„Es geht mir um Dinge, die wir begrenzt sehen, die aber nicht begrenzt sind.“ – Wolfgang Seierl im mica-Interview

Das KOMPONISTENFORUM MITTERSILL besteht heuer in seinem 25. Jahr und hat sich längst in die Gegenwart österreichischen Musikgeschehens eingeschrieben. Doch Aktualität hat auch noch andere Gesichter, die sich in die Prozesse mit eintragen. Sylvia Wendrock spricht mit dem Gründer, Komponisten, Gitarristen und bildenden Künstler WOLFGANG SEIERL über Zukunft, Abstand und Orientierungsmöglichkeiten.

Wir haben uns vor ziemlich genau zehn Jahren in einem Café gegenübergesessen und über das KOFOMI und dessen möglichen oder sinnvollen Fortgang philosophiert – was ist denn seitdem passiert?

Wolfgang Seierl: Es war damals nach 15-jährigem Bestehen des KOFOMI die Überlegung, einmal zu hinterfragen, ob dieses Modell noch zeitgemäß ist oder ob nicht eine neue Konzeption notwendig wäre. Über dieses Zurückschauen und Sammeln alles bisher Geschehenen versuchten wir auf Zukünftiges zu schließen. Und das Ergebnis war überraschenderweise, dass das Bedürfnis nach solchen Plattformen, wo persönliche Kontakte, individuelle Zusammenarbeiten und gewisse Auszeiten möglich werden, eher größer geworden ist.  Peu à peu hab ich dann das Forum für alle Disziplinen geöffnet, sodass es heute gar kein Komponistenforum im engen Sinne mehr ist. Wir haben in dem Zuge Residencies mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Philosophinnen und Philosophen, einem Theologen, Performancekünstlerinnen und –künstlern gehabt und dadurch große Bereicherung erfahren. Das hat zur gedanklichen Öffnung beigetragen und den Trend bestätigt, dass sich Komponierende und Ausführende zunehmend an einen Tisch setzen – Rudi Illavsky fand damals dafür so passende Begriffe wie „Kompusiker“ oder  „Musikisten“, wenn ich mich recht erinnere. Bis heute hält diese Entwicklung an, Tanz, bildende Kunst, Film, Video kommen noch hinzu.

Was hat sich dadurch an deiner kuratorischen Arbeit geändert?

Wolfgang Seierl: Die Auswahl der Teilnehmenden ist einerseits noch intuitiver geworden, konnte andererseits viel mehr meinem Wunsch folgen, Menschen aus unterschiedlichsten Kategorien und Genres zusammenzubringen. Vorher war das ja doch sehr auf das Feld der Neuen oder experimentellen Musik fokussiert und bewahrte dessen ziemlich hermetische Geschlossenheit.

Wahrscheinlich hat die Neue Musik das auch gebraucht …

Wolfgang Seierl: Dieser Trend geschieht ja auch außerhalb des Forums und erzeugt unglaublich spannende Projekte. Gerade die Neue Musik ist für mich auch immer noch ein Phänomen des angehenden 20. Jahrhunderts, die Musik einer kleinen, sehr elitären Gruppe, deren Konzepte später immer mehr aufgeweicht wurden. Spätestens als neue Komponisten hinzukamen, die von der Grundidee gar nichts mehr wussten, wurde mir klar, dass es keinen Sinn macht, sich an eine historische Kategorie zu klammern. Genauso macht es keinen Sinn, sich an die historische Person Anton Webern zu klammern. Es war und ist ein guter Ausgangspunkt, an dem Ort, an dem er zu Tode gekommen ist, weiterzumachen. Aber es war nie ein Ziel oder eine Aufgabe des KOFOMI, ein zurückblickendes Webern-Gedenken im Sinne eines Webern-Festivals zu etablieren.

