Film Musik Gespräche: Gustav Deutsch / Burkhard Stangl

Eine Serie in Kooperation mit Sixpackfilm. Der Filmemacher Gustav Deutsch arbeitet für die Erstellung seiner Soundtracks seit über zehn Jahren eng mit Musikern aus der Elektronik-Szene zusammen. In unterschiedlichen Konstellationen haben Christian Fennesz, Martin Siewert und Burkhard Stangl wesentlich zu den Werken FILM IST. 7 – 12 (2002), Welt Spiegel Kino (2005) und FILM IST. a girl & a gun (2009) beigetragen. Christian Höller befragte Gustav Deutsch und Burkhard Stangl nach den Dynamiken, die diese Kooperation auszeichnen.

Christian Höller: Auffallend bei den Großprojekten der letzten zehn Jahre ist, dass sich die Bilder und Klänge, egal welchen Film man herausgreift, weitgehend autonom zueinander verhalten. Nur selten kommt es zu illustrativen, abbildenden oder auf „hollywoodeske“ Weise verstärkenden Beziehungen zwischen den beiden Komponenten. Wie bewegt man sich generell als Filmemacher und Musiker aufeinander zu? Wie voneinander weg?

Gustav Deutsch: Von der grundsätzlichen Idee her geht es bei keinem der drei Filme, was den Sound betrifft, um eine Verstärkung oder Illustration der Bilder, sondern ganz klar um eine eigenständige Ebene. Es soll nicht die Reminiszenz an das Material im Mittelpunkt stehen, sprich eine Art Klang, die in der Zeit der Bilder bleibt. Die Soundtracks sollen vielmehr eine Art Brücke schlagen zwischen der Zeit, aus der die Bilder kommen, und dem Jetzt – und vielleicht sogar der Zukunft.

Burkhard Stangl:
Ich denke, dass eine musikalische „Illustration“ des Materials den Intentionen des Filmemachers Gustav Deutsch komplett zuwiderlaufen würde. Vielmehr geht es um den Versuch, die Bildergewalt vergangener Zeiten durch die besondere Art der Zusammenstellung mit neuem Gehalt aufzuladen. Wollte man diese neuen Inhalte musikalisch bebildern, würde man sie vermutlich nivellieren und den gegenteiligen Effekt von dem erzielen, was eigentlich erwünscht ist.

Deutsch:
Ich denke, es geht primär auch um Kontraste und Spannungen. Spannung entsteht ja nicht nur dadurch, dass es wie im Hollywood-Kino laut wird, wenn die Action einsetzt, sondern vielleicht im Gegenteil, dass der Ton ganz leise wird.

Stangl:
Wobei es in der Zusammenarbeit auch immer wieder Momente gibt, wo durch zufällige Koinzidenzen so etwas wie eine Bebilderung entsteht und Gustav, der das letzte Wort bei der Musikauswahl hat, dies auch so stehen lässt.

Höller: Die drei Großprojekte verfolgen zum Teil sehr unterschiedliche Zugänge, was das Bild-Ton-Verhältnis betrifft. Bei FILM IST. 7 – 12 etwa verhält sich der Soundtrack an manchen Stellen geradezu kontrapunktisch zu den Bildern. In dem Abschnitt über das Komische beispielsweise signalisiert die Musik eher so etwas wie Bedrohlichkeit und Befremden. Ist es ein spezielles Anliegen, auf diese Weise dem Charakter der Bilder entgegenzuwirken?

