Hegemonisches Knacksen

Über die Wahrnehmung ästhetisch anspruchsvoller Musik in unterschiedlichen sozialen Kontexten und Räumlichkeiten. Oder: Warum hören so wenig Menschen Nicht-Pop-Musik? Wie ließe sich das ändern, wo ansetzen … Ein Essay von Curt Cuisine mit einem Gesprächsbeitrag von Susanne Kirchmayr aka Electric Indigo

Christof Kurzmann, ein Urgestein der österreichischen Experimentalszene, zumindest jener Szene, die sich auf eher unakademische Weise zwischen Pop, Impro und Elektronik wohlfühlt, hat im November eine wunderbare Doppel-LP mit dem Titel „then & now“ veröffentlicht. Dokumentiert wird darin, anlässlich seines 50. Geburtstags, ein jahrzehntelanges Schaffen, das oft nahe am Pop, viel öfter reine Improvisationsmusik ist. Im Grunde gibt es da aber keinen Bruch, alles fließt in der Person Kurzmanns ineinander. Schon als er 1987 mit den Extended Versions zu einem der damals spannendsten Pop-Acts Österreichs avancierte, war die freie Improvisation ein großes Thema. In einem Interview für das Musikmagazin „skug“ erzählte er, dass ihn Leute, die ihn nur von den Extended Versions her kennen, immer noch manchmal fragen: „Sag mal, machst du eigentlich noch Musik?“ Tja. Wenn es nicht Pop ist, dann existiert es auch nicht.

Diesseits im Pop

Schauplatzwechsel. Mitte des Jahres veröffentlichte die britische Sängerin Tahliah Barnett unter dem Namen FKA Twigs eine bemerkenswerte Platte, die im internationalen Musikfeuilleton Furore machte. Eine derart defragmentierte Soundlandschaft, die auf „Schlafzimmerjazz-Bass, Kirchenorgeln und gesampelte Autoalarmanlagen“ zurückgreift, habe man noch selten gehört, jubelte ein Kritiker (in der Süddeutschen Zeitung). Von einem „zögernd oszillierenden Beat“ war die Rede, von „physikalischen Sounds“, von „skulpturhaften Sounddetails“. Auf „LP1“ von FKA Twigs gibt es tatsächlich Stellen, wo nur gesungene Melodiefragmente die Tracks zusammenhalten. Für ein Pop-Album sind diese Soundtüfteleien durchaus beachtlich, aber es gibt Dutzende bemerkenswerte Tonträger in der elektroakustischen Experimentalmusik, die all diese Effekte beherrschen, meistern, längst vorgeführt haben: Wo bleibt da der Applaus, die mediale Aufmerksamkeit? Wer hat über Kurzmann beispielsweise geschrieben? Oder über all die anderen spannenden Acts im großen Pool von Elektroakustik, Improvisation und zeitgenössischer Komposition?

Klebstoffschnüffeln vor kleinem Kreis

Erneuter Schauplatzwechsel. 2013 fand eine „Wien Modern KlubNacht“ statt, zu der es programmatisch hieß: „Neue Musik in neue Ohren: Im Bestreben gemeinsam mit Wien Modern neue Aufführungsorte und Konzertformate zu erschließen […], erobert das Klangforum Wien im Rahmen der zweiten Wien Modern KlubNACHT nach der Grellen Forelle die Fluc Wanne. Und weiter geht die Reise in die subkulturellen Weiten der nächtlichen Wiener Klublandschaft.“ Ein toller Plan, doch der gewünschte Effekt stellte sich an jenem Abend nur teilweise ein, denn das Publikum bestand erneut aus den üblichen Verdächtigen. Die unüblichen Verdächtigen, die sonst stets ins Fluc gehen, blieben an diesem Tag ihrem Stammlokal fern – und versäumten dabei einiges. Zu hören waren herrlich ruppige Stücke für kleine Ensembles von Olga Neuwirth, Christof Dienz, Bernhard Gander und anderen, die zumindest noise-affine ZuhörerInnen auch angesprochen hätten.

Auch Slobodan Kajkut war mit seinem „Glue sniffer“ für E-Viola vertreten. Kajkut ist ein weiteres gutes Beispiel. Das von ihm gegründete Label God Records hat als Subthema die Verschränkung von Härte (alle Spielarten von Black & Death Metal) und zeitgenössischer Komposition. Zuletzt erschien auf God Records etwa Bernhard Ganders Auftragswerk „Take Death“, das man als Napalm Deaths Antwort auf Igor Strawinskys „Frühlingsweihe“ bezeichnen könnte. Grimmige Härte trifft grimmige Verweigerung – im symphonischen Gewand. Das ist durchaus symptomatisch. Viele Releases auf God Records schlagen düstere, aber eben auch anspruchsvolle Töne an, dennoch ist der erfolgreichste Titel im Labelkatalog Peter Ablingers „Regenstücke“, ein Lehrstück in Sachen Postminimalismus. Ein simples Fischen in fremden Teichen war natürlich nie Kajkuts Absicht, aber dass es ihm hin und wieder gelingt, dass nicht nur einschlägig vorbelastete Musikfreunde die Ohren spitzen, freut ihn dann doch.

