Genreüberschreitungen – Christian Muthspiel im mica-Interview

Den Österreichischen Würdigungspreis für Musik 2006 nahm der Posaunist, Pianist, Komponist und Dirigent Christian Muthspiel (geb. 1962) am 22.1.2007 im Porgy&Bess in Empfang und sorgte mit seiner Ernst-Jandl-Soloperformance und einer Werner Pirchner & Harry Pepl gewidmeten Hommage im Trio mit dem französischen Vibraphon-Virtuosen Franck Tortiller und dem Wiener Bassisten Georg Breinschmid auch selbst für die musikalische Umrahmung. Anlass für ein mica-Interview im Vorfeld, das Heinz Rögl mit ihm führte.

“Gesammelte Erfahrung – aber niemals Routine”

habe der Preisträger namentlich bei den in vergangenen Jahren entstandenen Werken “Stodt aus Staa” und den vier Solokonzerten für Violine, für Violine und Cello, für Klavier und für Posaune walten lassen. Weil dieses ständige Neubeginnen beim Komponieren am Schreibtisch, eine Tätigkeit, die er ihm bei allen sonstigen Erfolgen weiter dringend anempfehle, heutzutage alles andere als Standard sei, würdigte Laudator HK (“Nali”) Gruber den Preisträger besonders auch als Komponisten mit herzlichen und persönlichen Worten. Er überschreite Genres, ja, aber er vermische sie nicht in irgendeinem “Crossover”.

Den Preis hat Christian Muthspiel natürlich auch für seine Leistungen als stilübergreifender Musiker und Dirigent im Kontext sowohl der komponierten und notierten Musik als auch des Jazz und der improvisierten Musik erhalten.

Seit 2004 dirigiert, konzipiert und moderiert Muthspiel einen eigenen Konzertzyklus mit der Camerata Salzburg, in welchem stringent programmierte, oftmals genreüberschreitende Konzertprogramme u. a. im Musikverein Wien und Brucknerhaus Linz präsentiert wurden. Teil dieses Zyklus war das vierteilige Orchester-Projekt “mozart loops” in Salzburg und in der Philharmonie Essen (mit dem Münchner Kammerorchester), welches Klassiker der Moderne auf Popsongs, gespielt von Wolfgang Muthspiel, treffen lässt.

Im Trio mit Franck Tortiller und Georg Breinschmid, seit 2005 Muthspiels Hauptformation im Bereich des Jazz, produzierte er eine im März 2007 im Doppelpack mit einer Pirchner-DVD erscheinende CD bei Universal, die die Musik Werner Pirchners und Harry Pepls zum Inhalt hat.

Das Konzert für Posaune und großes Orchester “ENNAHH.(an Albert Mangelsdorff)”, beauftragt von ORF und Philharmonie Essen, wurde 2006 vom Radiosymphonieorchester Wien und Christian Muthspiel als Solist im Wiener Musikverein und Linzer Brucknerhaus aufgeführt. Die oftmals gespielte Ernst-Jandl-Soloperformance “für und mit ernst” sowie gemeinsame Projekte mit Andrea Breth, Hermann Beil und Manfred Karge (Auftrag für das Musiktheater “Die Schicksalsperücke” des Wiener Mozartjahres 2006) sind Ergebnisse von Muthspiels Beschäftigung mit Literatur und der Verbindung von Wort und Musik. Als neue Facette begann im Herbst 2006 eine Serie von Ausstellungen, in welchen Christian Muthspiel seine jahrelang “geheim” gemalten “Fensterbilder” erstmals öffentlich zeigt.

In den letzten Jahren nach dem Weggang vom Vienna Art Orchestra warst du viel als Komponist und Dirigent unterwegs, natürlich auch weiter im Duo mit deinem Bruder Wolfgang, der neben anderen auch bei den mozart-loops Solist war.

Christian Muthspiel: Es wird eine gewisse Pause mit dem Duo geben, wir haben jetzt 23 Jahre miteinander gespielt. Seit dem Weggang vom Vienna Art Orchestra ist bei mir in Sachen Jazz eine Menge Energie frei geworden, das jetzige Trio hat sich anlässlich eines Festivals zu Ehren Werner Pirchners in Hall in Tirol formiert. Es stand zwar damals noch nicht fest, dass es beisammen bleibt, aber es hat von Anfang an zwischen uns so gut funktioniert, dass wir weiter miteinander spielten und jetzt auch eine CD gemacht haben. Es ist als schlagzeuglose Band eine von mir wie auch schon früher bei Jazzprojekten bevorzugte Besetzung, die sehr kammermusikalisch funktioniert.