Deutsch: Komik, um das Beispiel aufzugreifen, hat für mich eher mit „strange-ness“ zu tun als mit Lustig-Sein. Meine frühesten Erlebnisse mit komischen Filmen wie Dick und Doof waren eigentlich sehr erschreckende, und ich habe mich als Kind dabei eher gefürchtet. Auch Slapstick ist für mich nicht unbedingt etwas, das zum Lachen anregt. Die Frage, um die es mir geht, betrifft die Basiselemente des Komischen, etwa dahingehend, ob Komik nicht auch sehr viel mit Schadenfreude und Voyeurismus zu tun hat. Prinzipiell besteht die Frage an die Musiker nicht darin, Musik zu einem bestimmten Film zu entwickeln, sondern vielmehr zu bestimmten Themen. Das musikalische Material, das ich im Laufe von zwei Jahren für FILM IST. 7 – 12 bekommen habe, erstreckt sich auf 42 CDs. Dieses habe ich in einer eigenen Tonbank, parallel zur Bildbank, geordnet, woraus ich mich in der Folge dann bedient habe. Im Zuge dieses Prozesses ist sicher auch etwas bei Kapiteln oder Themen gelandet, wofür es ursprünglich gar nicht vorgesehen war. Aber ich gehe dies alles am Ende stets gemeinsam mit den Musikern durch, und wir entscheiden, ob es so bleibt oder nicht.

Höller: Damit sind wir schon mitten im Arbeitsprozess: Es wird also für die „Vertonung“ nicht vom fertigen Schnitt ausgegangen, sondern die Zusammenarbeit beginnt schon viel früher.

Stangl:
Dazu eine kurze Note vorweg: Wenn wir von den drei großen Arbeiten der letzten Dekade sprechen, so heißt das für mich als Musiker, dass ich tatsächlich zehn Jahre lang mit Gustav Deutsch zusammengearbeitet habe. In jedem Fall sind die Musiker bereits im Projektstadium involviert. Bevor noch irgendein Bild existiert, wird die Thematik besprochen, und die Musiker beginnen gleichsam im Blindflug bzw. assoziativ zu den vorgeschlagenen Themenfeldern Musik zu produzieren. Der nächste Schritt besteht darin …

Deutsch:
… dass Material gesammelt wird, und zwar in möglichst großer Bandbreite. Was im Übrigen bei den einzelnen Projekten sehr unterschiedlich verläuft. Bei FILM IST. 7 – 12 handelt es sich ausschließlich um Eigenmaterial. In andere Projekte ist auch kuratiertes Material eingeflossen, weil ich die Musiker gebeten habe, auch Fremdmaterial miteinzubeziehen. Bei Welt Spiegel Kino etwa gibt es von den Kulturen her, um die es geht, drei verschiedene musikalische Background-Situationen, nämlich Wienerlied, Fado und Kronchong, populäre indonesische Musik, mit Einflüssen aus Indien, Hawaii, und Portugal. In all diesen Feldern haben wir nach Musik gesucht, die Burkhard dann transkribiert hat, um sie neu einspielen zu können.

Stangl: Dadurch, dass die Musiker von Anfang an in das Projekt involviert sind, kommt es tatsächlich zu einem permanenten Wechselspiel. Einerseits ist der Einfluss des Bildmaterials, das Gustav uns zur Verfügung stellt, sehr stark. Umgekehrt kommt es auch immer wieder vor, dass sich aufgrund der Musik erst der Schnitt bzw. die Zusammenstellung einer bestimmten Bilderfolge herausdestilliert. Ich glaube, es gibt weltweit niemanden, der als Filmregisseur auf diese Weise mit Musik arbeitet und bei dem die Musik ein derart integraler Bestandteil ist.

Höller: Wie oft geht das ganze hin und her?

Deutsch: Sobald die Bildbank und die Tonbank im Computer sind, entstehen erste Sequenzen von etwa zehn Minuten Länge. Dann folgt ein Treffen mit den Musikern, um das Resultat zu besprechen. Wie oft dies dann hin und her geht, hängt in erster Linie von der Verfügbarkeit der Musiker ab bzw. davon, wann ich wieder neues Material geschnitten habe. Prinzipiell zeugt es von einem großen Vertrauen, dass die Musiker mir ihr Material anvertrauen, dass ich dann zum Beispiel loope oder mit etwas anderem überlappen lasse.

Höller: Der Filmemacher wird also selbst musikalisch aktiv. Ist auch die Möglichkeit impliziert, dass zu einer fertigen Schnittfolge Musik produziert wird? Oder ist alles schon viel früher festgelegt?

