Die Szene der neuen Musik ist überzeugt: In Wien fehlen Räume für neue Musik. Um diese Meinung auch faktisch nachzuprüfen, hat EDUCULT 2023 eine Bedarfserhebung im Auftrag von mica – music austria, in Zusammenarbeit mit der „Arbeitsgruppe Räume“ von mitderstadtreden und mit finanzieller Unterstützung der Stadt Wien (Abteilung Wissenschaft und Forschung der MA7) durchgeführt. Die Ergebnisse können HIER nachgelesen werden.
In der Erhebung wurden auch Möglichkeiten einer Organisationsstruktur erhoben, die sich von herkömmlichen Mustern unterscheidet. Sie soll ermöglichen, den Zugang nicht nur für einen bestimmten kuratorisch eng definierten Ausschnitt aus der Welt der neuen Musik, sondern für möglichst viele, auch unterrepräsentierte Gesellschaftsgruppen zu gewährleisten.
Davon ausgehend widmen sich Lutz Dollereder und Lisa Gaupp in einer dreiteiligen Artikelserie den Fragen, wie zeitgemäßes Kuratieren aussehen könnte – welche Mechanismen wirken auf den Betrieb ein, wie kann man ihnen entgegenwirken und den diversen aktuellen Herausforderungen begegnen? Der erste Teil greift den aktuellen Diskurs über ästhetische Inhalte und Diversität auf; die beiden weiteren Teile nehmen die beteiligten Personen auf und hinter der Bühne sowie auch das Publikum und dessen Partizipation in den Blick.
1) Unterrepräsentation
Die aktuellen globalen Krisen und sozial-ökologischen Probleme wie auch die Vielfalt an Lebensstilen und kulturellen Ausdrucksformen stellen auch den traditionellen Kulturbetrieb in Österreich vor neue Herausforderungen. Anhaltende und steigende soziale Ungleichheiten werden durch Bewegungen wie Black Lives Matter und #metoo verstärkt ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Kulturorganisationen müssen sich mit Machtungleichgewichten, Ausschlüssen und historischen, zum Beispiel kolonialen oder nationalsozialistischen, Erblasten auseinandersetzen. Ebenso werden die Unterrepräsentationen von einer Vielzahl im Kulturbetrieb tätigen Akteur:innen und ein festgeschriebener, scheinbar unveränderlicher ästhetischer Kanon zunehmend in Frage gestellt. So sieht beispielsweise auch die Kulturstadträtin von Wien Veronika Kaup-Hasler eine hohe gesellschaftliche Verantwortung der Kulturpolitik nicht zuletzt auch darin begründet, dass in Wien Kultur von den Subventionen der öffentlichen Hand abhingen, da 92 % der Mittel aus öffentlichen Förderungen stammten (Kaup-Hasler, Veronica: Vortrag am 18.11.2022. International Scholars’ Study Sessions: Wiener Perspektiven – Kunst, urbaner Raum und soziale Un-/Gleichheit. MUK Wien). Im Großen und Ganzen haben sich jedoch die diesen Strukturen zugrundeliegenden Machtbeziehungen bislang wenig geändert.
Daten zum Wiener Musikbetrieb zeigen, dass die Fördermittel für Musik in den Jahren 1998 bis 2017 trotz steigernder Kulturetats stagnierten (https://mitderstadtreden.at/, 03.02.24). Seit 2018 sind deutliche Erhöhungen zu verzeichnen, die Infrastruktur für zeitgenössische Musik aber lässt zu wünschen übrig: Der echoraum programmiert als einziges Haus ausschließlich zeitgenössische Musik, das Arnold Schönberg Center ebenfalls, mit Schwerpunkt auf die Werke seines Namensgebers. Die drei weiteren geförderten Häuser mit kontinuierlicher Konzerttätigkeit, das Konzerthaus, der Musikverein und das Porgy & Bess bedienen überwiegend andere musikalische Genres. Das ist vor allem im Vergleich zu den öffentlich geförderten Häusern für zeitgenössisches Theater – 17 Häuser zählt allein die Plattform PAKT – sehr wenig. Zudem wurden in den letzten Jahren zum Beispiel die Veranstaltungsräume für Akteur:innen der Neuen Musik (insbesondere Steinergasse 8 und mo:e) geschlossen, was ihre Repräsentationsmöglichkeit weiter schmälert (Quelle Educult 2023: Haus für neue Musik. Bedarfserhebung, S. 10, 03.02.24).
