Happy Baptism Day, Ludwig! – TEIL 2: Beethoven-Bezüge ohne Jubiläen

Am 17. Dezember jährte sich Ludwig van Beethovens Tauftag zum 250. Mal. Anlass genug, in der neu gestalteten Musikdatenbank von mica – music austria für zeitgenössische Musik in Österreich zu stöbern und einige Werke vorzustellen, die sich mit dem Jubilar auseinandersetzen. Hier Teil 2 unserer dreiteiligen Serie.

In den „Beethoven-Jubiläums-Werken“ wurde auf die drei Streichquartette op. 18/1, op. 59/1 und op. 132, eine Klaviersonate op. 81a und eine Sonate für Violoncello und Klavier op. 102/1 musikalisch referenziert (siehe Teil 1). Es bedarf jedoch nicht immer eines „Beethoven-Jahres“, damit eine Auseinandersetzung mit dem Wegbereiter zur Musik der Romantik stattfindet. Zur Grundausbildung eines jeden Musikers bzw. Komponisten und einer jeden Musikerin bzw. Komponistin gehört das Studium Beethovens Musik einfach dazu. Zudem erhalten Komponierende immer wieder Aufträge, die sich einen Beethoven-Bezug in einer neuen Klangsprache wünschen. Die Musikdatenbank von mica – music austria zur zeitgenössischen Musik in Österreich verzeichnet deshalb auch andere Kompositionen mit Beethoven-Bezug. Sie stehen beispielsweise in Zusammenhang mit dem Streichquartett op. 18,1, der „Hammerklaviersonate“ op. 106, den Sechs Bagatellen op. 126, dem Violinkonzert op. 61 und den neun Symphonien. Einzelne Teile der musikalischen Vorlage werden hier zitiert, reduziert, recycelt, weitergesponnen oder variiert. Die Komponierenden lassen sich für das eigene Werk von Beethovens Kompositionstechniken, charakteristische rhythmische und melodische Elemente oder Bewegungsmustern stimulieren. Grundessenzen Beethovens Musik werden herauskristallisiert, fortgeführt, weiterentwickelt und verfremdet. So vielfältig die persönlichen Bezüge der verschiedenen Komponierenden zum Vorbild Beethoven sind, so vielfältig sind auch die Reflexionen über das historische Material und die daraus hervorgehenden Ergebnisse.

Pathosformel
Streichquartett Nr. 1 F-Dur op. 18,1 | Iris ter Schiphorst: „Und doch…“

Während Gerald Resch die rhythmische Struktur des zweiten Satzes in Beethovens Streichquartett op. 18/1 als Grundraster für sein Werk verwendet, so versuchte die Komponistin Iris ter Schiphorst (*1956) in den Jahren 2018 und 2019 mit diesem Referenzstück der „Pathosformeln“ nach Aby Warburg in Beethovens Musik nachzuspüren und sie neu und anders zu formulieren. Sie legte bei ihrem Streichquartett „Und doch…“ eine ganz persönliche Erinnerungsspur. Es leiteten sie dabei folgende entscheidende Fragen: „[W]ie resoniert dieses 1. Streichquartett, wie resoniert überhaupt die Musik Beethovens in mir […] ? Und was genau? Sind es musikalische Gesten oder quasi ‚rhetorische Figuren’, sind es Themen oder Stimmungen?“ Die rund dreißig Minuten der musikalischen Vorlage, die der meistgespielte Komponist der Welt im Jahr 1799 komponierte, wurden von Iris ter Schiphorst in zehn-minütige „Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als Gedächtnis-bewahrtes Erbgut“ kondensiert. Das Nomos-Quartett brachte diese intensive Auseinandersetzung mit dem ersten Streichquartett des großen Meister am 12. März 2019 im kleinen Sendesaal des NDR in Hannover zur Uraufführung.