Stangl: Um hier nochmals auf das vorhin Gesagte zurückzukommen: Der Eindruck, die Musik würde bei FILM IST. 7 – 12 die Bilder konterkarieren, stimmt im großen und ganzen. Dennoch gibt es auch Passagen, wo der Sound kadergenau abgestimmt ist. Dies ist in der Gesamtkomposition sehr wichtig, nämlich für Momente das direkte Zusammengehen von Bild und Ton aufblitzen zu lassen, speziell im Hinblick auf ein 90-minütiges Filmwerk, das keine konkrete Handlung, aber eine abstrakte Musik hat. Das Schöne für uns Musiker ist, wenn dieses Zusammengehen trotzdem keinen erzählerischen Charakter annimmt.

Höller: Wichtig ist also auch der Wechsel zwischen kadergenauer Rhythmik und Stellen, wo sich die Musik komplett vom Bild ablöst.

Deutsch: Ich kann mir prinzipiell nicht vorstellen, ohne Musik zu schneiden. Es gibt keinen einzigen Abschnitt, wo ich das Bilde schneide und dann Musik dazu suche, sondern ich beginne immer mit Musik und Bild gemeinsam. Dabei probiere ich Verschiedenes aus und schaue, was am besten funktioniert. Manchmal folgt der Bildschnitt dabei auch der Musik. Was sehr außergewöhnlich ist im weiteren Prozess, ist, dass von den Musikern auch Fremdmaterial weiterbearbeitet wird. Bei FILM IST. 7 – 12 hatte ein einzelner Musiker die Fertigstellung eines Kapitels über, worin dann wieder Musikstücke der jeweils anderen enthalten sind. Darin liegt auch die unterschiedliche Handschrift einzelner Kapitel begründet. Der Abschnitt über Magie ist etwas völlig anderes als jener über Schrift/Sprache, was auch an der Signatur des jeweiligen Musikers liegt, der den betreffenden Teil fertig gestellt hat.

Höller: An machen Stellen ist es gleichwohl so, dass die Sound-Ebene eine ausgesprochen starke Präsenz entwickelt (ein Beispiel ist der Abschnitt 7.5 von FILM IST. 7 – 12). Läuft man damit nicht Gefahr, die Bilder mit dem markanten elektronischen Sound zu übertönen bzw. in den Schatten zu rücken? Inwiefern wird so etwas in Kauf gekommen? Inwiefern wird es vielleicht sogar begrüßt?

Deutsch: Meiner Ansicht nach beträgt der Anteil des Tons oder der Musik an der Wirkung eines Films mehr als zwei Drittel. Das heißt, der Ton ist für mich immer wichtiger als das Bild. Wenn der Ton die „leading role“ übernimmt, dann soll dem so sein – weil die Musik eben so stark ist und das Bild in den Hintergrund tritt. An anderen Stellen ist es wieder umgekehrt. Ingesamt sind beide gleichwertige Partner, und es gibt keinen Grund, warum der Ton die zweite Geige spielen soll.

Stangl: Ich habe in einem kleinen Text über Gustav Deutsch zu behaupten gewagt, – vermutlich gegen seine eigene Intention – dass er auch Komponist ist. Es geschieht nichts ohne seine Entscheidungskraft. Wenn es Passagen gibt, in denen die Musik stark im Vordergrund steht, so ist dies vielleicht unter dem Einfluss der Diskussionen mit den Musikern entstanden, aber letztendlich liegt es ganz in seiner Verantwortung. Ich kann in so einem Fall schwer sagen, ich hätte diese Passage lieber um 4 dB leiser gemacht. Die Oberhoheit hat stets Gustav, und das ist auch gut so.

Deutsch: Der Endmix entsteht immer zusammen mit einem Musiker, und das ist meistens Christian Fennesz. Dort wird selbstverständlich besprochen, ob man an bestimmten Stellen mit dem Ton rauf- oder runterfahren sollte. Aber so etwas geht schwer in der Gruppe.

