Hermann Nitsch – Ein musikalisches, persönliches in memoriam. Von Christian Scheib

„3. Nacht, 5.26 uhr, die SONNE geht HELL STRAHLEND AUF. die spielteilnehmer umarmen sich, küssen sich und geben sich die hände. Sie essen brot und trinken WEIN.“

Damit endet nach 514 handgeschriebenen Seiten die damals bei Freibord veröffentlichte Partitur zur „80. Aktion“ von Hermann Nitsch, die von 27. bis 30. Juli 1984 in Prinzendorf im und rund um das Schloss auch tatsächlich stattgefunden hat. Verblüfft hat mich an diesem Eintrag, dass sich einer Partitur von Hermann Nitsch offenbar auch die Sonne und das Wetter unterzuordnen haben, und nie wurde ich den Verdacht los, dass kaum jemand – also zumindest für einige Jahrzehnte – diese und andere seiner Partituren je bis zum Ende gelesen hat. Umarmen und küssen als Finale? Das sind nicht gerade die mit der Kunst von Hermann Nitsch zuerst assoziierten Bilder, auch wenn er es über Jahrzehnte hinweg so haben wollte.

Das mit der Sonne stellte sich dann übrigens als das tatsächlich schwerer zu beherrschende Unterfangen einer großteils im Freien stattfindenden Kunstaktion heraus. Beim letzten Morgengrauen nach dem dritten Tag und der dritten Nacht war die Sonne dann partiturgewünscht wieder da, aber am 28. Juli 1984 wurde das heiße Sommerwetter dieser Tage tatsächlich von einem fürchterlich nasskalten Regentag unterbrochen. An das Durchführen von Prozessionen und Schlachtungen mit vielen halbnackten Spielteilnehmerinnen und -teilnehmern im Schlosshof war nicht zu denken und Hermann Nitsch beschwor unsere kleine Band, wir mögen uns doch bitte in den hohen Torbogen der Schlosshofeinfahrt stellen, „da werdets wenigstens net nass“, und einfach spielen, ganz ohne Partitur. „Aber spielts die echte Volksmusik, die ihr sonst auch immer spielts!“ Hermann Nitsch konnte sehr, sehr penibel sein, wenn es um Intensität und Authentizität innerhalb seiner Kunst ging. Wir waren jene Volksmusikgruppe, die in der Partitur der dreitägigen „80. Aktion“ mit „Schrammelmusik“ bezeichnet wird, auch wenn wir als „Wiener Banklgeiger“ und als Freunde von Rudi Pietsch und dessen Bands auch eher deren burgenländisch-niederösterreichisch-steirisches Repertoire spielten. Aber Nitsch mochte unser Quartett – zwei Geigen für die Melodien, eine Bratsche für den sogenannten Nachschlag und eine Bassgeige –, nachdem uns sein Freund, der Fotograf Heinz Cibulka, ihm empfohlen hatte. Nitsch suchte nach authentisch klingender Volksmusik, aber welche Volksmusikanten, die womöglich noch in Tracht spielen wollten, hätte sich in den frühen 1980er-Jahren in sein „Orgien-Mysterien-Theater“ samt Blut, Tieropfer und Kreuz begeben? Da kamen wir, die wir eher indische Kleider, Jeans und Pluderhosen trugen und die Sex Pistols und Miles Davis mochten, gerade recht.

