Teilt man gleiche Zeit- oder Raumabschnitte untereinander in verschieden lange Sequenzen und überlagert diese miteinander, ergibt sich immer eine symmetrische Struktur. Das hört nicht auf, mich zu beeindrucken. Und mit Schlagzeug abgebildet interessiert sie mich viel mehr als mit Bleistift auf Papier. Die viel schwierigere Umsetzung bildet für mich außerdem einen Anreiz. Außerdem bricht es – meine eigenen – Gewohnheiten, es durchkreuzt quasi das, woran sich ein Körper gewöhnen kann. Bei der Polyrhythmik laufen viele dieser Rhythmen intentional gleichzeitig ab, was einen in eine neue, andere Körperlichkeit bringt. Im Körper gibt es ja sowieso viele parallele Abläufe in unterschiedlichen Taktungen, die meisten sind nur eben nicht intentional, also nicht beeinflussbar.

Du denkst beim Komponieren auch performativ, führst deine Stücke selbst auf. 

Katharina Ernst: Die Prämisse für meine Kompositionen ist, dass ich es auf der Bühne spielen können muss. Das ist gleichzeitig mein Rahmen, sonst hätte das Denken kein Ende. Außerdem interessiert mich ja gerade das Verkörperlichen – im Kopf geht wahnsinnig viel, aber spannend ist das manifest Werden dieser Gedanken. 

PHASES. Painting von Katharina Ernst
PHASES. Painting (c) Katharina Ernst

Ich habe den Verdacht, dass dies mein Versuch der Vermittlung zwischen Kopf und Körper ist.“

Birgt das nicht einen unglaublich hohen Anspruch an dich selbst?

Katharina Ernst: Ich habe den Verdacht, dass dies mein Versuch der Vermittlung zwischen Kopf und Körper ist. 

Das Ausführen selbst ist ja an sich schon performativ. Aber du schreibst außerdem auch für Performances, wie in der Zusammenarbeit mit Kate McIntosh.

Katharina Ernst: Bei Kate McIntosh spiele ich tatsächlich nicht mit und gebe nach der Zusammenarbeit mit den Performerinnen alles ab. Von den fünf Darstellerinnen war nur eine Schlagzeugerin. Trotzdem haben alle in beeindruckend kurzer Zeit ein ziemlich hohes Level an Verständnis für diese rhythmische Komplexität bekommen. Für mitteleuropäische Hörende ist das Erfassen von Polyrhythmik meiner Meinung nach gar nicht so schwer machbar, die meisten werden nur nicht herausgefordert. 

Bist du eine Zahlenspielerin?

Katharina Ernst: Mir eröffnen sich immer Zusammenhänge in Zahlenkombinationen und das behagt mir. Polymetrik, so wie ich sie handhabe, muss ich ja konstruieren, aufzeichnen und üben, das fällt mir nicht einfach so zu. Die Perspektive beim Notieren, das Festlegen der Grundeinheiten und das Definieren der Relationen dazu sind total entscheidend. Es entstehen unglaublich komplexe Systeme, in denen ich mich auch immer wieder verirren kann, sodass ich ständig auf der Kippe zwischen Verstehen und Nichtverstehen bleibe. 

Phases Partitur von Katharina Ernst
PHASES. Partitur (c) Katharina Ernst

„Es muss ja einen lustvollen Grund geben, warum man sich so abrackert.“

Wie kannst du mit dieser Komplexität in deinem Hirn umgehen?

Katharina Ernst: Ich mag es, wenn sich mein Hirn DAMIT beschäftigt, weil das immer geht und mein Hirn auch immer Beschäftigung braucht. Beim polymetrischen Spielen muss ich total aufmerksam bleiben, weil ja alle vier Gliedmaßen, Hände und Füße, und auch die verschiedenen Instrumente mit ihren unterschiedlichen Rebounds berücksichtigt werden müssen. Wenn das nicht dort gespielt wird, wo es hingehört, groovt es überhaupt nicht und macht auf einmal auch überhaupt keinen Sinn mehr für mich. Es muss ja einen lustvollen Grund geben, warum man sich so abrackert. Neue Musik ist da ein ganz klarer Bezug für mich, es darf nur nicht lust- und humorlos werden. Meine erste Soloplatte „Extrametric“ („außermetrisch“) klingt vielleicht teilweise erst einmal wie Tanzmusik, der Entstehungsprozess war aber eher der Neuen Musik nahe. 

Kommt es denn dazu, dass deine Kompositionen auch von anderen gespielt werden?