Stangl: Wobei die Entscheidung, die getroffen wurde, mit den anderen akkordiert wird. Das ganze ist ein sehr aufwändiger Arbeitsprozess, wobei die Demokratie gleichsam beim Schopfe gepackt wird. Es funktioniert deshalb so gut, weil es Gustav Deutsch schafft, die richtige Kombination von Leuten zusammenzubringen, die auch miteinander gut können. Außerdem ist in der Projektplanung der Musik von vorneherein ein bestimmtes Budget zugedacht, das es den Musikern ermöglicht, in einer derartigen Konstanz an der Sache zu arbeiten.

Höller: In dem erwähnten Text von Burkhard Stangl heißt es sinngemäß auch, dass Bild und Ton einander auf neugierige Weise fremd bleiben. Es besteht also eine Art produktive Kluft zwischen dem, was uns die Bilder zeigen, und dem, was die Musik evoziert. Beide Ebenen sind in hohem Maße komponiert, ohne ineinander aufzugehen oder sich aufeinander abbilden zu lassen. Wird mit dieser Spaltung bewusst gearbeitet?

Stangl: Es stimmt, dass sich die beiden Ebenen gleichsam beäugen und sich auf fruchtbare Weise ergänzen. Dies ist als Struktur unter allen Beteiligten gewissermaßen vorausgesetzt. Gleichzeitig empfinde ich, wenn das Werk fertig ist, so etwas wie Homogenität bzw. ein Zusammenspiel der beiden – ja die bestmögliche Art und Weise, wie das ganze zusammengehalten werden kann.

Deutsch:
Die einzelnen Projekte sind diesbezüglich recht verschieden, und man lernt mit der Zeit, wie man immer besser zusammenarbeiten kann. FILM IST. a girl & a gun verfolgt einen ganz anderen Zugang als FILM IST. 7 – 12, auch im Hinblick darauf, wie das Bildmaterial behandelt wird. Es ist dabei viel weniger um ein analytisches Sezieren gegangen oder um ein staccatoartiges Aufsplitten im Sinne des Suchens nach den Grundelementen eines Themas, wie es bei den Abschnitten über Komik oder Mystik der Fall war. Vielmehr stand im Mittelpunkt, die Emotion, die aus dem Zusammenspiel von Bild und Musik resultiert, in den Zuschauerraum zu übertragen. Die Bedrohung, die etwa im Thanatos steckt, soll auch emotional nachvollziehbar sein. Deshalb sind hier auch Musiken zum Tragen gekommen, die für FILM IST. 7 – 12 undenkbar gewesen wären. So etwas wie „Pie Jesu“ aus dem Requiem von Lili Boulanger oder andere religiösen Musik war bei FILM IST. 7 – 12 nicht einmal nur angedacht. Außerdem war mir bei FILM IST. a girl & a gun wichtig, die Stimme einzusetzen, weil diese ein Emotionsträger und -vermittler ist. Es ging viel stärker darum, einen Kontext zu schaffen, in dem die ganze Thematik angesiedelt ist.

Stangl:
Das Neue bei FILM IST. a girl & a gun war für uns Musiker, dass Gustav Fremdmusiken und Songs wollte. Nur aufgrund der langen Zusammenarbeit war es möglich, dass dabei nicht der Narzissmus und die Eitelkeit der einzelnen Personen zum Durchbruch kamen. Das ganze war für uns auch insofern neu, als wir unterschiedlichstes Material zusammenfischen und uns um die Rechte dafür kümmern mussten – wobei einiges. teilweise zum Glück, nicht funktioniert hat, anderes dafür wieder ganz wunderbar. Es ist dies eine ganz andere Verantwortung, sozusagen als „musical director“ zu agieren.

Höller: Ging es bei der Einbeziehung von Fremdmaterial auch darum, eine gewisse stilistische Geschlossenheit, die sich sonst vielleicht einzuschleichen begonnen hätte, aufzubrechen?