Postradikales Clubbing

Auch Matthias Kranebitter zählt zu den jungen, wilden Komponisten, die aus den örtlichen und sozialen Milieus ausbrechen wollen, in denen zeitgenössische Musik üblicherweise wahrgenommen wird. Mit Gleichgesinnten organisierte er heuer das „Unsafe & Sounds Festival“, für das man auch einen unüblichen Ort, den vorübergehend geöffneten Artspace „Oben“ (gegenüber vom Semperdepot) fand. Das Line-Up stand ebenfalls ganz im Zeichen des Unüblichen. Am Eröffnungsabend spielte und performte das Black Page Orchestra, ein „Wiener Ensemble für radikale Musik“, Stücke von Hikari Kiyama, Alexander Schubert und Kranebitter selbst. Ein fulminant unterhaltsamer Abend mit ironischen Rock-Zitaten und bunten Luftballons war die Folge, für den auch ein breit gefächertes, junges Publikum gekommen war. Der Plan, dass dieses Publikum dann auch zum DJ-Line-Up nach Mitternacht bleiben würde und den Abend durch Getränkekonsum finanzieren würde, ging allerdings nicht ganz auf. Radikale Kammermusik als Auftakt zu einem Partyabend, das war wohl etwas zu progressiv gedacht, auch wenn die Stoßrichtung im Prinzip gleich – und gleich verdienstvoll – war wie bei Kurzmann, bei Kajkut, bei Wien Modern.

Das Partypublikum als Zielgruppe für zeitgenössische Musik, das führt uns zur renommierten DJane Electric Indigo bzw. Susanne Kirchmayr. Sie war ebenfalls bei „Unsafe & Sounds“ mit einer Soundinstallation vertreten und hat im Jahr zuvor bei Wien Modern nicht nur ein von ihr komponiertes Stück („Chiffres für Computer und 5 diskrete Kanäle“) aufgeführt, sondern auch einen Abend unter dem Motto „Club meets Avantgarde“ bestritten. Susanne Kirchmayr ist ebenfalls eine Grenzgängerin zwischen populärer und moderner, zwischen seichter und anspruchsvoller, zwischen ernster und unterhaltender Musik. Diese Unterscheidung lehnt sie zwar ab, dennoch sagt sie: „Mich nervt das Eingängige zu Tode. Ich brauche ein gewisses Maß an Sperrigkeit oder Komplexität, sonst werde ich unruhig.“

Heppipeppi goes Segregation

Ein gewisser Anspruch muss also sein. Weil man als Künstler ja ohnehin nicht anders kann, als das zu tun, was einem entspricht. Was aber tun, wenn man mehr Publikum erreichen will? Laut Kirchmayr jedenfalls nicht das Publikum erziehen wollen. „Es haben alle das Recht darauf, ihren Trance oder ihre Heppipeppi-Musik zu hören. Ich habe als DJ keinen Missionsauftrag. Ich versuche, bis zu einem gewissen Grad zu vermitteln, warum mir jetzt genau diese Stücke gefallen.“ Wenn das funktioniere, sei das ganz wunderbar, so Kirchmayr, aber man solle sich keiner Täuschung hingeben. „Ich spiele nur in einem bestimmten Segment, nicht auf Massenveranstaltungen. In Wien im Werk, in Berlin im Berghain, im ://about blank, im Suicide Circus. Dort bin ich auch gut aufgehoben, dort kann ich machen, worin ich gut bin. Wenn ich in einen Kontext gerate, wo ich die Erwartungen nicht einschätzen kann, fühle ich mich nicht wohl und das Publikum noch weniger.“