Es existieren bereits viele Ansätze, die auf die genannten Herausforderungen reagieren, Unterrepräsentationen von verschiedenen Gruppen, Szenen und Kunstformen im Kulturbetrieb abbauen versuchen und Möglichkeiten diskutieren, Entscheidungsmacht zu pluralisieren. Kurz zusammengefasst geht es darum, die existierende gesellschaftliche Realität auch im – vor allem öffentlich geförderten – Kulturbetrieb abzubilden, sprich Diversität zu fördern und ungleiche Machtstrukturen abzubauen. (https://www.musicaustria.at/wir-brauchen-visionen-wir-brauchen-utopien-veronica-kaup-hasler-im-mica-interview/, 03.02.24), Im Fokus stehen dabei häufig einer oder mehrere der folgenden Bereiche sowie die folgenden Intentionen:
- der ästhetische Inhalt: den etablierten Kanon und herrschende Kunstbegriffe zu erweitern,
- die beteiligten Künstler:innen: die Zusammenarbeit durch Netzwerke zu stärken, die Beteiligung von bislang marginalisierten Kunstschaffenden zu erhöhen und die Entscheidungsmacht zu pluralisieren sowie
- das Publikum: die Teilhabe und Partizipation von unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen zu erhöhen.
Dieser Beitrag konzentriert sich auf den ersten Bereich, den ästhetischen Inhalt, der häufig mittels machtvoller Kurator:innen entweder ein- oder ausgeschlossen wird, bei dem es um die Durchsetzung von hegemonialen Kunstverständnissen geht sowie ungleiche Machthierarchien reproduziert werden. Da jedoch das Kuratieren eng mit den anderen beiden Ebenen (Künstler:innen und Publikum) verbunden ist, können diese nicht außer Acht gelassen werden. Aus diesem Grunde werden sie von uns in zwei weiteren Beiträgen näher beleuchtet. Als Querschnittsthema zieht sich durch alle drei Essays die Frage, wie auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen im Kulturbetrieb reagiert werden kann, was gleichzeitig eine kritische Betrachtung von Machtbeziehungen im Kulturbetrieb umfasst.
2) Kuratieren für morgen
Umso wichtiger erscheint es, (negative) Einflüsse auf den kuratorischen Prozess zu hinterfragen. Jegliches Kuratieren wurde natürlich immer von verschiedenen internen und externen Aspekten beeinflusst. So sind kuratorische Entscheidungen nicht nur von u. a. Sozialisierung und Ausbildung sowie erworbenem Expert:innenwissen hinsichtlich des eigenen Geschmacks beeinflusst, sondern auch von beispielsweise politischen und finanziellen Rahmenbedingungen sowie gesellschaftlichen Diskursen.
Zudem stehen „Gatekeeping-Funktionen“ von Kurator:innen im Blickfeld, die Macht ausüben, indem sie entscheiden, was im kulturellen Feld präsentiert wird. Kritik an dieser Macht von Kurator:innen in der Standardisierung von Konventionen und im Prozess der Kanonbildung, der oft von einer westlichen Perspektive geprägt ist, wird jüngst immer häufiger geäußert. Damit verbundene Forderungen nach einem Ausgleich von Macht und Repräsentation in der kuratorischen Praxis wird vielfach als postkoloniales, anti-rassistisches oder inklusives Kuratieren bezeichnet. Aufgrund der Vielzahl dieser jüngeren kuratorischen Ansätze werden sie in diesem Beitrag als „Kuratieren für morgen“ zusammengefasst.
Diese aktuellen kuratorischen, machtkritischen Ansätze fordern zusammenfassend die Transformation von ungleichen Machtstrukturen, indem
a) etablierte Sichtweisen hinterfragt werden, um den herrschenden Kanon zu erweitern, künstlerische Diversität sichtbar zu machen und hegemoniale Kunstverständnisse aufzubrechen, sowie
b) vielfältige Perspektiven beispielsweise durch Ko-Kuration einbezogen werden.