Das heißt, Künstlerinnen und Künstler anderer Sparten arbeiten sich jetzt nicht in Bezug auf Anton Webern ab, sondern er gehört einfach in die Annalen des KOFOMI

Wolfgang Seierl: Es ist schon immer wieder ein Thema für alle, die neu nach Mittersill kommen, aber wir wollen kein Webern-Forum sein. Seine Person ist einfach mit der Ursprungsidee verknüpft, das aktuelle Geschehen in den Mittelpunkt zu stellen.

Entspricht es nicht auch mehr deinem künstlerischen Selbstverständnis, die verschiedenen Künste im Austausch einander in Begegnung zu bringen?

Wolfgang Seierl: Das ist bei mir insofern ambivalent, als dass ich versuche, meine verschiedenen Tätigkeiten doch deutlich voneinander zu trennen. Mein Anliegen ist eher, in all diesen Bereichen wach zu sein. Es geht auch in Mittersill nicht darum, dass immer alle alles gemeinsam machen, sondern dass eine gewisse Offenheit in einem Bereich entwickelt werden kann, der einem zuvor verschlossen war. Vor allem als Musikstudent und junger Komponist störte mich bei Kollegen oft die Verständnislosigkeit gegenüber anderen Künsten, was natürlich beispielsweise auch der notwendigen Hochspezialisierung auf Instrumente zuzuschreiben ist. Solchen Defiziten lässt sich in Mittersill sehr elegant begegnen, weil sie nicht durch eine trockene Werkrezeption behandelt werden, sondern dies über ein persönliches Gespräch oder eine gemeinsame Erfahrung und gemeinsame Arbeit geschieht. Das ist leichter und genussvoller und geht auch sehr schnell vonstatten.

Auch eine zukunftsweisende Antwort auf die Frage, wie mit der überbordenden Fülle an Informationen umzugehen ist und wie Orientierungsmöglichkeiten gefunden werden können. So, wie es in der Antike das Ideal des Universalgenies gab, ist so ein universelles Wissen vielleicht in einer offenen, zugewandten Gemeinschaft möglich.

Wolfgang Seierl: Ich zitiere da immer wieder gern einen Satz von Morton Feldman, den er in Donaueschingen gesagt haben soll: „Ein Komponist, der keinen Maler als Freund hat, hat ein Problem.“ Denn er hatte eine sehr intensive, lebenslange Freundschaft mit einem bildenden Künstler, dem Maler Philip Guston, was man in seiner Arbeit auch spürt, die räumlich, flächig und teilweise fast malerisch wirkt. Das betrifft aber nicht nur das Werk, sondern auch den philosophischen Hintergrund; solche Freundschaften erweitern den Horizont und bringen weitere Dimensionen ins Denken. Sich als Fachmann nur mit Fachleuten zu umgeben, gefährdet die Welt, die ihn umgibt. Jedes Handwerk braucht natürlich Fachwissen und entwickelt sich auch dadurch ins Detail, aber die großen Würfe und Erfindungen entstehen trotzdem nur, wenn ich über den Tellerrand hinausschauen kann.

In „Alles ist, alles ist nicht“ bringst du ein Zitat von Nagarjuna, einem Buddhisten aus dem 2. Jahrhundert vor Christus mit Gedanken von Arthur Schopenhauer in Begegnung. Was steckt philosophisch hinter deiner Arbeit?