Deutsch: Nein, das war überhaupt nicht der Grund. Ich wollte zum Beispiel sehr androgyne Stimmen haben, einen Countertenor etwa, oder ausgesprochen männliche oder weibliche Stimmen. Zum Teil kommen diese bereits in den verwendeten Originalfilmen vor, etwa in der Zarah-Leander-Passage aus La Habanera, die einer wichtigen Phase des frühen deutschen Tonfilms entspringt. Darin war fast immer eine Musicalpassage beinhaltet, und die Filme haben einen Großteil ihrer Wirkung durch die Musik bzw. den Gesang erzielt. Dies war etwas, was ich von Burkhard, Christian oder Martin selbst nicht unbedingt erwarten konnte. Die Frage war daher, ob sie vielleicht etwas für Countertenor komponieren könnten – etwas, das Olga Neuwirth mit „Five Daily Miniatures“ bereits gemacht hatte, zu einem Text von Gertrude Stein, weswegen dann dieses Stück verwendet wurde, das beim Abschnitt „Paradies“ bestens gepasst hat. Sämtliche verwendete Musiken sind so eigentlich über persönliche Verbindungen ins Spiel gekommen.

Höller: Daran möchte ich eine Frage zur allgemeineren Methodik anschließen: Der Filmemacher Gustav Deutsch arbeitet in den besagten Arbeiten ausschließlich mit „gefundenen“ Bildern, die neu arrangiert werden. Entspricht dem etwas auf musikalischer Ebene?

Stangl: Es gib vielleicht insofern eine Parallele, als ab dem Zeitpunkt, in dem Gustav ein Projekt vorschlägt, die eigene Soundbank durchforstet wird. Man fischt dann vielleicht ein File heraus, das man für eine reine Audio-Arbeit nicht verwendet hätte. Wenn dieses Gefallen findet, komponiert man sie vielleicht neu oder arbeitet sie um. Jeder der beteiligten Musiker nimmt die Projekte stets zum Anlass, um in den eigenen Audioarchiven zu recherchieren und dabei eventuell auf etwas zu stoßen, das dort seit 20 Jahren ohne Verwendung herumliegt. Wir betreiben also eine Art Archäologie der eigenen Biografie.

Deutsch:
In FILM IST. a girl & a gun kommen beispielsweise Kompositionen vor, die Burkhard für Sängerinnen geschrieben hat und die bereits aufgenommen waren. Diese stellt er dann für den Film zur Verfügung.

Höller: Die Frage ist vielleicht auch, ob es überhaupt wünschenswert wäre, dass auf Musikebene das Arbeitsprinzip, das bei den Bildern vorherrscht, verdoppelt wird. Oder ob dort nicht vielmehr ein autonomer Prozess stattfinden soll.

Deutsch:
Bei Welt Spiegel Kino erging der Auftrag an die Musiker, möglichst viel Originalmaterial zu recherchieren, was Burkhard dann etwa in Bezug auf das Wienerlied der 1910er-Jahre gemacht hat. Das verwendete Filmstück ist aus dem Jahr 1912, und die Frage war, was für Originaltonaufzeichnungen aus dieser Zeit überhaupt existieren. Im Phonogramm-Archiv hat Burkhard dann Stücke gefunden, die er zum Teil transkribiert hat und die dann neu interpretiert wurden. Aber es wurden auch einzelne Stücke im Original belassen, was ebenso ein Fall von found footage ist – von gesuchter found footage.

Höller: In Welt Spiegel Kino scheint der Sampling-Anteil insgesamt beträchtlich höher zu sein als bei FILM IST. 7 – 12.