Aufblitzendes Zitat
Klaviersonate Nr. 29 B-Dur op. 106 | Iris ter Schiphorst: „Eden Cinema“

Bereits im Jahr 1995 stellt die leidenschaftliche Beethoven-Interpretin Iris ter Schiphorst – die Klaviersonate Nr. 32 in c-Moll op. 111 war ihr Examensstück – einen anderen Beethoven-Bezug in ihrem Werk „Eden Cinema“ für präpariertes Klavier und Sampler her: Beethovens Hammerklaviersonate op. 106 wird als Zitat verwendet. Schiphorsts Lieblingsstück wurde prinzipiell durch das Werk und die Biografie von Marguerite Duras inspiriert. Die französische Schriftstellerin arbeitet auf verschiedenen Ebenen mit Wiederholungen: Handlungsmotive und Personen oder sprachliche Wendungen und Schlüsselwörter kehren ständig wieder. So arbeitet auch Schiphorst in dem siebzehn-minütigen Musikstück „Eden Cinema“: Motive werden wiederholt oder Töne insistierend repetiert. Auch verschiedene Zitate – wie eben das Aufblitzen Beethovens Klaviersonate – werden von Iris ter Schiphorst als Stilmittel eingesetzt. Der Pianist Hermann Kretzschmar brachte das Werk, das durch ein Stipendium der Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten/Berlin gefördert wurde, im Jahr 1995 in Berlin zur Uraufführung.

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Zitat & chaotische Überführung
Klaviersonate Nr. 29 B-Dur op. 106 | Bernhard Lang: DW 12 „cellular automata“ & Monadologie XXX „Der Hammer“

Bernhard Lang (*1957) arbeitete in zwei Werken – „DW12 ‚cellular automata‘“ und „Monadologie XXX ‚Der Hammer‘“ – mit  Ludwig van Beethovens Klaviersonate op. 106. Dieses schwierige Klavierwerk erschuf der mittlerweile ganz ertaubte Meister zwischen den Jahren 1817 und 1819.

Im zwölften Werk des Zyklus „Differenz/Wiederholung“, dessen Kompositionen Langs Auseinandersetzung mit der Deleuze’schen Dialektik von Differenz und Wiederholung darstellen, zitiert er nach eigener Aussage die Hammerklaviersonate. „DW 12 ‚cellular automata‘“ wurde für Klavier solo im Jahr 2003 komponiert und 2005 in Stuttgart uraufgeführt.

Die lange Zeit als unspielbar angesehene Klaviersonate aus dem 19. Jahrhundert spielt auch bei Bernhard Langs weiterem Werkzyklus „Monadologie“ in den Jahren 2014 bis 2015 eine Rolle. Hier sind es Loops, die im Mittelpunkt der Werke stehen und mit verschiedenen Organisationsprinzipien verbunden werden. Bernhard Lang selbst schreibt, dass in diesem Zyklus „mit zellulär-monadischen Ausgangsmaterialien, die dann mittels Granulatoren und zellulären Automaten in chaotische Systeme überführt werden; es ergibt sich eine Art hyper-virtuoser Uhrwerks-Textur, die auch den Videoarbeiten von Raffael Montañez Ortiz verpflichtet ist.“ Gemein all dieser Werke aus dem Zyklus „Monadologie“ ist Bernhard Langs Auseinandersetzung mit dem Tonmaterial verschiedener Komponisten wie Richard Strauss, Joseph Haydn, Arnold Schönberg, Johannes Brahms oder eben Ludwig van Beethoven. Er „recycelt“ historische Musik mittels computergenerierter Verfahren wie Filter- und Mutationsprozessen. „Monadologie XXX ‚Der Hammer‘“ „umfasst 3 Sätze, jeder entspricht einer zentralen Struktureinheit des Originals und entnimmt diesen ‚Stammzellen‘ zur weiteren Verarbeitung.“ Das Werk für Hammerklavier wurde am 15. November 2016 im  Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz von der Pianistin Katharina Olivia Brand uraufgeführt.

Unsinnige Referenz
Sechs Bagatellen op. 126 | Jorge E. López: „Disparates“

Bezug zu Beethovens Bagatellen op. 126 nimmt Jorge E. López (*1955).  Er schreibt im Auftrag des WDR – Westdeutscher Rundfunks in den Jahren 2004 und 2005 einen „Unsinn für großes Orchester“. Damit wird auf das Klavierwerk, das Beethoven in den Jahren 1823 und 1824 schrieb, mit einem völlig anderen Klangkörper im 21. Jahrhundert reagiert. Hier spielen vier Flöten, drei Oboen, vier Klarinetten, vier Fagotte, sechs Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen, eine Tuba, fünf Perkussionist*innen, zwei Harfen, 24 Violinen, zehn Violen, zehn Violoncelli und acht Kontrabässe miteinander. Es war das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Peter Rundel, das am 7. Dezember 2006 das Werk zur Uraufführung brachte. Die österreichische Erstaufführung ging im Beethoven-Jahr 2020 über die Bühne, am 9. Oktober spielte das Radio-Symphonieorchester Wien unter der musikalische Leitung von Marin Alsop im Rahmen des musikprotokolls im steirischen herbst in der Helmut List Halle in Graz.