Die eigene Musik, den eigenen Stil soll man nicht verbiegen, das Publikum zugleich nicht erziehen. Was bleibt dann noch? Man muss sich sein Publikum suchen: „Die Örtlichkeiten und der soziale Kontext sind dabei sehr wichtig. Bestimmte soziale Schichten würden nie ins Berghain gehen. Selbst im ://about blank, wo es eine, starke, nach Außen kommunizierte Haltung gegen Ausschlussmechanismen gibt, vermischt sich das Publikum nicht total. Da ist es besonders erfreulich, wenn türkischstämmige Leute hinkommen.“ Das klingt jetzt, als läge es auch an den Clubs, den Betreibern und den Veranstaltern, dass bestehende Hegemonien nicht aufgelockert werden. Und diese Auflockerung wiederum ist wichtig, weil ein durchmischtes Publikum auch ein aufgeschlosseneres Publikum bedeutet. Das schon, so Kirchmayr, aber: „Gruppierungen und Zugehörigkeitsblasen haben schon ihre Berechtigung, denn wenn es die nicht gäbe, wären wir alle komplett lost. Wir müssten uns mit Millionen von individuellen Geschmäckern auseinandersetzen.“

Vor lauter Selbstverpflichtung vor drei Leuten spielen?

Führt uns das jetzt zu weit vom Thema weg? Nicht wirklich. Denn die Frage „Was muss ich tun, damit ich mit meiner Musik ein breiteres Publikum erreiche?“ stellt sich in gewisser Weise jeder Künstler, egal, ob in der Unterhaltungsbranche oder in anspruchsvolleren Kontexten. Sicher, es gibt auch die Freunde der Hermetik, die vor lauter Selbstverpflichtung auch vor drei Leuten spielen oder ganz für die Schublade produzieren. Aber selbst in der Kunsttheorie wird vom Künstler ein öffentliches Wirkungsfeld verlangt, andernfalls ist seine Kunst nur Privatvergnügen. Zudem: Alle bisher erwähnten Beispiele zeigen ja, wie groß das Bedürfnis nach mehr Publikum ist – bzw. nach einem Publikum, das nicht nur die üblichen Verdächtigen inkludiert.

Wer macht den nächsten Schritt?

In allen Fällen wurde der Mittelweg gesucht: Die Kunst wurde nicht seichter gemacht (wie es oft befürchtet wird), das Publikum wurde nicht erzogen (obwohl, wie Kirchmayr meint, ein besseres Musikabspielequipment kein Nachteil wäre, um zeitgenössische Musik, deren innovativer Charakter sich ja oft erst in der Klangqualität erschließt, überhaupt richtig hören zu können), sondern es wurde das richtige Publikum gesucht. Hier sind die KünstlerInnen in Zukunft verstärkt gefordert, keine Frage, aber man muss sich auch mit der Segregation des Publikums beschäftigen – wie im Gespräch mit Susanne Kirchmayr schon skizziert. Dazu müsste man mit den Veranstaltern und Betreibern und mit dem Publikum selbst reden. Wie man Interesse wecken könnte, wie Menschen in Locations und zu Events gebracht werden können, die sie normalerweise meiden (oder gar nicht wahrnehmen). Und wie es denn auch mit der Bereitschaft aussieht, sich unter ein Publikum zu mischen, das nicht nur aus Gleichgesinnten, sondern auch aus anderen Kultur- und Altersgruppen und insbesondere einem anderen ethnischen Background kommt. Da eröffnet sich natürlich sofort eine sozialpolitische Thematik (und zugleich ein In-Frage-Stellen hegemonischer Ausgehkultur) bedeutet, die aber den Rahmen dieses Essays sprengen würde.

Ziehen wir uns zum Schluss auf einen dritten und letzten Punkt zurück. Das Beispiel FKA Twigs zeigt, dass auch der Musikjournalismus gefragt ist, insbesondere in etablierten Medien. Zu oft wird, mit Blick auf die eigenen, schwindenden Auflagenzahlen, das Anspruchsvolle übergangen, das Populäre stattdessen lanciert. Das geht so weit, dass viele Musik mittlerweile nicht einmal mehr wahrgenommen, geschweige denn darüber berichtet wird. Aber vielleicht sollten auch etablierte Medien (und gerade Medien mit größerer Reichweite) einen etwas differenzierteren Umgang mit ihrem Publikum pflegen. Der Hinweis, dass diese Musik ja doch nur eine Handvoll Insider interessiere, ist zu kurz gedacht. Auch hier wird eine Hegemonie praktisch kampflos akzeptiert und damit der Indifferenz das Feld überlassen. Gerade MusikjournalistInnen sind gefragt, ihre LeserInnen für anspruchsvolle Musik zu begeistern.

Foto Electric Indigo: Bernd Preiml
Foto Klangforum: Lukas Beck
Foto Slobodan Kajkut: J. J. Kucek
Foto Matthias Kranebitter: Curt Cuisine

Die Diskussions- und Vortragsreihe mica focus wird unterstützt durch die Abteilung für Wissenschafts- und Forschungsförderung der MA7 Wien.