Wolfgang Seierl: Meine Arbeit hat sich in den letzten 42 Jahren natürlich immer wieder gewandelt, obschon ich in der Betrachtung durchaus einen roten Faden ausmachen kann: eine Irrationalität und Spontanität, die eher dem Köperlichen als dem Geistig-Intellektuellen zuzuschreiben ist. Ich versuche immer wieder, an den Rändern zu kratzen. Und das nimmt vielleicht seinen Anfang bei einer Fotografie über dem Bett meines Jugendzimmers, dessen Inhalt mich gar nicht sonderlich interessierte. Aber ich fragte mich immer, wie es an seinen Rändern wohl weiterginge, nahm dessen Rahmen dafür ab, um den verdeckten Zentimeter einsehen zu können. Es geht mir also um Dinge, die wir begrenzt sehen, die aber nicht begrenzt sind. Manchmal erzeugt diese Suche nur ein Kratzen an den Rändern und manchmal ist es ein ganzer Schritt in eine andere Welt. Bei „Alles ist, alles ist nicht“ setze ich mich auch mit anderen Philosophien auseinander, mit denen ich in Berührung gekommen bin und anschließend mit einem persönlichen Erleben verknüpft habe. Rückblickend ist es letztlich kaum noch rekonstruierbar, wie sich alle Erfahrungen, Begegnungen und Gedanken zusammentun und plötzlich kommen die Texte, die Bilder und plötzlich ist es dann etwas, der Versuch, die wahrgenommene Wirklichkeit zu verstehen.

Deine Arbeiten durchdringt auch die stete Suche, wie sich das Kleinteilige, die feine Linie, gegenüber dem Großen, der dunklen Fläche, verhalten kann und was sich diese beiden Gegenüber zu sagen haben. Das lässt sich in deinen bildnerischen genauso wie in deinen akustischen Arbeiten finden …

Wolfgang Seierl: Das eine befindet sich mit dem anderen ja immer im Austausch, die Linie kommuniziert mit der Fläche, der Gedanke mit dem Ausdruck. Ich find es ungemein spannend, immer wieder zu erleben, wie sich diese Dinge in jedem neuen Bild verändern und verhalten. Dass der Europäer auf asiatische, fernöstliche Denkweisen kommt, liegt meiner Meinung nach nahe, denn sie sind ja bereits seit Jahrhunderten in der deutschsprachigen Philosophie vorhanden, wie in Nietzsches „Zarathustra“ etc.

Wolfgang Seierl: Arbeit auf Papier aus dem Zyklus „Caput mortuum“ (2021)

„[…] es geht ja nach wie vor bzw. mehr denn je um unsere Zukunft […]“

Wenn im vorigen Jahr der Titel des KOFOMI „#for future“ lautete, was kann dann dieses Jahr folgen?

Wolfgang Seierl: Der Titel sollte an die Klimakrise gemahnen. Lange war nicht sicher, ob das Forum wegen der Pandemie überhaupt realisierbar sein wird und hat dann glücklicherweise doch fast wie geplant stattfinden können. Dieses Jahr ist die Realisierung des Forums noch weniger gesichert, deswegen hat es jetzt den Arbeitstitel „#for future 2“, denn es geht ja nach wie vor bzw. mehr denn je um unsere Zukunft, und eben mit der Erweiterung „unerhört“. Mein Partner und Mitorganisator Martin Daske aus Berlin kuratiert die Konzertreihe „unerhört“ in Berlin und steuert quasi seine Passion und Profession mit bei, das Wort hat aber auch etwas sehr Subtiles einerseits, wenn etwas noch gar nicht gehört werden kann, und andererseits meint es einen Ärger, eine Wut und Empörung über die Dinge, wie sie heute sind, und über uns selbst, die wir dazu beigetragen haben.

Wie sehen diesem Gedanken gemäß kuratorische Entscheidungen aus? Wie geht ihr da vor?