Kleiner Buchstabenklang
Sechs Bagatellen op. 126 | Helmut Schmidinger: Sechs Bagatellen über „Ludwig van Beethoven“

Im Jahr 2003 entstanden die „Sechs Bagatellen über ‚Ludwig van Beethoven‘“ von Helmut Schmidinger (*1969). Er schreibt zur Entstehungsgeschichte: „Dieses Werk ist für ein vierhändiges Programm mit dem Thema ‚Hommage‘ entstanden. Da die zeitliche Vorgabe begrenzt war, habe ich mich auf einen ‚Ciclus von Kleinigkeiten‘ beschränkt und damit war der Bezug zu den Bagatellen Beethovens nahezu unausweichlich. Die Satzbezeichnungen dieser sechs Kleinigkeiten, die hier mehr als Charakter- denn als Tempovorgaben zu lesen sind, sind aus dem späten Klavierschaffen Beethovens entnommen. Als Grundlage der Melodie- und Harmoniebildung in diesem Zyklus habe ich auf die musikalisch verwertbaren Tonbuchstaben von ‚Ludwig van Beethoven‘ zurückgegriffen und diesen der komplementären ‚Resttonmenge‘ gegenübergestellt. Allen sechs Stücken gemein ist der Umstand, dass sie weniger ‚durchgeführt‘ als viel mehr zusammengestellt, eben ‚komponiert‘ sind.“ Schmidinger verwendet hier wider Erwarten kein hörbares Zitat aus Beethovens Sechs Bagatellen op. 126. Es ist lediglich die gleiche Motivation bzw. Grundvoraussetzung, die ihn mit den Bagatellen aus den 1820er Jahren verbindet. Die beiden Pianisten Hofer Gerhard und Sequi Dino führten Schmidingers Werk für Klavier zu vier Händen am 15. Januar 2004 im Welser Stadttheater zum ersten Mal auf.

Riesige Nachklänge
Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 61 | Helmut Schmidinger: „… wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört.“

Aber nicht nur beim Klavierstück „Sechs Bagatellen über ‚Ludwig van Beethoven‘“ bezieht sich der Oberösterreichers Helmut Schmidinger auf Ludwig van Beethoven. In seinem Werkverzeichnis finden sich weiters „Albumblatt für Elisabeth für Violoncello“ (2000), „Stille Post. Kommunikationen für 6 Schlagwerker“ (2011/2012), „Gesang zwischen den Stühlen. Eine sachliche Romanze für Klarinette, Violoncello, Klavier“ (2001) sowie „… wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört.“ (2007), die unterschiedliche Bezüge zu Ludwig van Beethovens Œuvre herstellen. Der Titel letzterer Komposition bezieht sich auf ein Zitat von Johannes Brahms, er könne keine Symphonie schreiben, weil er immer einen „Riesen“ (Beethoven) hinter sich marschieren höre. Schmidinger hatte nämlich die Aufgabe, ein Stück zu schreiben, das zwischen den zwei Beethoven-Stücken Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 61 und 5. Symphonie c-Moll op. 67 gespielt wird. Der Auftraggeber verlangte, wie schon bei Gerald Resch, einen dezidierten Bezug zu Beethovens Werk. Schmidinger stellte sich bei diesem Kompositionsauftrag des Recreation Orchesters im Jahr 2007 folgende Frage: „Wie ergeht es einem Komponisten heute, der den übermächtigen Riesen ‚Tradition‘ im Konzertbetrieb ständig hinter sich her marschieren hört?“ Weiters schreibt er zu seinem Werk: „Mit diesem Umstand nur zu hadern scheint mir zu wenig, ihn bewusst in ein Werk einzubeziehen eine mögliche Lösung. Ich habe daher Beethovens Violinkonzert als personifizierten Riesen der Tradition gewählt und mein Werk als unmittelbaren, sehr subjektiven Nachklang dazu komponiert.“ Das auftraggebende Orchester brachte die Abfolge kleiner „Solokonzerte“ (Klarinette, Pauke, Violine und Trompete) unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada am 28. Januar 2008 im Stephaniensaal in Graz zur Uraufführung.

Nicola Benz

Links:
Happy Baptism Day, Ludwig! Teil 1
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