„Gleichzeitig merkt man die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens – und den Widerstand.“ – Bernhard Lang im mica-Interview

BERNHARD LANG bearbeitet in „CHEAP OPERA #3. MAY“ die autobiografische Geschichte von May, die schonungslos die Fortschreitung ihrer Parkinson-Erkrankung beschreibt. Uraufgeführt wird die Erzählung über diese Begegnung am 14. Oktober 2022 bei den Donaueschinger Musiktagen durch die Neuen Vocalsolisten Stuttgart und den Klarinettisten Gareth Davis. Über die Entstehung von „MAY“, über die Kompositionsmethode der Serie „CHEAP OPERA“ wie auch über die Bedeutung von Musikunterricht, Musikvermittlung und langes Studieren sprach Bernhard Lang mit Ruth Ranacher und Doris Weberberger.

Ihr jüngstes Musiktheaterwerk trägt den Titel „Cheao Opera #3 ‚May‘. Documentary Chamber Opera“. Wovon handelt sie und inwiefern ist sie dokumentarisch?

Bernhard Lang: Ich habe in Amsterdam über unseren Bassklarinettisten Gareth Davis eine Architektin kennengelernt, die an Parkinson erkrankt ist. Sie hat mit dem Beginn der Krankheit zum Malen und zum Schreiben begonnen und den Wunsch entwickelt, die Geschichte ihrer Erkrankung als Musiktheaterstück aufzuführen. Ich war am Anfang sehr skeptisch. Meine Mutter hat seit meinem zehnten Lebensjahr an Schizophrenie gelitten und ich wurde einmal von einem Chorleiter in Deutschland gefragt, ob ich nicht ein Musiktheaterstück daraus machen könnte, weil das so viele Geschichten enthält. Ich kann stundenlang darüber erzählen, ich würde das aber nie im Leben auf die Bühne bringen.

Weil er autobiografisch ist oder wegen dem Krankheitsbild?

Bernhard Lang: Eine Krankheit ist ein soziales Phänomen – gerade bei Schizophrenie. Von meinem zehnten Lebensjahr an bis meine Mutter 2018 gestorben ist, hat uns das begleitet. Das wird man nicht los, muss man damit umgehen. Daraus künstlerisch Kleingeld zu schlagen – never in my life. 

Bei „May“ hatte ich ähnliche Bedenken, ob man darüber wirklich ein Bühnenstück machen kann, weil das so intim und erschütternd ist. Sie war aber sehr hartnäckig und hat mir Stöße an Materialien und Videos geschickt. Dann ist sie nach Wien gefahren, hat mir einen Brief an mich vorgelesen und mich schließlich davon überzeugt.

Was passiert, wenn im Fall von Parkinson der Dopamin-Haushalt in einem menschlichen Nervensystem plötzlich nicht stimmt? Es handelt sich um eine Winzigkeit im Nervensystem, die mit einer uhrwerksartigen Regelmäßigkeit und einer Langsamkeit des Fortschreitens alles zerstört – das ist entsetzlich. Gleichzeitig merkt man die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens – und den Widerstand. Das Trotzdem, das Kämpferische, das Auflehnen, dem Schicksal wirklich ins Gesicht spucken und sagen: „So, ich mach jetzt ein Stück daraus“. Vor allem die Nüchternheit der Texte ist sehr beeindruckend; May ist eine kühle Beobachterin ihrer selbst. Das Stück gewinnt zusätzlich an emotionaler Energie, weil es nicht im Jammern oder Klagen verharrt, sondern in einem eher beschreibenden Modus gehalten ist.

Wie setzen Sie das musikalisch um?

Bernhard Lang: Mit kleinen, modularen, flexiblen Einheiten ist die Serie der „Cheap Opera“ in Bezug auf die Besetzung ein Gegenvorschlag zum großen Instrument. Sie beschäftigt sich nicht mehr mit fiktionalen, sondern mit sozialen und politischen Themen. „May“ ist mit sechs Stimmen und Solo-Instrument besetzt, es gibt auch Zuspielungen und Videos. Von den sechs Sängerinnen und Sängern der Neuen Vocalsolisten Stuttgart ist immer eine bzw. einer vorne, die anderen funktionieren als Chor und spiegeln das.