Deine Tätigkeiten sind einerseits von der Liebe zu Jazz und Improvisation, anderseits auch zur Tradition komponierter Musik geprägt. Deine Konzertprogramme bieten Stücke von Britten bis Lachenmann, von Aaron Copland bis Lutoslawski, von Mozart bis zum Beatles-Song.

Christian Muthspiel: Ein Prinzip von mir dabei ist, dass die Programmierung über die einzelnen Stücke, die gespielt werden, hinausgeht. Ich will die Programme selbst “komponieren”. Ich will Stücke miteinander konfrontieren, die man dann aufgrund der Konfrontation neu hören kann, bei denen man sie auch formal anders entdecken kann. Bei den mozart-loops zum Beispiel gibt es nie eine Pause, das geht neunzig Minuten durch, so wird das Publikum anders gerichtet, erlebt etwas als Ganzes. Und: Ich dirigiere nicht immer die “besten” Stücke, man kann anstelle des Aneinanderreihens von “Highlights” auch andere Sachen zeigen. Ich habe interessante Erfahrungen gemacht. Nach meinem Programm über Schönberg und vertriebene Musik, das ich im Musikverein gemacht habe, kamen Leute zu mir, die zum Kreis der typischen Klassik-Konsumenten gehören und die im Kontext von Johann Strauß oder Mahler das op. 16 von Schönberg als das sinnlichste Stück des Abends empfanden. Man verstand plötzlich, dass Schönberg ein in der Romantik geborener und erzogener Komponist war. Dass wäre die Idee meiner Programme: Dass man das Trennende mitbekommt, aber auch das Verbindende. Die Komplexität eines gut komponierten Popsongs kommt etwa dann heraus, wenn man daneben weniger komplexe klassische Werke spielt.

Warum hast du eigentlich dein Musikstudium in Graz (Klassik, Jazz, Posaune) “rechtzeitig”, wie es in deiner Bio heißt, abgebrochen?

Christian Muthspiel: Hauptgrund für den Abbruch war der, dass ich mir dachte, wenn ich jetzt den zweiten Studienabschnitt auch noch mache, dann wird mir immens langweilig werden, denn man musste ja beim gleichen Lehrer bleiben. Und die Konstellation, dass ein Musikstudent sechs Jahre lang bei ein und demselben Lehrer bleibt, halte ich nach wie vor für verheerend. Es gab überdies die Möglichkeit zu Jahresstipendien in Kanada, das war zu verlockend. In Graz wäre ich vielleicht eine Art Lokalmatador geworden, aber Leute, die zu früh bequem werden gab es als abschreckende Beispiele schon genug.

In deinem Kopf war zu dieser Zeit hauptsächlich der Jazz?

Christian Muthspiel: Jaja, und auch noch länger. Die Zeit danach war vor allem durch das Duo-Spielen mit Wolfgang geprägt. Ich denke, erst durch die Entfernung von meiner ursprünglichen Erziehung wurde dann mein Kopf wieder frei genug, um mich der klassischen Musik nähern zu können. Der Jazz war die Revolution zu Hause, vor allem gegenüber den Eltern. Die Parole war Miles Davis gegen Mozart und gegen den Miles hat der Mozart einige Jahre lang keine Chance gehabt, da musste eine Zeit Distanz dazu sein. Jetzt, als Komponist und Dirigent, gehe ich eigentlich “backwards” von der Moderne zurück zur Klassik. Es fing an mit dem Schreiben von eigenen Sets, dann beginnt man die eigenen Bands und Ensembles zu leiten, die langsam größer werden Das waren die ersten Spielwiesen, bis sich dann auch das Problem stellte, dass man das eine oder andere Stück eigentlich dirigieren müsste. Das betraf zunächst eigene, von mir komponierte Werke, dann sind Werke anderer Komponisten dazugekommen, das ist so Schritt für Schritt gegangen. Bei den mozart-loops gab es ja dann eine ziemliche Bandbreite im Programm, das ging von den originalen Mozart-Ouvertüren über Schönbergs Verklärte Nacht und Märsche von Mauricio Kagel. Ich habe eigentlich beim Mozart-Dirigieren gleich viel Spaß gehabt wie bei Schönberg.

Wie ging es dir denn, als du zum ersten Mal vor der Camerata Salzburg auf dem Dirigentenpodest standest?