Stangl: Der Anteil von Originalmusiken ist insgesamt gar nicht so hoch, dafür gab es aber viele Ersttranskriptionen. Die Stücke haben durch die neue Instrumentierung oftmals eine andere Farbe bekommen – wobei die Idee war, eine leicht gebrochene Hommage an die jeweilige Musik zu machen. Die Originalmusik taucht eher wie eine Hauch von Erinnerungen auf …

Deutsch:
… oder als Schluss, etwa im Wien-Teil, wo Maly Nagl das Schlusslied singt. In der Portugal-Episode kommt am Anfang und am Schluss der gleiche Fado-Sänger vor, wodurch sich ebenfalls ein Kreis schließt. Das Konzept war ja, die Bilder mithilfe der Musik zu verorten. Wobei für die zeitgenössischen Interpretationen ein anderes Konzept galt, ein stärker verbindendes, im Sinne von Leitmelodien, die bestimmten Figuren zugeordnet sind. Beispielsweise hört man, immer wenn ein Politiker auftritt, egal ob es sich um einen portugiesischen, einen indonesischen oder um Kaiser Franz Joseph handelt, die gleiche Grundmelodie. Das sind durchgängige Motive, die gleichsam außerhalb der Zeit liegen.

Höller: Hat Welt Spiegel Kino in historischer Hinsicht nicht einen viel „rekonstruierenderen“ Charakter als die anderen Arbeiten? Die chronotopische Verankerung scheint jedenfalls sehr stark zu sein.

Deutsch: Die Verortung durch die Musik ist hier sicherlich am stärksten. Aber gerade durch den Versuch, verbindende Elemente zu finden oder eine Brücke herzustellen, indem verschiedenen Charakteren gleiche Melodien unterlegt werden, wird dies wieder gebrochen. Es geht darum, Parallelitäten herauszuarbeiten zwischen den Existenzen. In allen drei Ländern hat es zu der Zeit einen großen politischen Umschwung gegeben: in Indonesien das bevorstehende Ende der Holländischen Kolonialherschaft, in Österreich war es der Vorabend des Ersten Weltkriegs, in Portugal die eben stattgefundene Salazar-Revolution – alles sehr einschneidende Ereignisse, die sich auch in den Bildern niederschlagen. Eine Frage an die Musik war, welche Melodien sich für politischen Figuren finden lassen, welche diese Art von Bedrohungssituation wiedergeben.

Höller: Was bei Welt Spiegel Kino ebenfalls viel stärker als bei den anderen Arbeiten zutage tritt, ist die Konzentration auf ein einzelnes Instrument, nämlich das Cello. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Deutsch: Christian Fennesz hat vorgeschlagen – und das war für uns absolutes Neuland –, nach Fertigstellung des Films einen Musiker beizuziehen, die überhaupt kein Vorwissen von dem Projekt hatte. So kam die Idee auf, den belgischen Cellospieler Jean-Paul Dessy einzuladen, zum fertigen Film live dazuzuspielen. Der so entstandene Soundtrack wird im Endmix immer wieder hereingeholt, dann wieder weggemischt. Die grundlegende Idee lag darin, die drei Teile durch ein einzelnes Instrument zu verbinden.

Stangl:
Wir haben die Gelegenheit dann in einer zweiten Session gleich auch genützt, um bestimmte Stimmen, sei es vom Wienerlied oder vom Fado, die ansonsten ja sehr archetypisch klingen, mit dem Cello neu einzuspielen. Dabei handelt es sich um eigens transkribierte Parts.

Höller: Zum Verhältnis von Geschichtlichkeit und Gegenwärtigkeit würde mich noch ein spezieller Aspekt interessieren: In einer naiven Herangehensweise lassen sich die Filme vielleicht auch so lesen, dass ein Spektrum von historischen bzw. dem frühen Kino entlehnten Bildern durch elektronische Musik in die Gegenwart geholt wird. Wie könnte man dieses Verhältnis anders fassen?