Tage-, wenn nicht wochenlang hatten wir mit an die hundert weiteren Akteuren im Schloss Prinzendorf das Dreitagesfest geprobt und vorbereitet, es wurden unter Anleitung von Peter Kubelka Essen gekocht und in einer improvisierten Freiluftschneiderei Prozessionskleider genäht, natürlich wurde mit Dirigent musiziert in kleinen und großen Formaten und Prozessionen geübt, und dann ging es irgendwann los und die Gäste durften in das Schloss, in den Schlosshof, in die Allee. Wir waren in diesen Jahren ein bisschen zur Hausband von Hermann Nitsch geworden, spielten nicht nur beim OM-Theater, sondern begleiteten auch manch „Pfingstfest“ mit Musik. Mit dem Quartett spielend über die Weinberge zu wandern, von Weinkeller zu Weinkeller, das konnte schon wirklich schön sein. Ich brauchte als Bassgeiger immer jemanden, der mit dem Stachel der Bassgeige in der Hand vor mir herging und Hermann Nitsch war immer gut gelaunt. Bei den wirklichen Aktionen des Orgien-Mysterien-Theaters war das ja ganz anders, da waren wir musikalisch Teil einer großen, ganzen, dramatischen Theatralik. In der Partitur sind ja bei allen Orchesterinstrumenten Tonhöhen und Lautstärken angegeben, darauf kommen wir gleich noch, nur bei den „objets trouvés“ der Volkmusik war es den Musikerinnen und Musikern überlassen, was sie eigentlich wirklich spielten. Unser Partner und Kompagnon auf diesem Gebiet war übrigens eine kleine, tschechische Blasmusikkapelle. Großartig geschmeidig gespielte Musik und sie wie wir mussten einfach darauf reagieren, wenn wir vom Dirigenten ein Zeichen bekamen.

1. Aktion Hermann Nitsch (c) Atelier Hermann Nitsch

Ratlosigkeit, Musik. Intensive Musik. Laute Musik.

Aber es ging natürlich bei so etwas wie dem Dreitagesfest 1984 ums Große und Ganze und um immense Theatralik, tagelang, und da konnten dann irgendwann schon auch die Nerven blank liegen. Nach intensivem Auftakt in den ersten vierundzwanzig Stunden und dem verregnetem, zweiten Tag mündete das Dreitagesfest 1984 in den Schlusstag. Irgendwie hatten wir das alle nicht in der Partitur bemerkt, aber plötzlich fährt ein kleiner gelber Bagger in den Schlosshof und hebt eine Art Grube aus. Rundherum werden Stiere geschlachtet, Weintrauben getreten, Prozessionen abgehalten. Es konnte schon heftig sein. Überall liegen Blumen, stehen Tröge mit Gedärmen, Wein und Blut. Da kommt plötzlich durch das Schlosstor ein echter Panzer reingefahren, dreht ein Runde im Hof, überrollt Manches, stürzt sich in die zuvor ausgehobene Erdgrube, um sie zu durchqueren. Die OM-Spielteilnehmer reagieren zum Teil hysterisch, bewerfen den Panzer mit den herumliegenden Blumen, wie um ihn wieder zu vertreiben. Was, wenn man das so schildern will, auch gelingt. Ratlosigkeit, Musik. Intensive Musik. Laute Musik. Dann nähert sich die dritte Nacht am dritten Tag. Und der letzte Morgen. Siehe oben. Umarmungen.

Wir aber lassen in diesem Text der Erinnerung an Hermann Nitsch und seine Kunst jetzt alles beiseite, das in jedem anderen Text erwähnt und erläutert wird. Immerhin entsteht dieser Text für das mica und da soll es jetzt noch ausführlich um Musik gehen. Auch das mag sich inzwischen sehr gewandelt haben, aber 1984 und noch mindestens weitere zehn Jahre lang war ja die Intensität und das Fachwissen von Hermann Nitschs Beschäftigung mit Musik überhaupt noch nicht in ein Allgemeinwissen vorgedrungen, nicht einmal in Fachkreisen. Genau diesen Aspekten wollen wir jetzt folgen, nicht zuletzt anhand längerer Gespräche mit Hermann Nitsch im Schloss Prinzendorf. Und er sagt es gleich in aller Deutlichkeit: „Ja, es ist eine dramatische Musik. Diese Musik funktioniert durch Intensität, durch Intensität bis hin zur Ekstase, bis zum Äußersten.“