Christian Muthspiel: Ich wollte nie jemand anderen aus mir machen, als der ich bin. Ich wollte auch nicht Kompetenzen vorgaukeln, die ich nicht habe. Ich bin kein Streicher und bin nicht selbst in einem Orchester groß geworden. Ich bin sehr vom Konzertmeister und den Stimmführern abhängig, aber wahrscheinlich sind das andere Dirigenten auch. Man ist primus inter pares und will etwas gemeinsam erarbeiten, natürlich hat man dann die letzte Entscheidung. Ein Orchester wie die Camerata ist ja nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen. Und vorne steht ja kaum einmal ein “Universalmusiker”. Es gibt Streicherdirigenten, die schlecht mit den Bläsern arbeiten, andere sind rhythmisch nicht so klar, dafür ausdrucksmäßig stark. Wenn es ein schönes Wechselspiel mit dem Orchester ist, kann das Orchester ergänzen was dem Dirigenten fehlt.

Du hast ja für Streichinstrumente auch ein Gespür gekriegt, als du für Benjamin Schmid bzw. für ihn und Clemens Hagen Konzerte schriebst.

Christian Muthspiel: Für alle meine bisherigen Konzerte für Soloinstrumente stand ich intensivem Austausch mit den jeweiligen Solisten, für die ich komponiert habe, beim Posaunenkonzert, das ich selbst spiele, sozusagen mit mir selbst. So konnte ich quasi ohne Netz komponieren. Ich habe dem Beni zum Beispiel jeden zweiten Tag etwas gefaxt und er hat “yes” oder “no” zurückgeschrieben. Und so habe ich selber kaum Limits darunter setzen und mir lange zurechtlegen müssen, was ein Clemens Hagen am Cello alles kann, sondern der hat es selbst gesagt. Das ist ohnedies seit jeher gute Komponistentradition.

Du machst auch viel Theatermusik. Das “große” Werk und die “Gebrauchsmusik” – ist da eine Trennung in deinem Kopf?

Christian Muthspiel: Es gibt viele Beispiele dafür, dass gute “Gebrauchsmusik” Ewigkeitswert bekommen hat, wenn man etwa an Eisler oder Weill denkt. Im Barock und auch großteils in der Klassik war jedes Werk Gebrauchsmusik. Der Unterschied, den ich für mich sehe ist, wenn ich für ganz spezielle Konstellationen oder Formationen schreibe ist mir klar, das kann keinen “Ewigkeitswert” haben. Ein Projekt für Ostbahn-Kurti ist eins für ihn, die Klangwolke in Linz ist für eine 380000-Watt-Beschallung, so etwas denkt man beim Komponieren mit und es hat keinen Sinn, das im Mozart-Saal aufzuführen. Ansonsten sehe ich keinen Unterschied. Die Beurteilung findet nicht vom Komponisten statt. Es entscheiden andere ob ein Werk weiterlebt oder nicht. Darüber hinaus denke ich aber, dass das Wort Gebrauchsmusik wieder positiver besetzt gehörte. Genauso wie es zu wenig Schriftsteller gibt, die es interessant finden gute Libretti zu schreiben, gibt es zu wenig Komponisten, die gute Theater- und Filmmusik schreiben wollen. Das wird oft als Brotberuf angesehen, ist es aber nicht. Sich mit erstklassigen Dramen zu beschäftigen und ihnen dazu zu verhelfen, dass die auf einer Bühne zu leben beginnen, ist ja keine uninteressante Aufgabe.

Du machst ein Projekt mit Manfred Karge und Hermann Beil .

Christian Muthspiel: Manfred Karge hat ein Stück geschrieben – die Geschichte ist nach Nestroys “Talisman” -, das Hermann Beil inszenieren wird und das ich gerade für eine Besetzung wie bei Strawinskis Geschichte vom Soldaten, plus Cello, und für zwei Schauspieler vertone. Die Geschichte vom Soldaten ist auch formal ein Vorbild, insofern, als man das sowohl inszeniert als auch konzertant stattfinden lassen kann. Und es gibt keine Sänger, wenn gesungen wird, singen die Schauspieler. Manfred Karge, der einst noch von Helene Weigel ans Berliner Ensemble geholt wurde, hat schon mehrmals seine Bühnenpranke bewiesen, seine “Eroberung des Südpols” ist über 400 Mal gespielt worden. Und mit Beil – auch als Schauspieler oder Sprecher – zusammenzuarbeiten, mit dem ich in letzter Zeit auch bei einigen kleineren Sachen und zu zweit etwas gemacht habe, ist eine sehr tolle Sache.

Gibt es für dich in der Literatur, in der Musik, im Jazz so etwas wie eine österreichische Tradition?