Deutsch: Dazu muss ich festhalten, dass die verwendeten Bilder in keiner Weise Vergangenheit repräsentieren. Ich bin diesen Filmen gegenüber weder sentimental noch melancholisch. Andere Filmemacher mögen sich vielleicht an der Ästhetik des Materials bzw. dessen Brüchigkeit abarbeiten. Mir ist es wichtig, die Kraft, die in diesen Bildern steckt und die auch heute noch Gültigkeit hat, herauszuarbeiten. Gerade wenn man an Zeiten denkt wie die 1910er-Jahre in Wien oder Portugal in den 1930er-Jahren, so erzählen uns die betreffenden Bilder in erster Linie Geschichten. Geschichte ist gemacht aus diesen persönlichen Geschichten – sie basiert nicht auf großen Persönlichkeiten, sondern auf Leuten, die diese Geschichten repräsentieren. Daher sind diese Geschichten nicht Vergangenheit, sondern auch heute noch gültig, als Stimmung, als Element von etwas, das man begreifen oder lernen kann. Film ist ein wissensgenerierendes Medium, und mit jedem gesehenen Bild lernt man etwas dazu. Insofern ist dieser Prozess nichts Vergangenes, sondern etwas zutiefst Heutiges. Was die Musik betrifft, so ist die Idee, die Bilder nicht wie bei einem Stummfilmfestival von Anfang bis zum Ende mit Piano zu begleiten – etwas, das es in dieser Ausschließlichkeit nicht einmal in der Frühzeit des Kinos gegeben hat, weil auch Geräuschemacher und Erzähler involviert waren, die das ganze zu etwas höchst Lebendigem gemacht haben. Insofern besteht die Herausforderung genau darin, mit zeitgenössischen Musikern zu arbeiten, die dazu beitragen, den Film als heutige Erfahrung bzw. als Erfahrung für einen selbst wahrzunehmen. Ich kann mir als Künstler nichts anderes wünschen als eine Erfahrung weiterzugeben, die den BesucherInnen einen anderen Blick ermöglicht.

Stangl:
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass der Kinematograph, also der „Bewegungsschreiber“, und der Phonograph, der „Klangschreiber“, in der gleichen Zeit entstanden sind und im Prinzip auf die gleiche Person, nämlich Edison, zurückgehen. Wir, sprich sowohl der Filmemacher als auch die Musiker, sind also unmittelbar mit dem Beginn einer neuen Technologie verbunden. Sich dessen bewusst zu sein, macht es überhaupt nicht schwer, mit alten historischen Filmdokumenten zu arbeiten. Wir recherchieren diese zwar, aber die Auseinandersetzung damit funktioniert auf eine zeitgenössische Art und Weise. Deshalb wäre es auch absurd, eine nicht auf dem höchsten Stand der Zeit produzierte Musik einzusetzen.

Höller: Ein Großteil der Musik ist das, was man gemeinhin als abstrakt charakterisieren würde – im Gegensatz zu eher harmonie- oder melodiefixierten Spielarten. Ab welchem Punkt darf sich auf der Soundebene eine gewisse Poppigkeit einschleichen?

Stangl: Dazu kann ich ganz euphorisch sagen, dass es überhaupt keine Vorgaben gibt. Das ist in erster Linie eine Sache der verschiedenen Künstlerpersönlichkeiten. Fennesz und Siewert arbeiten tendenziell viel melodiöser als ich, und dennoch kann ich sie bisweilen mit dem einen oder anderen Lied aus meiner Feder überraschen. In der Zusammenarbeit mit Gustav Deutsch können wir uns auch erlauben, ein bestimmtes Bild der Musiker, das wir repräsentieren, zu unterlaufen. Warum wir ihm so verbunden sind, liegt auch daran, dass es bei ihm stets auch die Möglichkeit gibt, ein Projekt live umzusetzen. Gustav stellt immer wieder neue Passagen zusammen, zu der wir uns live präsentieren können. Auch dies erzeugt eine gewisse Reziprozität.

Höller: Sind diese neu editierten Passsagen vor den Konzerten bekannt?