Prinzendorf, Adresse Schloß 1, Musik ertönt als Teil einer tagelangen Aktion: Volksmusik aus der Region, also eben die erwähnte, niederösterreichische Tanzlmusik und südböhmische Blasmusik, großdimensioniertes Schlagzeug und Lärmzeug, sowie das eigentliche Orchester in quasi-symphonischer Besetzung, das hauptsächlich zum Auf- und Abbau von langen, differenzierten, manchmal orgiastischen Klangflächen und Klangzuständen eingesetzt wird, sowie eine selten zu hörende, aber durchlaufende Quart-Quint-Orgeltonkombination. Diese verschiedenen Ebenen der Musik von Herman Nitsch laufen oft parallel und synchron ab, das heißt während das Schlagorchester lärmt, spielt die Tanzlmusik weiter, das „Symphonieorchester“ beginnt einen Klangflächenaufbau; wenn das Lärmorchester plötzlich abbricht, steht die Geigenmusik wie alleine im Raum, während das Orchester langsam wieder an Stärke gewinnt, um schließlich alles zuzudecken und in einen orgiastischen Strudel hineinzuziehen, aus dem man vielleicht immer noch ein paar Blasmusikfragmente hin und wieder heraushören kann.

Wir lernten dabei übrigens eine neue Spieltechnik: Um unsere Polkas und Landler und Schleinige auch synchron spielen zu können, während das Orchester soviel Lärm machte, dass wir uns keinesfalls hören konnten, schauen wir uns gegenseitig auf die Finger und die Streicherbögen. Das Gemeine war ja: Der Riesenlärm konnte jederzeit plötzlich abbrechen und dann sollte natürlich keine inzwischen aus der Form geratene Polka hörbar werden. Das Orchester geleitet hat damals übrigens Clemens Gadenstätter, der dann später als Komponist ein Freund von uns wurde, so wie seine Eltern Freunde von Hermann Nitsch geworden waren.

„Der Schrei ist eben vor dem Wort: Wenn der Mensch dermaßen erregt ist, dass er keine Worte mehr findet, sondern der Schrei Ausdruck seines Schmerzes oder Glückes ist.“

„Mein Einfluss“, sagt Hermann Nitsch über seine musikalische Sozialisierung, „war zuerst einmal die gesamte klassische Musik und dann war halt die übermächtige Zweite Wiener Schule da und ich hab eingesehen – und vor allem in Zusammenhang mit meinem Theater – so kann ich nicht weitermachen. Als ich begonnen hab Musik zu machen, da war überall dieser Webernsche Dialekt, dieser Akzent, der beim Webern und einigen Wenigen großartig ist und bei vielen Anderen für mich unerträglich war. Da bin ich dann einen ganz anderen Weg gegangen, der die Wurzeln der Musik im Schrei, in der Dynamik und im Lärm gesehen hat. Der Schrei ist eben vor dem Wort: Wenn der Mensch dermaßen erregt ist, dass er keine Worte mehr findet, sondern der Schrei Ausdruck seines Schmerzes oder Glückes ist.“

Man sollte die prinzipielle Absicht und Zielsetzung von Hermann Nitschs Kunst kennen, um diese Musik auskosten zu können. Das langsame Aufbauen orgiastischer Klang- und Rauschzustände, das intensivierende, wie vor-sich-hin-Schieben von Klang- und Geräuschflächen, das plötzliche, wie erschrockene Abreißen oder Umkippen der Musik: All das entspringt dem Feiern des schieren Daseins in all seiner Schönheit wie auch seinen Abgründen mit Hilfe des Rituellen und Mythologischen in seiner Kunst und darin liegt auch manche Verbindung zu Musik und Absicht von beispielsweise Alexander Skrjabin, Anton Bruckner, Richard Wagner.

Auch wenn das nun eine verkürzte Darstellung ist: Das Ziel ist das Feiern des Daseins, des Lebens in seiner Heftigkeit von Geburt bis Tod und es hat auch, wenn man Aktionen von mehreren Tagen Länge miterlebt, etwas von Katharsis, Geläutert-Werden, beziehungsweise Geläutert-Sein. Der reinigende Prozess braucht, um überhaupt erfahrbar und wirksam zu sein, Intensität und Dauer und verlangt vor allem ein ausführliches Dabei-Sein, eigentlich ein Involviertsein, ein Teilnehmen.

