„Es gibt wirklich alles!“ – GERALD STOCKER im mica-Interview

GERALD STOCKER hat den PROTESTSONGCONTEST ins Leben gerufen – eine Veranstaltung, die sich auch dreizehn Jahre nach ihrer Gründung allergrößter Beliebtheit bei Musikerinnen und Musikern erfreut. Der Kommunikationsprofi (WIENER STAATSBALLETT) und Musikliebhaber sprach mit Markus Deisenberger über schmerzhafte Wahrheiten und die enorme Bandbreite der Protestkultur.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, den Protestsongcontest ins Leben zu rufen?

Gerald Stocker: Im Prinzip ging es um den 12. Februar 1934, also den 70-jährigen Jahrestag des blutigen Bürgerkriegs in Österreich. Thomas Gratzer hatte gerade den Rabenhof übernommen und kam auf mich zu, ob ich denn nicht eine Idee zu diesem Datum hätte. Ich hatte da in der Volksoper gerade das Projekt „Classic meets Electronic“ veranstaltet. Und ja, ich hatte eine Idee. Die schwarz-blaue Koalition war gerade im Amt und eine Menge Leute demonstrierten dagegen. Mein Vorschlag war: „Lass uns doch diese Kräfte bündeln und uns die Frage stellen, ob etwas wie damals heute noch möglich wäre. Das heißt, wir geben den Leuten eine musikalische Plattform für ihren Protest.“ Das Witzige war, dass FM4 anfangs gar nicht begeistert von der Idee war. Erst über die Hintertür von „Salon Helga“, wo Stermann und Grissemann das Projekt bewarben, landete es bei FM4.

Und das Projekt hieß von Anfang an Protestsongcontest?

Gerald Stocker: Ja. Am Anfang dachten ja viele, das sei ein Protest-Song-Contest, also ein Protest gegen den Song Contest. Wir mussten einige Male klarstellen, dass dem nicht so ist. Der Eurovision Song Contest war mir immer egal und nie Thema. Aber gerade dadurch, dass Stermann und Grissemann mitmachten, die den Song Contest ja lange für FM4 kommentiert hatten, gab es anfangs dieses Missverständnis. Andererseits gab es dadurch, dass sich die beiden bereit erklärten, den Bewerb zu kommentieren, gleich von Anfang an eine Wichtigkeit. Schon im ersten Jahr hatten wir knapp dreihundert Einsendungen.

War der Bewerb von Anfang an als wiederkehrende Veranstaltung geplant?

Gerald Stocker: Nein, gar nicht. Das war zunächst einmal als einmalige Veranstaltung zu diesem Jahrestag geplant, darüber hinaus haben wir uns gar keine Gedanken gemacht. Danach kam die Frage auf, ob es das wiedergeben würde. Und wir sagten uns: „Why not? Wenn die kritischen Stimmen da sind, soll es nicht an uns liegen, dass sie kein Gehör finden.“

Wie sieht es mit der Bandbreite der Beiträge aus? Wie viele sind ernst gemeint, wie viele sind reiner Jux?

Gerald Stocker: Derzeit haben wir circa 200 Einsendungen jährlich. Das ist genug Arbeit. Ich würde sagen, rund 20 Prozent davon sind Themaverfehlungen.

„[…] kritische Dinge mit einer lustigen Verpackung transportiert […]“

Inwiefern?

Gerald Stocker: Indem sich jemand darüber beschwert, dass er von der Freundin verlassen wurde oder die Schuhbänder nicht zubringt. Abstruseste Dinge. Lustig, aber nicht das, was wir suchen. Der Rest ist sehr konkret. Natürlich gibt es da auch immer wieder pauschale Kritik an den Zuständen und der Sinnlosigkeit der Politik, aber es ist doch erstaunlich, dass es bei der weitaus überwiegenden Anzahl der Einsendungen um ganz konkrete Dinge geht. Und diese konkreten Anliegen sind ein Spiegelbild der letzten Jahre: Das ging von Blau-Schwarz über George W. Bush bis hin zur sozialen Situation in Österreich, der derzeitigen Flüchtlingsmisere und so weiter. Natürlich ist das teilweise auch lustig und lustvoll im Sinne von ernsthaft lustig. Kabarett ist ja auch lustig, aber das, was dort gesagt wird, ist gleichzeitig oft von einer unheimlich schmerzhaften Wahrheit. Und wenn kritische Dinge mit einer lustigen Verpackung transportiert werden können, ist mir das immer noch lieber, als wenn ich ein Impulsreferat halten muss, und die Leute schlafen daneben ein.