Deutsch:
Ich versuche bei jedem Projekt zwei Dinge. Das eine ist, zusätzlich zur linearen Fassung eine Ausstellungsversion zu realisieren. So hat es für FILM IST. 1 – 12 eine Installation mit einer 8-Screen-Projektion gegeben, wofür das Material völlig neu geschnitten wurde, Loops gelegt und eigene Choreografien gemacht wurden. Zu dieser Installation, die von der Decke hing, hat es eine Live-Performance gegeben. An manchen Orten wurden die acht Screens auf vier reduziert, weil dies vom Raum so vorgegeben war. Es geht also nicht darum, zu dem fertig geschnittenen Film Live-Musik zu machen, sondern eine Form zu finden, die im Ausstellungszusammenhang funktioniert, und eine, die im Live-Zusammenhang funktioniert. Oft soll dabei auch ein neues Publikum angesprochen werden. Für FILM IST. 7 – 12 haben wir etwa mit dem Festival Wien Modern kooperiert, gleichzeitig gab es im Wiener Künstlerhaus das ganze in Form einer Ausstellung, was wieder ein völlig anderes Publikum angezogen hat.

Stangl: Umgekehrt finden wir auch immer wieder die Möglichkeit, vor einem neuen Publikum zu spielen, etwa wenn wir bei einem Filmfestival auftreten. Meistens ist ein Projekt schon lange abgeschlossen, und es ergibt sich immer noch die Gelegenheit, es in Live-Situationen neu zu präsentieren.

Höller: Wobei dann eine andere Form von Bildzusammenstellung verwendet wird. Es würde vermutlich der erprobten Arbeitsweise zuwiderlaufen, den fertigen Film immer wieder neu live vertonen zu lassen.

Deutsch: Das haben wir von Anfang an kategorisch ausgeschlossen. So gut wie der Soundtrack zu einem Film geworden ist, so gut würden wir das live niemals hinkriegen. Für die Live-Präsentation von FILM IST. a girl & a gun haben wir zum Beispiel nur Originalmaterial, das ich in der Bildbank hatte, aber im Film gar nicht oder nur zum Teil vorkommt, verwendet. Dieses Material bekommen die Musiker vor dem Live-Act, wodurch das ganze wieder eine höchst eigenständige Sache wird.

Höller: Abschließende Frage, wird schon am nächsten Projekt gearbeitet?

Deutsch: Ich plane derzeit etwas ganz anderes als die bisherigen Found-Footage-Filme, nämlich einen Spielfilm. Dieses Projekt wurde bereits vor vier Jahren begonnen, und inzwischen ist eine erste Episode entstanden. Parallel dazu ist das ganze auch ein Ausstellungsprojekt, und das Filmset, in dem die Episode spielt, war 2008/09 in der Edward-Hopper-Schau in der Kunsthalle Wien zu sehen. Das Projekt beruht auf Hopper-Bildern, die dreidimensional nachgebaut werden, worin dann in sechs- bis zehnminütigen Episoden eine Geschichte erzählt wird. Bislang ist Christian Fennesz daran beteiligt, aber sobald die intensive Phase beginnt, hoffe ich, auch Burkhard für die weitere Recherche gewinnen zu können. Es geht dabei um eine sehr diffizile Sound-Ebene, die hier eine noch größere Rolle spielt, weil im Bild eigentlich nicht viel passiert. Das ganze besteht eher aus „lebenden Bildern“ wie bei frühen „Tableaus Vivants“, dazu gibt es eine Off-Stimme, die einen inneren Monolog spricht. Die Tonebene für die erste Episode besteht aus einem Song, den Christian Fennesz mit David Sylvian komponiert hat. Sollte der Film finanzierbar sein, ist vorgesehen, dass David Sylvian noch drei, vier weitere Lieder singt. Außerdem sind Sound-Zitate vorgesehen: Wenn die Schauspielerin etwa das Radio einschaltet, hört man etwa Duke Ellington – je nachdem, in welcher Zeit man sich gerade befindet. Der Film erstreckt sich von den frühen 1930er- bis in die 1960er-Jahre, wobei vieles mittels Musik verortet wird. Es gibt also noch eine ganze Menge zu tun.

Höller: Die Zusammenarbeit geht also in die nächste Dekade.

Deutsch: So ist es geplant.
Die Reihe Filmmusikgespräche findet im Rahmen der Kooperation zwischen mica – music austria, sixpackfilm und Diagonale – Festival des österreichischen Films statt.

http://stangl.klingt.org/
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