Das Stück ist in zehn Szenen gegliedert. Ich habe auch Videos dazu gemacht die sich aus Videos von May, aus ihren Bildern zu den einzelnen Szenen aus ihrem Leben zusammensetzen. Die Klammer bildet der Brief, den sie an mich geschrieben hat. Der Tenor fängt in der ersten Szene an, diesen Brief zu rezitieren. Am Ende des Stückes kommt ein Teil aus ihrem Brief an mich, der den Rahmen bildet. Ich mache eigentlich auch nichts anderes, als dass ich meine Bekanntschaft mit May beschreibe.

Wenn man Ihre Werkliste durchsieht, sieht es aus, als wären die Zyklen „Differenz/Wiederholung“ und „Monadologie“ abgeschlossen.

Bernhard Lang: Manchmal bestellt jemand eine „Monadologie“, aber für mich ist dieser Zyklus eigentlich abgeschlossen.

„Mich hat vor allem diese Verbindung von Freiheit und Determination interessiert, dass man wieder Freiheiten und freie Entscheidungen erlaubt und vom Dirigiert-Werden auf das Aufeinander-Hören zurückführt.“

In den letzten Jahren kommen vermehrt Werktitel wie „GAME“ oder „Cheap Opera“ vor. Inwiefern setzen Sie darin die Kompositionsmethoden aus den vorangegangenen Zyklen fort? Was hat sich verändert?

Bernhard Lang: Ich habe seit 2016 die „GAME“-Serie entwickelt, die ihrerseits wiederum aus der Erfahrung der Improvisation und aus den organisierten Improvisationsprojekten mit dem Klangforum Wien, mit Ulli Fussenegger und auf die „Scan“-Projekte Bezug nimmt. Die „GAME“-Stücke haben keine durchgehende Partitur mehr, sondern bestehen aus einer Sammlung von Spielregeln, aus der die Musikerinnen Auswahlentscheidungen treffen können. Die Stücke verändern sich mit jeder Aufführung, wobei natürlich das Loop-Prinzip weiterverwendet wird. Die Erfahrungen aus offenen, improvisatorischen Strukturen werden auch mit einem Rekurs auf die Mobile-Strukturen von Roman Haubenstock-Ramati und die offenen Partituren aus den 1960er-Jahren kombiniert. Die einfachste Erklärung ist ein bisschen wie ein Kartenspiel. Eine Runde ist eine formale Einheit eines Stückes; jede Spielerin bzw. jeder Spieler hat vier Karten und kann sich eine aussuchen; der oder die andere hört das und entscheidet, was dazu passt. So setzt sich dann das Stück zusammen. Natürlich ist viel Vorarbeit notwendig, weil ich quasi alle Möglichkeiten im Vorhinein durchdenken muss, auch in Bezug auf die zeitliche Organisation.

Wie ist es zu diesem veränderten Konzept gekommen?

Bernhard Lang: Das oenm hat den ersten Auftrag vergeben und so die „GAME“-Serie losgetreten: Das Ensemble wollte ein Stück ohne Dirigenten. Das heißt, das Ensemble soll sich selbst organisieren können, wie bei einer Improvisationsanordnung, sodass die Struktur aus den Entscheidungen der Musikerinnen heraus entsteht. Das sind neue Strategien, die auch mit dem Thema der Gamifizierung zu tun haben, weil das Gaming – philosophisch betrachtet – ein ganz neuer Forschungszweig geworden ist. Nicht nur wegen der Tatsache, dass heute wahrscheinlich 80 Prozent der Jugendlichen auf die eine oder andere Weise Gamer sind. Spielsituationen beherrschen unsere gesamte Wirklichkeit, z. B. auch die Börsen. Die großen Aktienmärkte sind Spielsituationen. Dort gibt es sogar den Begriff „Spielgeld“. Das ist nicht nur interessant, sondern natürlich auch sehr ambivalent.

Ich würde sagen, es gibt zwei große Linien in der Gameforschung. Das eine ist die Linie von John von Neumann und Oskar Morgenstern, die in den 1920er-, 30er-Jahren die Spielsituationen von Märkten analysiert haben und das Grundwerk für die Entwicklung der Aktienwirtschaft gelegt haben. Die zweite Linie ist der von Johan Huizingas „Homo ludens“ zuzuordnen und beschreibt eher die humanistische Sicht des Spiels. Wenn man es genau nimmt, entspricht das auch der Sichtweise, wenn wir sagen, dass Musiker ein Stück spielen. Wie sich der Spielbegriff dann in der Musik definiert, ist auch eine lange Geschichte, die geht einerseits vom freien Spiel – etwa auch vom dilettantischen Spiel von Kindern mit Klang – bis zu algorithmischen Kompositionen, die Spielsituationen mit dem Computer definieren. Darin steckt ein riesiges Spektrum. Mich hat vor allem diese Verbindung von Freiheit und Determination interessiert, dass man wieder freie Entscheidungen erlaubt und vom Dirigiert-Werden zum Aufeinander-Hören zurückkehrt.