Gibt es überhaupt noch den klassischen Protestsong in der Tradition eines Woody Guthrie?

Gerald Stocker: Absolut. Am Anfang war die Idee, zu schauen, wo der Protestsong steht. Das hat uns interessiert. Gibt es denn Sänger wie einen Billy Bragg überhaupt noch oder spielt sich das heute alles im Hip-Hop ab?

Und? Wie sieht es aus?

Gerald Stocker: Wir haben sehr schnell festgestellt und waren darüber sehr überrascht: Es gibt wirklich alles! Singer-Songwriter-Stuff, Rap, Hip-Hop, Schlager, Wienerlied, Elektronik, Punk, Electro-Pop. Es gibt eigentlich kein musikalisches Gebiet, das noch nicht vorgekommen wäre. Auch die Sieger hätten unterschiedlicher nicht sein können. Und genau das macht auch die Stärke des Bewerbes aus. In den Rabenhof kommen eben nicht 500 Punker, die sich zwanzig Punk-Bands anhören, und das war es dann. Das Publikum ist bunt gemischt und lässt auch bei allen Genres den gleichen Enthusiasmus walten, weil es um die Inhalte geht.

„[…] genau so old-school wie am ersten Tag.“

Was hat sich in den dreizehn Jahren geändert?

Gerald Stocker: Im Tun und Handeln hat sich gar nichts verändert. Klar, auf technischem Gebiet hat sich der Bewerb professionalisiert. Dass auf FM4 gestreamt wird und so weiter – das gab es anfangs nicht. Aber Auswahl, Verfahren und wie die Jury ihre Daten bekommt, das alles ist noch genau so old-school wie am ersten Tag.

Wie setzt sich die Jury zusammen?

Gerald Stocker: In der Vorjury ist es eine Mischung aus ehemaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, Musikerinnen und Musikern, kritischen Menschen, die nicht unbedingt einen großen Namen haben, die aber begeisterungsfähig und in der Materie bewandert sind, eine gute Mischung auch zwischen Frauen und Männern quer durch die Genres. Im Finale gibt es sechs Juroren, drei Männer und drei Frauen. Das sind Journalistinnen und Journalisten und politisch engagierte Menschen. Und da nehmen wir auch besonderen Bedacht darauf, dass keine Parteisoldatinnen und Parteisoldaten dabei sind. Das sind Leute wie Doris Knecht, Peter Hein, Hansi Lang, Stefan Weber von Drahdiwaberl und Sigi Maron – durch die Bank also Leute, die man mit kritischem Gedankengut in Verbindung bringt. Moderieren wird es heuer zum dritten Mal Michael Ostrowski, nachdem Dirk Stermann nach zehn Jahren den Hut genommen hat. Er ist aber auch nach wie vor sehr interessiert daran, was passiert. Der Moderator hat es besonders schwer, weil er sich mit den Sängerinnen und Sängern solidarisieren, das Publikum herausfordern und die Jury anstacheln muss. Ostrowski macht das hervorragend.

In welchem Stadium befindet sich der heurige Bewerb?

Gerald Stocker: Jetzt haben wir gerade das Vorfinale vor der Tür, das am 25. Jänner stattfinden wird. Die besten 25 Beiträge haben wir also ausgesucht – eine spannende Mischung verschiedener Themen, verschiedenster Genres. Da muss man schon auch schauen, dass die Mischung stimmt. Vielleicht sind es dann gar nicht die 25 besten Beiträge …

Aber die richtigen?

Gerald Stocker [lacht]: Genau. Zehn Punk-Songs oder zehn Hip-Hopper im Finale wären nicht gut für den Bewerb. Und es gibt auch Bands, die aus Deutschland stammen und deshalb nicht zum Vorfinale kommen können. Im Vorfinale spielen deshalb etwa drei Viertel live, der Rest wird vom Band eingespielt. Darunter ist auch die eine oder andere einheimische Band, die live aufwendig zu realisieren ist. Im Haus der Begegnung haben wir keine so aufwendige Backline zur Verfügung wie beim Finale im Rabenhof. Und die Reaktionen sind auch auf die eingespielten Dinge wirklich toll.