Weiterhin werden verschiedene kuratorische Ansätze diskutiert, um antidiskriminierende Praktiken zu fördern. Diese Bemühungen umfassen Solidarität, die Auseinandersetzung mit Diskriminierungen und die Neuverhandlung von Normen. Insgesamt wird mittels kuratorischer Praxis eine erweiterte Demokratisierung des Kulturbetriebs durch Reflexion, Diskussion und aktive Beteiligung vieler angestrebt.
3) Neue Musik
Was bedeutet dies für die musikalische Praxis? Für die Umsetzung solch inklusiver kuratorischer Ansätze erscheint die zeitgenössische Musik prädestiniert, vor allem hinsichtlich des Wunsches nach der Erweiterung des etablierten Kanons und nach dem Aufbrechen hegemonialer Kunstverständnisse. Alleine die Fülle von musikalischen Begrifflichkeiten für Strömungen in der zeitgenössischen Praxis wie u. a. Neue Musik, experimentelle Musik, Klangkunst bis avangardistischer Jazz und improvisierte Musik bietet produktive Möglichkeiten des Nachdenkens über hegemoniale Kunstbegriffe und damit verbundene Ausschlüsse. Die Geschichte der zeitgenössischen Musik zeigt eine fortwährende Reflexion bis hin zu radikaler Neuorientierung, was Musik zu sein hat oder vielmehr bedeuten kann. Nicht zuletzt wurde die IGNM mit der Friedensbotschaft im Jahr 1922 gegründet, dass Neue Musik den Menschen achten und international vernetzen solle (Satzung IGNM §4: https://g-n-m.de/ueber-uns/satzung/, 03.02.24).
Jedoch ist Kuratieren auch im Feld der Neuen Musik selbstverständlich niemals per se transformativ oder inklusiv, geschweige denn ein machtfreier Raum. Auch hier können beispielsweise machtvolle Kurator:innen die eigene ästhetische Vision durchsetzen und andere dadurch exkludieren. In einigen Bereichen existiert ein durchaus eng gefasster standardisierter stilistischer Kanon. Anderswo wird zwar postuliert, dass das eigene Kunstverständnis keine musikalischen Ansätze ausschließen würde, die kuratierten Programme weisen dennoch eine gewisse, häufig westlich geprägte Homogenität auf. Wie auch in anderen musikalischen Szenen finden sich vermehrt Akteur:innen zusammen, die sowohl hinsichtlich ihrer ästhetischen Ausrichtung als auch hinsichtlich ihrer Machtposition vergleichbar sind, so dass bislang marginalisierte Kunstformen und Künstler:innen exkludiert bleiben.
Dennoch bietet das Kuratieren von Neuer Musik u. a. aufgrund des stilistisch weiten Spektrums vielfältige Ansätze, um auf die genannten sozialen Herausforderungen zeitgemäß zu reagieren. Dabei ist vor allem Reflexion der bestehenden Machtverhältnisse relevant und eine daraus abgeleitete Transformation von bestehenden Strukturen oder das reflexive Ausprobieren neuer Wege des Kuratierens. Mögliche Reflexionsfragen wären dabei zum Beispiel:
- Welche Akteur:innen sind bereits vertreten, welche sind bislang ausgeschlossen?
- Welche ästhetischen Perspektiven sind bereits vertreten, welche sind bislang ausgeschlossen?
- Welche Bedeutung hat meine Position als Kurator:in in diesem Kontext?
- Wie lässt sich machtkritisches Denken und Diversitätsförderung weiter in kuratorische Prozesse einbinden?
- Inwiefern wird die existierende gesellschaftliche Realität auch im – vor allem öffentlich geförderten – Kulturbetrieb abgebildet?
Weiterhin sollte ein inklusiv gedachter kuratorische Ansatz den Einbezug von möglichst vielen Perspektiven im Sinne einer Ko-Kuration beinhalten. Damit es nicht zu Chaos kommt, und um zu verhindern, dass wieder nur die machtvollen Positionen Einfluss nehmen und unsichtbare Akteur:innen unterrepräsentiert bleiben, sollte sichergestellt werden, wie ein solcher Ko-Kurationsprozess in einem wechselnden Kollektiv gerecht, transparent und beispielsweise durch eine kontinuierliche moderierende Instanz zwar flexibel, aber auch nachhaltig gestaltet werden kann.