40. Malaktion | 20er Haus, Wien | 1997
40. Malaktion | 20er Haus, Wien | 1997

In der Kunst von Hermann Nitsch wird die Heftigkeit der Gefühle, die solche Themen auslösen, von denen ja manche Aspekte tabuisiert oder verschüttet sind, zum Mittelpunkt. Doch der Schock hat keinen Selbstzweck, ganz im Gegenteil, der Schock um seiner selbst willen ist verpönt. Es geht eben um etwas anderes, um mehr. Die Mittel stammen aus abendländischen Traditionen, der griechischen, der jüdischen und der christlichen Welt, sie sind – beziehungsweise handeln von – Ödipus und Dionysos, Christus, das Kreuz, Schweine und Stiere. Es geht um Geburt, Wunde, Gralssuche, Sexualität, Blendung, Blut, Tod.

Was mich nur fasziniert dran, ist die ungeheuerliche sinnliche Intensität, die da frei wird. Und die wir bis zu einem gewissen Grad verdrängt haben und wenn wir dann damit konfrontiert werden, beutelt es die Leut, aber ordentlich. Und das ist das Motiv, warum ich immer wieder die Tierausweidungen mache, und im Extremfall, wenn auch selten, Schlachtungen zeige, die sowieso stattfinden würden, nur halt nicht mit Anwesenden und Akteuren. Ich bin eigentlich Dramatiker und alle Dramatiker beschäftigen sich mit dem Tod, der Tod ist einfach eine ungeheuerliche Sache.“

Entstanden sind diese Gesprächsteile mit Hermann Nitsch in den 1980er Jahren und dann nochmals in den späten 1990er Jahren, das erste vollständige, sechstägige Orgien-Mysterien-Theater hatte gerade stattgefunden. Interessant war in diesen Jahren, also den späten 90ern, dass eine seltsame Gleichzeitigkeit auftrat: Viele hatten inzwischen entweder kapiert oder zumindest akzeptiert, dass die Konsequenz und Intensität von Hermann Nitsch ihn wohl zu einem wichtigen Künstler mache, egal, wie man selbst dazu steht, zugleich aber baute sich gerade rund um das Sechstagesfest eine letzte, gewaltige Verleumdungswelle von Jörg Haider bis Bischof Kapellari und Dutzende andere auf. Gesendet wurden Teile dieser Gespräche natürlich immer wieder einmal in Ö1-Sendungen wie Zeit-Ton. Und wir folgen auch hier in diesem Text nun weiterhin seinen Musikbekenntnissen. Dass er im Sommer 2021 in Bayreuth eine Aufführung der „Walküre“ zu einem Farblichttraum verwandelt hat, gilt als einer der späten Höhepunkte seiner Kunst.

„Ich komme von Wagner her, verehre den Wagner sehr und das Arbeiten mit dem sogenannten Leitmotiv, beim Berlioz hat’s geheißen Idee fixe, das ist ja etwas, das auch von der Literatur übernommen worden ist, Thomas Mann hat sich sehr bemüht, Leitmotive in seinen Romanen klarzulegen und bei Proust ist es ähnlich. Das hat seine Berechtigung im Kontext Gesamtkunstwerk. Und die Geschmacksmotive sind mit Aktionsmotiven und diese wiederum mit Musikmotiven verknüpft. Also das Gesamtkunstwerk bündelt sich synästhetisch. Wer meine Schriften liest, wird sehen, dass immer wieder Skrjabin auftaucht., der gehört zu jenen, die mich ganz stark beeinflusst haben, diese Farbprojektionen und diese überkandidelte Musik, die eigentlich die Konsequenz dann im Schönberg hatte. Also Skrjabin schätze ich sehr, und wenn es mir nur ein bisschen gelänge, mit meiner Arbeit und meiner Musik in die Nähe dessen zu kommen, dann hätte vieles von dem, was ich mache, eine Berechtigung. Ich hab in diesem Gespräch nicht alle meine Vorbilder aufgezählt, die es in dieser Form ja auch gar nicht gibt, weil es nichts gibt, das mich nicht beeinflusst hat, von den Heurigenliedern zu den Herzgewächsen von Schönberg.“

Manchmal deutlich hörbar, manchmal unhörbar, aber immer präsent in der Musik zu den Aktionen von Hermann Nitsch ist ein statischer Akkord aus Quart und Quint.