Gibt es in dem Stadium auch noch skurrile Sachen?

Gerald Stocker: Ja. Mitunter schon. Viele Bands inszenieren ihren Auftritt. Das gerät manchmal lustig, manchmal halblustig. Der eine oder die andere schadet sich durch die Inszenierung auch selbst, aber das ist Sache der jeweiligen Künstlerinnen und Künstler.

„[…] Leute erreicht zu haben, ist wichtiger als die Platzierung.“

Welche Themen werden behandelt?

Gerald Stocker: Vor allem authentische Problematiken. Von Leuten, die die Probleme am eigenen Körper erlebt haben. Wir hatten schon Lobau-Aktivistinnen und -Aktivisten, vierzig Leute mit Transparenten und einem klaren Statement: „Wir sind die, die für euch in der Au hocken!“ Es gab einmal ein Lied, in dem sich eine Salzburger Schülerband für den Verbleib eines Mitschülers einsetzte, der abgeschoben werden sollte. Der Song war nur einer von vielen Hebeln, den die jungen Leute ansetzten, damit ihr Freund hierbleiben durfte. Heuer gibt es jemanden, der mit einem Schülerchor des Islamischen Gymnasiums auftritt. Im Lied geht es um die Vorverurteilung einer ganzen Religionsgruppe. Ein ganz toller Song, der einen trifft. Ob man den ersten, vierten oder fünften Platz macht, ist letztlich ja egal. Das Statement angebracht zu haben, Leute erreicht zu haben, ist wichtiger als die Platzierung. Es geht darum, ein Anliegen loszuwerden. Im Bestfall schafft man es damit dann bis ins Finale und hat eine ganze Menge Leute für sein Anliegen gewonnen.

Aber das Flüchtlingsthema dominiert derzeit, oder?

Gerald Stocker: Ohne Frage. Aber auch unzählige andere Themen wie Umweltschutz, Clean Clothes, Kindesmissbrauch und falsch angewandte Drogentherapien werden verhandelt. Wir versuchen, auch die kleinen Themen ins Rampenlicht zu rücken und nicht nur die globalen zu berücksichtigen. 2013 kam die Kritik, das Flüchtlingsthema habe nur den zweiten Platz gemacht, sei aber doch das vorrangig wichtige Thema. Ja, das mag schon sein, es gibt aber eben auch andere wichtige Themen, die vielleicht von nicht so globaler, aber doch maßgeblicher Bedeutung sind.

Wie ist es aus Ihrer Sicht um die Protestkultur in Österreich bestellt?

Gerald Stocker: Gut. Das hat man jetzt erneut gesehen. Bei Train of Hope. Die Zivilgesellschaft ist fähiger, als man allgemein denkt, und sie funktioniert auch ohne politische Machtstrukturen.

Was lässt sich über die amtierenden Sieger sagen?

Gerald Stocker: Rammelhof. Die haben mit ihrem Putin-Song Wellen geschlagen. Ein ukrainischer Blogger hat den Beitrag auf seine Seite gestellt. Und plötzlich gab es auf YouTube täglich Hunderttausende Zugriffe, der Song wurde kurzzeitig gesperrt, dann wieder freigegeben, es kam zu einem heftigen verbalen Schlagabtausch zwischen Putin-Befürworterinnen und -Befürwortern und Putin-Gegnerinnen und -Gegnern. Eine ganze Menge Wirbel also. Das ging bis zu Morddrohungen. Da hat man schon gemerkt, was ein Lied alles auslösen kann. Und da ging es noch nicht einmal nur um Putin, sondern um den Schrei nach der starken Hand, die sich viele in schweren Zeiten herbeiwünschen.

Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen den Newcomerinnen und Newcomern, die den Contest als Sprungbrett benutzen wollen, und den Arrivierten?

Gerald Stocker: Ziemlich ausgeglichen. Im Laufe der Jahre hatten wir den Nino aus Wien, Christoph & Lollo und Garish – also Bands, die man aus dem Wiener Umfeld kennt. Heuer ist etwa Bernhard Eder dabei. Auch den kennt man. Es gibt also viele Bands, die man kennt und die dann halt mal ein Lied haben, das zu uns passt. Aber es gibt auch viele Musikerinnen und Musiker, die extra etwas komponieren. Und auch völlig unbekannte Musikschaffende, die den Contest als Sprungbrett nutzen wollen. Rainer von Vielen etwa ging danach mit Fanta4 auf Tour, der Sieg hat seine Karriere befördert. Heuer ist Sarah Lesch dabei, die auch schon einen gewissen Bekanntheitsgrad hat. Oder Veteranen wie Rotzpipn, die jedes Jahr ein Lied einschicken.