Wolfgang Seierl: Es gab einige Ideen, die sich kaum umsetzen lassen bei Subventionszusagen, die eigentlich Absagen sind, wenn sie nur ein Drittel der beantragten Summe gewähren. Es war geplant, dem Jahresregenten Dante Alighieri mit einer Aufführung von Michael Mautner Rechnung zu tragen, der die „Göttliche Komödie“ sehr zum Abbild gegenwärtiger Umstände gestaltet. Zudem sind Künstlerinnen und Künstler geplant, die voriges Jahr schon nicht kommen konnten. So ist zum Beispiel die Tänzerin und Choreografin Toshiko Oka aus Japan erneut eingeladen. Schon das Eröffnungskonzert mit Kem aka Kerosin 95 mit sehr engagierten Texten nimmt Bezug auf unsere aktuellen Krisen und gesellschaftlichen Probleme. Mit der Einstiegsperformance soll schon klar werden, dass es jetzt darum geht, sich klar zu positionieren. Mehr Programmierung wagen wir im Moment wegen der unklaren Finanzierungssituation noch nicht. Angefragt haben wir auch Marlene Streeruwitz mit ihrem kritischen und aktuellen Blick, um wieder Öffnungen in anderen Kategorien zu ermöglichen. Die Medienkünstlerin Maria Morschitzky wird auch auf Wunsch von Toshiko Oka kommen. Beide wollten sich in Mittersill mehr austauschen, was sicher sehr fruchtbar werden würde. Aber noch sind wir am Warten.

Der Künstlerbegegnung eine Plattform zu stellen, ist ein großes Geschenk an diese Welt. Ist die Insel Retz ein Zeugnis dieser Öffnung für andere Kunstgattungen?

Wolfgang Seierl: Ja, einerseits ist es fast ein Zufall, dass sich diese Möglichkeit ergeben hat, auf der anderen Seite ist es ein Ausleger, den wir schon lange suchten. Für eine Weile gab es da in Salzburg Gesprächsreihen und Konzerte, auch in Wien, aber mit Retz haben wir praktisch eine Außenstelle, die wir das ganze Jahr bespielen können und wo derselbe Geist wie in Mittersill herrscht: Kommunikation, Austausch mit einem Publikum. Und die kleine Bar in Retz bot vor Corona eine wunderbare Möglichkeit, nach Aufführungen zusammenzusitzen und einen sehr intimen und intensiven Austausch zu pflegen.

… und das in einer Gesellschaft, die alles in Zahlen ausdrückt, nur diese Anerkennung nicht.

Wolfgang Seierl: Wir haben jetzt das 25. Jahr, vielleicht der Zeitpunkt, Anerkennung für unsere Arbeit im Sinne angemessener Unterstützung zu bekommen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Auch wenn der letzte Bescheid noch aussteht, ernüchternd ist es allemal. Ich spiele daher schon länger mit dem Gedanken aufzuhören, es ist ja nicht mein einziges künstlerisches Projekt. Ich muss das Forum nicht um jeden Preis machen, erst recht nicht nach so langer Zeit. Auch wenn es gerade jetzt wichtigst wäre, solche Dinge weiterzutun, kann ich es mir langsam nicht mehr leisten. Dass keiner zu diesen Bedingungen meine Arbeit fortführen möchte, spricht dazu ja Bände. Aber es kann auch ganz pragmatisch gesehen werden: Wenn in einem Museum kein Platz mehr für ein 30×30 Meter großes Gemälde ist, dann wird es eben nicht aufgehängt, und Webern hat wieder seine Ruh’.

Die Anleihe aus dem Bildnerischen möchte ich gleich für eine andere Frage nutzen: Du hast in deinem Projekt „A distance drawing“ die Abstandsvorschrift von einem Meter in einer genauso langen Linie auf Papier dargestellt und an dir wichtige Menschen verschickt. Wie kann ich mir das vorstellen?

Wolfgang Seierl: Eine befreundete Designerin aus Japan hat als ihren Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie an ihre Freunde in der ganzen Welt Stoffmasken geschickt und mich gefragt, wie viele Masken ich benötige. Diese Aktion erweckte in mir den Wunsch, auch etwas von mir beizutragen, was anderen in irgendeiner Weise etwas geben könnte. Entsprechend meines Handwerks nahm ich die damalige 1-Meter-Abstandsregelung zum Anlass, auf einem Blatt Papier mit einem Kohlestift eine Linie von genau 1 Meter zu zeichnen, die geschlungen ist, weil sie sonst keinen Platz darauf fände. Das sollte zum Nachdenken oder Nachschauen über diese Distanz anregen, ob man sie nicht vielleicht als etwas Bewegliches, Beflügelndes zwischen uns empfinden kann. Mehr als 120 Exemplare habe ich davon verschickt und teilweise sehr berührendes Feedback bekommen.