„Von meinen ersten Aktionen an war das immer da und, wenn man es mit dem Kultischen vergleicht, ist es wie das Ewige Licht, das ist das, was alles bindet und das durchgeht und eigentlich immer sein müsste, weil es meint, dass es keinen Anfang und kein Ende gibt.“

Alles bei Hermann Nitsch ist aus der Zelebration der Schöpfung erklärbar, der Unendlichkeit des Nachthimmels ebenso wie der Unmittelbarkeit einer Schlachtung

Alles bei Hermann Nitsch ist aus der Zelebration der Schöpfung erklärbar, der Unendlichkeit des Nachthimmels ebenso wie der Unmittelbarkeit einer Schlachtung, beispielsweise folgende Szene: Da ist das Kreuz, an das Ödipus gebunden wird, um in einer Prozession zur Schlachtung eines Tieres gebracht zu werden. Nichts daran ist willkürlich, nichts daran will schockieren, alles ist präzise gedachte Durchführung europäischer Mythen – und bei diesem Wort „Durchführung“ darf man auch an das Wesen der Durchführung einer Sonate denken und die Psychoanalyse würde vielleicht Durcharbeiten sagen. Und als Musik erklingen dazu liegende, insistierende Töne aus Blasinstrumenten, manchmal ein Aufruhr des Schlagwerkorchesters und als kontinuierlicher Kontrapunkt Landler, Märsche oder Schleinige: Auch die durcheinandergeraten wirkende Musik ist eben nicht willkürlich, ganz im Gegenteil, sie ist eine präzise, wenn auch orgiastische Verankerung all des Abendländisch-Rituellen im Ort des Geschehens, wie auch der Wein bei solchen Gelegenheiten von den Rieden mancher Hügel rundherum stammt.

„Ich hab dafür was übrig, für unsere Traditionen, und da steh ich ja auch nicht allein da, wenn ich denk an Bruckner oder Mahler, der immer wieder Ländlerfragmente eingebaut hat, sozusagen Triviales, das fällt mir überhaupt nicht schwer, diese Tradition weiterzuführen. Es hat mir auch als Kind und Jugendlicher immer imponiert, die Feuerwehrkapellen, da is ma die Ganslhaut kumma, und diese Elemente werden in meiner Musik immer bleiben, während sie in der Realität eher vergehen, durch die Globalisierung wird das reduziert zu sowas wie man Indianer herzeigt in Reservaten, es ist ja nicht mehr ganz lebendig. Drüben in der Tschechei – ich hab ja meistens Blasmusikkapellen aus der Tschechei – da hat das noch ein bisschen mehr Leben. Wie gesagt, das ist eine Verbeugung vor der Volkstradition.“

Die Musik von Hermann Nitsch ist notiert, genau und ausführlich in all ihren Aspekten, in Partituren, die Tonhöhenverläufe, Lautstärken und Intensitäten des Orchesters regeln, ebenso wie all die anderen Ebenen seiner Musik. In diesen Partituren sind auch alle anderen Aspekte der Aktionen von Hermann Nitsch notiert, von den Düften angefangen bis hin zu den genauen Verläufen von Prozessionen. Hermann Nitsch über seine Art der Notation der Klangverläufe: „Es handelt sich mehr oder weniger um eine Strukturpartitur, wo die Zeitdauer des Spieles der Instrumente angegeben ist, und vor allem wo die Intensität angegeben ist. Es ist jenseits aller Melodik. Es sei denn, sie ist collagenhaft eingebracht, wie bei diesen Ländler, Scherzi und so. Es gibt langgezogene Töne und Lärmkomplexe. Wobei bei meiner jetzigen Musik die langgezogenen Töne bei weitem überwiegen. Mein Ideal ist dann mehr oder weniger insgesamt eine Art Orgelklang zu erzeugen.“

Wie ein sanfter oder auch gewaltiger Orgelklang möge seine Musik insgesamt tönen, sagt Hermann Nitsch, aber manchmal sitzt er auch wirklich selbst an der Orgel oder am Harmonium und lässt die Klänge und Klangfarben schillern.