„Und es gab auch schon Protest ohne Worte.“

Wie lange haben Sie heuer für die Vorauswahl gebraucht?

Gerald Stocker: Zwei Tage. Den ersten Tag von zehn bis acht Uhr am Abend, am nächsten Tag noch einmal von elf bis sechs Uhr. Da gehen wir dann wirklich in die Tiefe, diskutieren einzelne Texte. Wir hören uns wirklich alles an, bis wir den Kern der Aussage verstanden haben, so es einen gibt. Und man muss wirklich jedes Lied zu Ende hören, denn vielfach gibt es gerade einen Schlusssatz, der das vorher Gesagte dann konterkariert. Und es gab auch schon Protest ohne Worte.

Wie das?

Gerald Stocker: Das war eine Nummer gegen Tierversuche mit Tierquieken aus Versuchsanstalten. Heftig. Wichtig ist: Die Aussage steht im Mittelpunkt. Ich kann verkraften, dass der Song vielleicht nicht perfekt ist, wenn die Geschichte toll ist. Ich kann mich an eine Kindergärtnerin erinnern, die aus ihrem Arbeitsalltag berichtete. Bei den Kolleginnen und Kollegen kam das nicht an. Bei mir schon, weil ich ein Kind habe. Gerade das ist aus meiner Sicht ein Thema, das sonst untergeht. Was in diesem Stadium schiefläuft, ist nur schwer gutzumachen. Da musste ich mich damals gegen die Kolleginnen und Kollegen durchsetzen. Im Nachhinein haben sie es, als sie dann selbst Kinder bekamen, zu schätzen gelernt.

„Oft waren es auch gar nicht die Sieger, die meine Favourites waren.“

Haben Sie ein absolutes Lieblingslied der bisherigen Contests?

Gerald Stocker: Ja, schon. Die wurden im Finale nur Neunter, aber ich fand die Band Witwer mit „Man findet immer was, was stört“ ganz groß. Ich weiß nicht, wie oft ich den Satz seitdem zitiert habe. Jeder kennt das: Man reißt sich den Allerwertesten auf, und nachher kommt immer jemand und meint: „Aber das hätte man doch noch besser machen können.“ Aber das war auch musikalisch eine tolle Nummer. Oft waren es auch gar nicht die Sieger, die meine Favourites waren. Obwohl: Rainer von Vielen im zweiten Jahr mit seiner „Sandbürger“-Nummer war schon toll. Es gibt eine Reihe von Bands, die immer wieder tolle Sachen einreichen: „Er ist tot, Jim“ zum Beispiel.
Ich kann mich auch an eine Salzburger Band namens Rotz mit der Nummer „Draußen vor der Stadt“ erinnern. Ein Song, der langsam anfängt, dann schreit der Sänger seinen aufgestauten Hass raus, und dann verebbt der Song wieder. Ganz großes Kino war das.
Und: Viele der Künstlerinnen und Künstler, die im Laufe der Jahre teilnahmen, haben alle im Rabenhof nachher etwas gemacht, haben an Projekten mitgearbeitet. Das ist für beide Seiten interessant – für das Theater, um tolle neue Sachen kennenzulernen, aber auch für die Musikerinnen und Musiker, um an wirklich interessante Aufträge zu kommen.

Wie lange möchten Sie noch weitermachen?

Gerald Stocker: So lange der Rabenhof und FM4 das machen wollen, ist das für mich eine wunderbare Form, um mich Jahr für Jahr zu erden, indem wir gemeinsam schauen, welche Themen unsere Gesellschaft gerade bewegen. Das gehört für mich einfach dazu – fast schon wie Weihnachten. Und wenn es das in 20 Jahren vielleicht nicht mehr geben wird, werde ich um den 12. Februar herum sicher unrund werden, weil mir etwas fehlt. Das ist ein fix in meine DNA eingespeichertes Datum.

Vielen Dank für das Gespräch.

Markus Deisenberger

Link:
Protestsongcontest

 

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