Wolfgang Seierl: „Distance Drawing“ (2020)

„Ich konnte durch dieses Projekt mit vielen anderen […] Kontakt halten und meinen Wunsch ausdrücken, in lebendigem Austausch zu bleiben […].“

Nicht unbedingt Distanz, aber Entfernung oder Abstand spielen ja eine genuine Rolle in deinem Schaffen.

Wolfgang Seierl: Ich konnte durch dieses Projekt mit vielen anderen, die mehr als einen Meter entfernt waren, in Amerika, Japan oder Deutschland beispielsweise, Kontakt halten und meinen Wunsch ausdrücken, in lebendigem Austausch zu bleiben und etwas zu schicken, worin ich persönlich enthalten bin.

Ist dieses/dein Schaffen nicht nur Umgang mit der Welt, sondern auch eine Art Trost? Sich gerade im Lockdown auf diese Art zu nähren, erscheint ja nur sinnvoll.

Wolfgang Seierl: Diese Blätter an ca. 120 Menschen zu verschicken, heißt ja auch, dass ich 120 Adressen von Menschen habe, die mir nahestehen. Und das zeichnet natürlich auch ein tröstendes Bild, in solchen Zeiten nicht allein zu sein, Hände und Fühler trotzdem ausstrecken zu können.

Wolfgang Seierl: Zeichnung aus dem Zyklus „Fragmente“ (2020) zu den Schopenhauer'schen Stachelschweinen
Wolfgang Seierl: Zeichnung aus dem Zyklus „Fragmente“ (2020) zu den Schopenhauer’schen Stachelschweinen

Die Antwort eines japanischen Freundes zum Beispiel war der Hinweis, dass in Japan Menschen, die keinen Abstand halten können, „Manuke“ genannt werden, das heißt soviel wie ein „Dummer“. Mein Erstaunen darüber ließ mich in unserem westlichen Kulturkreis suchen und [Arthur, Anm. d. Red.] Schopenhauers Stachelschwein-Parabel finden, in der er die Menschen mit Stachelschweinen vergleicht, die zwar Stacheln haben, aber trotzdem gern kuscheln und sich annähern und sich dabei verletzen. Schopenhauer hat daraus die Empfehlung abgeleitet, dass man als Mensch besser Abstand hält, um diesen Verletzungen zu entgehen. Das ließ mich körperhafte Linien entwerfen, die ich wie kleine Igel mit Stacheln versehen habe. Anschließend ist daraus eine Performance entstanden, wo sich die Tänzerin Katharina Czernin in einen Kokon einschließt, wie ein Igel in sich zurückzieht und abgrenzt. So entwickeln sich die Dinge kontinuierlich weiter, was mich sehr freut. Aktuell verschicke ich „Distance-Poems“, die die derzeitige Zwei-Meter-Abstandsregel verarbeiten. Vier Zentimeter breite und zwei Meter lange Streifen aus chinesischem Papier, bedruckt mit einem Gedicht von mir, das in seiner Länge genau auf diese zwei Meter passt.

Dann wäre wohl die nächste Etappe, Distanz im Zeitlichen darzustellen, wo du dann ins akustische Feld treten würdest …

Wolfgang Seierl: Das wird bei besagter Performance der Fall sein: Da existiert die Idee, eine Serie von musikalischen Fragmenten zu machen, die unter anderem auch mit Tanz verbunden werden können und von Instrumenten ausgeführt werden sollen, die diesen Begriff  Distanz auch verkörperlichen und verzeitlichen.