„Ich tendiere schon, wenn ich Orgel spiele, auf die Musik meines Theaters hin. Es ist halt eine Skizze in einem anderen Medium, man kann in Öl malen, oder mit Bleistift was skizzieren. Und hier ist es eben die Möglichkeit, mit einer Orgel andere Instrumente zu ersetzen, so wie die Orgel von Anfang an verstanden war, als eine Fülle von Instrumenten. Es ist nicht so anders als meine sonstige Musik, aber ich konnte auf Sachen vorausgreifen, die ich erst später realisiert habe oder überhaupt erst realisieren werde. Es hat meine Arbeit seit 68 begleitet und es war immer eine wesentlich meditativere Musik, die viel mehr auf Klangfarben aus war, als meine gleichzeitigen Kompositionen fürs Theater.“

Von vielen Aspekten und Ebenen der Musik von Hermann Nitsch zu seinen Aktionen war schon die Rede und doch gibt es noch Vieles mehr, beispielsweise Renaissance-Musik oder Gregorianische Choräle. Sie sind übrigens manchmal auch in seinen Partituren zu finden, wie „objets trouvés“ gehandhabt, als unerklärte Fremdkörper in der handschriftlichen Nitsch-Partitur erscheinend, in realiter dann oftmals aufgeführt in der kleinen Kapelle im ersten Stock des Schlosses Prinzendorf.

„Das letzte Mal haben sie die ganze gregorianische Osterliturgie gesungen, innerhalb der sechs Tage gab’s dann immer zwei, drei Stunden, die waren annonciert, und da haben sie oben in der Kapelle durchgesungen. Das war sehr schön. Und diesmal habe ich ein Streichquintett komponiert, das geht durch von 10 Uhr vormittags bis acht am Abend.“

Von Hermann Nitsch gibt es auch konzertant aufzuführende Symphonien, im musikalischen Material ganz ähnlich, doch im Vergleich zu den theatralischen Aktionsmusiken wie domestiziert klingend. Für zukünftige, weitere Aufführungen von Nitschs Musik mag das notwendig und hilfreich sein, aber zum Einhören und Nachspüren der Emotionen sind wohl die Aufnahmen der Aktionsmusiken hilfreich. Mittlerweile gibt es mehrere voluminöse CD-Editionen mit den Gesamtmitschnitten mancher Aktionen, auch der hier erwähnten, dreitägigen „80. Aktion“ sowie des „Sechs-Tage-Spiels“ von 1998, sowie auch beispielsweise das wunderbare, vorhin kurz angesprochene „Harmoniumwerk“, also Hermann Nitsch solistisch am Harmonium, zum Teil veröffentlicht von der kalifornischen Cortical Foundation, am einfachsten erhältlich über die Homepage des Orgien-Mysterien-Theaters.

Weil dieser Text über Hermann Nitsch mit heftigen Erinnerungen an seine mehrtägigen Orgien-Mysterien-Theater-Spiele begonnen hat, hier als Schlusswort nun ein Zitat von Kollegin Almuth Spiegler, veröffentlicht am 20. April 2022 in Die Presse: „Das nach 1998 zweite Sechs-Tage-Spiel, auf das er zuletzt so viele Jahre hingespart hatte, musste um ein Jahr verschoben werden. Einmal wollte er es noch sehen, die Essenz seines Lebens, das O.-M.-Theater in seiner ganzen synästhetischen Pracht, in all seiner intellektuellen, mythologischen, dialektischen Verdichtung, in seinem Urexzess, seinem Leid, seiner Erlösung, seinem Duft und Gestank, seinem Strahlen und seinem Dunkel, seinem Lärm und seinen Orgelharmonien. Mit dem bevorzugten Achterlglas des eigenen Dopplerweins in der Hand, mit der strengen Orgien-Trillerpfeife um den Hals, mit seinem schwarzen Hut und langem Rauschebart.“

Christian Scheib

Aus Anlass des Todes von Hermann Nitsch gestaltete Heinrich Deisl eine ihm gewidmete Zeit-Ton-Ausgabe am Donnerstag, 21. April 2022. Die Sendung kann bis Donnerstag, 28. April 2022 nachgehört werden.

Link:
Hermann Nitsch
nitsch-foundation.com
museonitsch.org
nitschmuseum.at