4) Ausblick
Dabei ist die Kontextbezogenheit und Komplexität eines solchen Kuratierens zu betonen. Es gibt keine allgemeingültige Methode, sondern einen fortwährenden Prozess der Auseinandersetzung mit Macht und Geschichte. Kuratieren erfordert ein kontinuierliches Nachdenken und beständigen Austausch über gesellschaftliche Normen und den eigenen Standpunkt, um eine inklusive Kultur zu schaffen, die möglichst viele Perspektiven und Erfahrungen einbezieht.
Es sollte jedoch auch in den Blick genommen werden, dass utopische Aspekte kritisch reflektiert werden müssen, und dass diese Transformationen kontextuell und unter Einbeziehung verschiedener Stimmen verhandelt werden sollten, um keine neuen Dichotomien zu schaffen. „Denn es geht beim Kuratieren nicht darum, die Überlegenheit ‚eigener‘ Kunstbegriffe, Präsentationsmodi, Deutungsmonopole und Narrative unter Beweis zu stellen und dadurch ‚andere‘ zu dominieren, sondern vielmehr darum, disparate Räume zu schaffen, in denen ohne Angst und Konkurrenzdruck Imaginäres bewusst werden darf, Wissensordnungen und Identitäten als veränderbare Konstrukte wahrzunehmen sind, Modelle von Teilhabe experimentell erprobt und Konflikte in gegenseitigem Respekt offen ausgetragen werden.“ (Tietenberg, A. 2021: Was heißt ‚kuratieren‘ heute? Potentiale für transnationale Kooperation. ifa-Edition Kultur und Außenpolitik. Stuttgart: ifa, S. 9)
Dabei wird mit dem Kuratieren für morgen eine Möglichkeit betrachtet, die bisher unterrepräsentierten Akteur:innen einzubeziehen, Rollen zu verschieben und neue Organisationsformen zu erproben. Es hat das Potenzial, das Kuratieren zu demokratisieren, solange bestehende sozioökonomische Ungleichheiten nicht vernachlässigt werden.
Allerdings wird auch kritisiert, dass Kuratieren möglicherweise nicht mehr als ein neues, dennoch hegemoniales Narrativ darstellt, das die bestehenden Ungleichheiten verschleiert und die Machtstrukturen beibehält, ohne sie tatsächlich zu ändern. Selbst wenn Beteiligung und Pluralität gefördert werden, reicht es möglicherweise nicht aus, solange die herrschenden Konzepte von Kunst und Kultur sowie die bestehenden Machtverhältnisse nicht grundsätzlich hinterfragt und vor allem geändert werden.
Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, nicht nur Machtstrukturen zu reflektieren, Fallstricke zu beachten, die entstehen können, wenn Entscheidungsmacht abgegeben wird, oder mehr Beteiligte einzubeziehen, sondern auch die disziplinäre Macht der etablierten Kunstbegriffe und Institutionen grundlegend zu hinterfragen. Der Kernpunkt liegt darin, dass Kuratieren nicht nur eine Neuverhandlung ästhetischer Bedeutungen betrifft, sondern auch eine Neukonzeption kuratorischer Praxis, die auch über die Grenzen des Etablierten hinausgeht.
Lutz Dollereder und Lisa Gaupp
Über die Autor:innen:
Der Kulturwissenschaftler Dr. Lutz Dollereder ist an der Schnittstelle von Kultur und Wissenschaft tätig und wurde mit seiner Arbeit zur Netzwerkbildung im Musiksektor Niedersachsens promoviert. Als Leiter des Zentrums Musik 21 der Niedersächsischen Gesellschaft für Neue Musik wirkte er als zentrale Kontaktperson für Neue-Musik-Initiativen maßgeblich an der Beantragung und Umsetzung des Projekts „Musik 21 Niedersachsen“ im Netzwerk Neue Musik der Bundeskulturstiftung Deutschlands mit.
Die Musikethnologin und Kultursoziologin Univ.-Prof. Dr. Lisa Gaupp ist Professorin für Cultural Institutions Studies am Institut für Kulturmanagement und Gender Studies (IKM) der mdw-Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. In ihren aktuellen Forschungen interessiert sie sich für Möglichkeiten der Transformation von (globalen) Machtasymmetrien im kulturellen Feld. Im April 2024 richtet sie im Team die ko-kuratierte Veranstaltung „Critiques of Power in the Arts“ aus: https://www.mdw.ac.at/ikm/veranstaltungen/critique-of-power-in-the-arts/