Diese Performance wird online stattfinden, was Segen und Fluch zugleich ist: Es besteht die Möglichkeit zu einer viel größeren Reichweite, doch gleichzeitig gehen ganz wesentliche Aspekte der analogen Aufführungssituation, wie Unmittelbarkeit, Kontakt, Berührung, Atmosphäre uvm. verloren …

Wolfgang Seierl: Ich habe mich noch gar nicht aktiv an so einem Denken beteiligt, weil für das Arbeiten im KOFOMI oder der Insel Retz Kontakt so essenziell ist, dass Streaming oder andere Online-Konzepte absolut nicht in Frage kamen bzw. kommen. Grundsätzlich ist es natürlich schon eine Möglichkeit, die es zu bedenken gilt. Und wenn ich an das dabei fehlende Publikum denke, kommt mir in den Sinn, dass ich mir mit meinen Distance-Poems und -Drawings vielleicht gerade mein Publikum aktiv suche. Möglicherweise ist das auch als eine Art Maßnahme zu begreifen, mit den derzeitigen Einschränkungen umzugehen.

Eine andere Maßnahme waren die „cadavre exquis“.

Wolfgang Seierl: Ja, auch ein Projekt, das im Lockdown begonnen hat, und im Verlauf dessen deutlich wurde, dass viele Kreative im Lockdown eigentlich weniger Zeit haben, weil sie, vor allem, wenn sie Familie haben, unter extremem Druck stehen.

Im doppelten und dreifachen Sinne: nicht nur, dass die ausbleibenden Einkünfte zu  existenziellen Sorgen führen, sondern gleichermaßen und zur gleichen Zeit der brachial-permanente Umgang miteinander plötzlich gefordert war. Das erzeugte die Spaltung sowohl in der Betreuung als auch in der Beschaffung der Lebensgrundlagen 100-prozentig gefordert zu sein. Eine unlösbare Situation für das Individuum. Man konnte nur scheitern.

Wolfgang Seierl: Das hat sich in dieser und auch anderen Situationen sehr oft gezeigt. Ich merke auch, dass ich mir Zeit für das Atelier regelmäßig abringen muss und ich Schwierigkeiten habe, Arbeiten kontinuierlich fortzusetzen. Aber gerade das ist natürlich auch eine besondere Herausforderung, es zu tun.

Ein weiteres Beispiel für den Umgang mit Distanz im Kontext anderer noch größerer Probleme ist das Chorprojekt „Schlafende Kinder“, das meine Frau (Veronika Humpel, Anm. der Red.). gerade gemeinsam mit mir realisiert. Alle, die des Gesanges mächtig und/oder willig sind, können eine von drei Stimmen eines Liedes einsingen und alle diese Stimmen werden dann zusammenmontiert und praktisch als Chorstück veröffentlicht. Im Text wird auf die Situation der Kinder eingegangen, die auf der Flucht sind.

Das „Requiem“ war auch schon eine Arbeit zur Flüchtlingsproblematik.

Wolfgang Seierl: Genau, in Requiem I und Requiem II ging es ebenfalls um die Flüchtlingsproblematik, die ja immer noch die größere Katastrophe ist, auch wenn uns die Pandemie unmittelbarer angreift. Auch unser Umgang mit den Flüchtlingsthemen: Es ist einfach unvorstellbar, dass eine Gesellschaft wie unsere dermaßen die Augen verschließt und nicht helfen will. Das Schlimmste ist vielleicht, was diesbezüglich auf politischer Ebene hierzulande nicht geschieht. Das Zweitschlimmste ist aber das Augenverschließen aller. Die Pandemie kommt erst viel später.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Sylvia Wendrock

Nächste Termine:

Dienstag, 13. April 2021 Ausstellungseröffnung Paris, verschoben auf 24. April 2021
Montag, 17. Mai 2021 Kunstbetrieb Wien, online
Samstag, 15. Mai 2021 off-Theater, Musik zu „von jetzt bis jetzt“, ein Theaterprojekt von Gina Mattiello mit Texten von Christian Loidl

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