Christian Muthspiel: Ich glaube, obwohl sich Österreich geographisch östlich von Deutschland befindet, liegt es, was literarische, auch musikalische Traditionen betrifft, eher zwischen Deutschland und Frankreich. Hirn mit Ei sozusagen – sehr salopp ausgedrückt. Schönberg, auch die österreichische Jazztradition sind sehr sinnlich und blutvoll, Pepl&Pirchner sind immer kulinarisch, kraftvoll, voller Timing und nie sehr abstrakt. Und so abstrakt im Formalen Ernst Jandls Gedichte sind, im Inhaltlichen sind sie es überhaupt nicht. Das ist der Schatz, den österreichische Kunst zu bieten hat.

In der österreichischen Neuen Musik der letzten Jahrzehnte gibt es – schematisch betrachtet – zwei Entwicklungslinien, die sich auch manchmal treffen: eine sehr spröde, puristische, streng “avantgardistische”, mit Verboten oder auch Ängsten, zu populär oder “glatt” zu werden auf der einen, eine (Pirchner, Pepl & Co) undogmatischere Linie auf der anderen Seite .

Christian Muthspiel: Weißt du, wer von den österreichischen Gegenwartskomponisten im Ausland mit Abstand am meisten aufgeführt wird? – Das ist der Nali Gruber. In Österreich wird er von vielen ignoriert, zumindest im Spielbetrieb, seine letzte Oper wurde in Österreich bis jetzt nicht aufgeführt und die meisten Uraufführungen von Orchesterwerken waren in London, New York, Luzern oder sonstwo. Bernstein, Boosey&Hawkes haben seine Bedeutung erkannt. Auch für mich ist “Tonalität” kein Kriterium für Rückschrittlichkeit und ich sehe auch keinen Grund für mich, mich irgendeinem Material, das per se vorhanden ist, zu verweigern.

Es gab bei dir ja auch Lachenmann im Programm, oder die CD “Echoes of Techno”.

Christian Muthspiel: In der Ambient Music gibt es zum Beispiel die Frequenzfilterungen. Im Umgang mit Frequenzspektren liegt ein Georg Friedrich Haas dem Techno, der diesen in der Tanzmusik bei Clubbings wie selbstverständlich praktiziert, vielleicht näher als er glaubt. Und viele E-Komponisten sind, was den Umgang mit Elektronik betrifft, oft weit hinter den Errungenschaften der U-Musik zurück, das klingt manchmal wie Raumschiff Enterprise.

Innovation hin, Tradition her, du spieltest und spielst in Clubs wie Porgy&Bess, in Stadt- und Staatstheatern und Konzerthäusern – wie geht es deiner Meinung nach weiter mit der Musik?

Christian Muthspiel: Was ich in letzter Zeit besonders sehe ist, dass die großen Konzerthäuser immer mehr nur mehr für den absoluten Mainstream tauglich sind. Es gibt wahnsinnig viele Konzerte mit halbwegs anspruchsvollen Programmen, die vor halbleeren Sälen stattfinden. Die Frage ist aber, ob die Größe dieser Säle stimmt. Und nach wie vor werden Konzerthäuser neu gebaut mit Sälen mit zweieinhalbtausend Plätzen, die man nicht verkleinern kann. Den meisten Häusern, besonders auch in kleineren Städten – etwa dem Brucknerhaus mit einem sehr großen und einem kleinen Saal – fehlt ein Saal, der 500 bis 700 Plätze hat. Weder das Konzerthaus noch der Musikverein haben hier die Chance bei den jeweiligen Umbauten genutzt. Der Neue Saal im Konzerthaus ist zum Beispiel für verstärkte Musik sehr schlecht geeignet und eigentlich ein Kammermusiksaal. Und die neuen Säle im Musikverein sind schlichtweg alle zu klein.

Zum Schluss: Du malst Bilder und stellst sie jetzt auch aus.

Christian Muthspiel: Ich habe vor zehn Jahren oder noch länger sehr konsequent damitbegonnen, alte Fenster in Hinterglasmaltechnik zu bemalen, eigentlichals Ausgleich zur Musik. Und jetzt habe ich begonnen, diese anverschiedenen Orten auszustellen. Ich war sehr erstaunt, wie positivdas rezipiert worden ist. Es ist was anderes als Musik, aber meinMusikmachen hat den Vorteil, dass ich meine Vernissagen selbstgestalten kann. Und natürlich – aufgrund meiner Bekanntheit als Musikergehen manche Türen für mich als Maler leichter auf.

 

 

https://www.musicaustria.at/musicaustria/liste-aller-bei-mica-erschienenen-interviews