Aleatorische Techniken passen ja auch perfekt zum Titel „GAME“. 

Bernhard Lang: Natürlich. Wobei man heute immer mehr draufkommt, dass der Zufall in der Mathematik selbst gar keine Funktion hat. Die Zufälligkeit, wie man sie 1965 gesehen hat, ist eine völlig andere als die, die man heute sieht. Die Entscheidungen, die jetzt in den GAME-Stücken getroffen werden, könnten zufällig sein. Aber es gibt genauso die Möglichkeit des bewussten Reagierens. Ich habe so eine Situation in „GAME 2-4-5“ gesehen, wo die zwei Sängerinnen plötzlich entdecken, dass sie das gleiche Modell haben – und sie haben sich angestrahlt, als sie das bemerkt haben, dass sie sich bei der Auswahl der Modelle getroffen haben. Das sind natürlich sehr schöne Momente, die sich ergeben können, dazu war es aber notwendig, mein ganzes Kompositionssystem umzuschmeißen. Das hat beim Layout der Partituren angefangen, weil sie nur mehr aus Einzelteilen besteht und der ganze Kontext einer durchgehenden Partiturseite plötzlich wegfällt.

Sie haben erwähnt, dass es auch im Zuge der Arbeit an der Kunstuni in Graz entstandene Werke gibt. Welche Bedeutung hat für Sie die Arbeit mit den Studierenden?

Bernhard Lang: Die Arbeit mit Studierenden ist ein Energie-Motor und gleichzeitig auch ein Korrektiv. Das habe ich gemerkt, als ich zwischen 1999 und 2009 als freischaffender Komponist gearbeitet habe. Man entwickelt dabei ein bisschen narzisstische Tendenzen, weil man viel alleine zu Hause sitzt und an seinem Ding arbeitet, wobei das soziale Korrektiv fehlt. Die Arbeit mit Studierenden fordert einen, jede Woche klar im Kopf zu sein, sich vorbereitet dorthin zu stellen, vorher Klavier zu üben usw. Diese Disziplin muss man halten, weil man beim Unterrichten unter einem extremen Fokus steht, da wird alles beobachtet und bemerkt. Aber das hält einen fit. Es hat mich auch dazu bewegt, die musikwissenschaftliche Forschung weiter zu betreiben.

Wahrscheinlich waren die „Monadologien“ eine Weise, das ständige Analysieren künstlerisch zu verarbeiten. Ich habe Bruckner so lange analysiert, bis ich ein Stück darüber machen musste. Das sind sehr positive Effekte und ich werde natürlich weiter Masterclasses halten.

Andererseits muss man sagen, dass ich selbst 26 Semester und mehrere Fächer studiert habe. Ich habe mich langsam orientiert und herumgetastet, Sachen abgebrochen. Heute kann ich sagen: Ich brauche alles, was ich jemals studiert habe. Das war eine Form des Studierens, die die schwarz-blaue Regierung 2002 kaputtgemacht hat. Die Rechnung sieht man jetzt. Für Künstlerinnen und Künstler ist das ein Verlustprogramm.

… für die Geisteswissenschaften auch.

Bernhard Lang: In den Geisteswissenschaften ist es genau das Gleiche. Das sind die eigentlichen Verlierer in diesem neoliberalen System. Es gibt keine Intelligentia, die bemerkt und versteht, was da passiert. Ich habe mich auch immer kritisch dazu geäußert. Hoffentlich gibt es in den künftigen Generationen politische Träger, die sehen, was da passiert.

„Besucht man ohne Vorwissen klassischer Kanons solche Konzerte, ist das recht anstrengend. Um daran teilhaben zu können, ist in der Kunstmusik eine gewisse Bildung, eine Hörbildung notwendig.“

Es ist nicht immer ganz einfach, Publikum für die Neue Musik zu finden. Wie würden Sie damit umgehen?