Katharina Ernst: Für das Black Page Orchestra oder Kate McIntosh habe ich konkret komponiert. Es gab aber mittlerweile auch Anfragen, meine Solo-Stücke spielen zu dürfen. Zwei Tänzerinnen wollten beispielsweise unbedingt eine Choreografie dazu gestalten und hatten sich eine Schlagzeugerin gesucht, weil ich keine Zeit hatte. Das hatte ich nicht erwartet. 

Katharina Ernst Schlagzeug
Katharina Ernst (c) Michael Breyer

„Diese Niederschwelligkeit macht es zu einem idealen und wahnsinnig ergiebigen Modell für Gesellschaftsformen.“

Du beschreibst die Polyrhythmik als bewusstseinsförderndes Phänomen, das notwendig ist, um Gleichzeitigkeit abzubilden. Das lässt sich direkt auf einer gesellschaftlichen Ebene lesen: Du hast ein Instrumentarium gefunden, dieses Denken abzubilden. Ist das nicht großartig?

Katharina Ernst: Es ist ein riesiges Geschenk. Das konnte ich damals, als ich mit neun Jahren begonnen habe, zwar noch nicht wissen, aber ich wusste, wie großartig es ist. Das Schlagzeuginstrumentarium ist ja an sich schon überhaupt nicht einzugrenzen, es ist ein Schatz an Modellfähigkeit. Und die Welt ist voller Percussioninstrumente, du kannst aus jedem Stück Müll eines bauen. Dadurch ist es natürlich auch nicht leicht zu kontrollieren. Es ist zusammen mit Stimme das älteste Instrument der Menschheit, auch das am einfachsten nachvollziehbare, jeder kann quasi trommeln. Diese Niederschwelligkeit macht es zu einem idealen und wahnsinnig ergiebigen Modell für Gesellschaftsformen. 

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Hast du der Elektroakustik abgeschworen?

Katharina Ernst: Bei „le temps“ habe ich auf die Reduktion der Mittel gesetzt und das akustische Schlagzeug extrem von elektronischen Mitteln freigeschaufelt. Das ist aber nicht meine Conclusio, sondern einfach eine andere Arbeit, keine lineare Weiterentwicklung von „Extrametric“. „Le temps“ funktioniert auch über ein installatives Setting. Dort gibt es am Anfang weit auseinander stehende Drums, die ich mit eineinhalb Meter langen Mallets spiele. Das Ganze wächst dann zu einem Schlagzeug-Set zusammen, an dem ich für das letzte, das komplexeste Stück sitze. Der Weg dorthin vereint viel und ist Teil der Komposition. Die Musik ist möglicherweise auch ein davon unabhängiges Element.

Das Live-Spielen gehört für dich also unbedingt dazu …

Katharina Ernst: Ich bin schon auch daran interessiert, Formen zu finden, in denen ich nicht auftrete. Das Komponieren für Ensembles, wie zum Beispiel das Black Page Orchestra, war für mich sehr interessant und bereichernd. Dieses Vorgehen ist auch der bildenden Kunst dann wieder so nahe, wo im Studio etwas allein erzeugt wird, das man später betrachten und erfahren kann, wie die eigene Komposition Raum gewinnt. Das lässt mich beständig nach der Form suchen, weil ich ästhetisch interessiert und/oder berührt werden will. Es gibt so viele Möglichkeiten an so vielen Sachen zu arbeiten, aber ich möchte ein sinnlich wertvolles Ergebnis bekommen. Es ist mir wichtig, dass es nicht nur zerebral läuft. Die Wolkenwand für „le temps“ bestand lediglich aus blauer Farbe auf weißer Wand, die Wolken sind eigentlich der negative Raum, das ist ja schon ein Gedankenspiel an sich. „Le temps“ heißt auf Französisch „die Zeit“, aber auch „das Wetter“ – und das Wetter ändert sich die ganze Zeit.

Sylvia Wendrock (Sprechgold)

Termine:
Dienstag, 03. Mai 2022, pantau-x-JAZZFRÜHLING-Musikfestival: Soyka / Menrath / Dickbauer / Ernst im off Theater, Wien
Freitag, 13. Mai 2022, Free School w/ Kate McIntosh, Kunsten Festival des Arts, Brüssel
Samstag, 14. Mai 2022, Free School w/ Kate McIntosh, Kunsten Festival des Arts, Brüssel
Sonntag, 15. Mai 2022, Free School w/ Kate McIntosh, Kunsten Festival des Arts, Brüssel

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Katharina Ernst
Katharina Ernst (music austria Datenbank)