Hannes Löschel: "Spin"

Schon der Titel „Spin“ der neuen CD von Hannes Löschel und dem Ensemble Phace verweist programmatisch auf eine in der Quantenmechanik als „Drehimpuls“ beschriebe Eigenschaft von Elementarteilchen. Warum Spin? Die Entdeckungen der modernen Physik üben eine große Anziehungskraft auf viele KünstlerInnen aus. Neben anderen Kunstformen scheinen die „exotischen“ Eigenschaften subatomarer Teilchen als Leitfaden und Metapher gerade in der Neuen Musik neben Religion, Philosophie und Metaphysik getreten zu sein. Die Klangwelten, die sich im 20. Jahrhundert aufgetan haben, seit Regeln und Handlungsanweisungen von den MusikerInnen selber verändert und geschaffen werden können, scheinen dem alltäglichen Erleben oft so fern wie die über das Raum-Zeit-Kontinuum hinausgehenden Dimensionen oder die Heisenberg’sche Unschärferelation.
Physikalische Messungen lassen sich auch als Übersetzungsvorgänge beschreiben, die dem Menschen nicht wahrnehmbare Vorgänge in andere Formen und Größenordnungen bringen. Aus künstlerischer Sicht lassen sich diese Übersetzungsvorgänge manuell gestalten und in eine wiederum der Messung nicht mögliche ästhetische Erfahrung bringen. Durch die unterschiedlichen „Körnungen“ der verschiedenen Sätze Löschels Werk kann der Eindruck entstehen, sich der Musik in unterschiedlichen Größenmaßstäben zu nähern. Der erste Satz namens „Readymade“ (benannt nach einem Alltagsgegenstand und/oder Abfall, das in einen künstlerischen Kontext gestellt wird) besteht aus einer Klangfläche und wirkt wie die metamorphische Schwingung eines Zustandes. Im zweiten Satz „Spin“ zerfällt diese Klangfläche in Gruppen kurzer Einzeltöne, kleine Drehungen fluktuierender Partikel. Ähnlich ist es in der Physik: Augenscheinlich wirkt Materie meist zusammenhängend, stofflich. Doch umso tiefer wir in die Moleküle, Atome, Elementarteilchen blicken,  desto deutlicher zeigt sich, dass das, was wir für ein Ganzes gehalten haben, aus vielen voneinander getrennten Einzelteilchen besteht.

Das Ensemble Phace ist bekannt dafür, die Grenzen Neuer Musik auszuloten. Davon zeugt auch die Verwendung von Instrumenten, die an den meisten Musikuniversitäten nicht gelehrt werden: Dieb 13 (Dieter Kovacic) bedient die Turntables und Josef Novotny den Sampler. Die besondere Verbindung, die klassische europäische Instrumente und neue Klangerzeuger miteinander eingehen können, zeigt sich ganz besonders an den Wechseln zwischen den verschiedenen Größenordnungen. Es entsteht so ein Zoom-Klangeindruck, der Vorgang des Vergrößerns oder Verkleinerns wird richtiggehend spürbar, so auch am Ende des dritten Satzes „Rad“. Es wird so möglich, die Musik von verschiedenen Seiten zu betrachten, sie zu verzerren, in sie hinein zu hören.

Im vierten Satz „Flügel“ verlangsamt sich die Zeit derartig, dass die einzelnen Partikel „angreifbar“ werden. Von zwei Seiten treffen sich die Töne, um langsam in Interaktion zu treten, sich näherzukommen und wieder zu entfernen. Die Kompromisslosigkeit, mit der die Kargheit durchgehalten wird, vermittelt ergreifende Ernsthaftigkeit, ein Erschaudern vor der Tiefe der Klänge. Die detailgetreue Interpretation des Ensembles Phace zeigt sich besonders im fünften und letzten Satz der CD namens „Kaskade“. Die kurzen Gruppen fluktuierender Partikel des zweiten Satzes, „Spin“ werden hier verlangsamt und aufgefächert und erinnern an das stufenweise Fallen des Wassers über eine Kaskade. Nach der Ergriffenheit des vorherigen Satzes erscheint das Spiel der Töne nun auflockernd und anregend.

Es ist im Übrigen gar nicht notwendig, die Metaphern der Quantenphysik zu kennen oder anzuwenden, um dieses Stück zu hören. Die Musik bleibt auch ohne ihr Programm lebendig und ihre Prozesse nachvollziehbar. Etwas Kontemplation ist allerdings schon notwendig um sie genießen zu können, sie mit dem mp3-Player in der U-Bahn zu hören ist also weniger empfehlenswert.

 

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