Bernhard Lang: Das Antwort auf diese Frage würde dauern, wenn man sie differenziert beantworten würde. Ein Versuch: Besucht man ohne Vorwissen klassischer Kanons solche Konzerte, ist das recht anstrengend. Um daran teilhaben zu können, ist in der Kunstmusik eine gewisse Bildung, eine Hörbildung notwendig. Wenn das bei einer Generation, die selbst nicht mehr musiziert, wegbricht, fehlt etwas. Jede und jeder, der auch nur fünf Töne auf der Gitarre spielen kann, wird anders in ein Konzert gehen, als jemand, der in einer Bedröhnungskultur aufwächst und aus der Schule nichts dergleichen mitbekommt. Diese Hörerschaft müsste man in der Musikvermittlung zurückgewinnen – die Frage ist nur: wie?

Bernhard Lang (c) Harald Hoffmann
Bernhard Lang (c) Harald Hoffmann

Eine Person, die das geschafft hat, war Peter Oswald. Er war ein genialer Musikvermittler, der die Leute begeistert und in die Konzerte geholt hat. Ich erinnere mich, als beim musikprotokoll die Hallen voll waren und ganze Schulklassen stundenlang Scelsi gehört haben. Mir berichteten später auch Studierende, dass sie deswegen mit Musik begonnen haben. Es gibt also positive Beispiele.

Das Entscheidende wäre, dass sich das Publikum trifft und einen Diskurs entwickelt. Da gibt es dann vielleicht Schocks und knallende Türen während der Konzerte, aber das ist viel besser als keine Kommunikation. Wie Lachenmann sagt: „Wir müsse raus aus den Biotopen und die Konzertsäle zurückerobern.“  Dafür brauch man das Publikum – und da genügt nicht, zu sagen: „Komm!“ Ich muss auch etwas erklären, ein gewisses Maß an Vorbildung mitbringen oder erzeugen. Ein Blick in die europäische Musikgeschichte zeigt uns, dass das schon immer so war.

Was wäre Ihrer Meinung nach hilfreich dafür?

Bernhard Lang: Wir brauchen etwas, dass das künstlerische Bewusstsein und die künstlerische Offenheit verändert – und das sind politische Entscheidungen, die man in die Bildung und in die Ausbildungen hineintragen muss. Dass man in einer Mittelschule keinen Musikunterricht mehr hat, ist krank, weil man hier die Äste absägt, auf denen unsere Konzert- und Opernhäuser sitzen und letztendlich auch die Clubs, die versuchen, etwas Experimentelleres zu bringen. Um hier auch ein positives Gegenbeispiel zu bringen, blicken wir kurz nach Tschechien, wo ich beruflich in den letzten Jahren viel unterwegs war. Dort gibt es ein groß gefördertes Musikprogramm für Kinder und man sieht in den Straßen viele Kinder mit kleinen Geigenkoffern herumspazieren. Das ist sehr günstig, und das machen viele. Außerdem gehört dort die Kunst und die Musikausübung noch ein bisschen zur Widerständigkeit gegen das Regime. Und: Die Playstation ist gemessen am durchschnittlichen Einkommen verdammt teuer.

„Gleichzeitig ist die Musikausbildung auch eine Charakterbildung, weil man lernt, mit der eigenen Emotionslage umzugehen. Das ist sozusagen ein Destillierprozess für die Entwicklung der Persönlichkeit.“

Womit wir wieder beim Gaming wären.

Bernhard Lang: Ja, das Suchtverhalten des Gamings ist eine andere Seite. Ich glaube stark, dass das mit Bildung und Erziehung allgemein zu tun hat. Ich musste jeden Tag zwei Stunden Klavier üben. Ich muss das leider dazusagen, denn das ist gewissermaßen auch notwendig für das ganze System. Ohne diese Vorbildung hätte ich es nie geschafft, beruflich Musik zu machen. Gleichzeitig ist die Musikausbildung auch eine Charakterbildung, weil man lernt, mit der eigenen Emotionslage umzugehen. Das ist sozusagen ein Destillierprozess für die Entwicklung der Persönlichkeit. Aus dieser Haltung, liest man Werke natürlich völlig anderes, denn es geht in der Kunst um Entschlüsselungskompetenz.

Und das braucht Zeit.

Bernhard Lang: Das ist der Punkt. Meine Antwort unterm Strich: Das braucht Zeit. Und natürlich auch die Energie von Menschen, die sich dafür die Zeit nehmen, andere zu bilden.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Links:
Bernhard Lang
Bernhard Lang (music austria Musikdatenbank)
swr/Donaueschinger Musiktage