„Es geht eher um die Erinnerung an ein Körpergefühl […]” – ULRICH TROYER im mica-Interview

Der in Wien lebende Südtiroler Klangkünstler ULRICH TROYER hat seine Komposition „Dolomite Dub“, einen Kompositionsauftrag des MUSIKPROTOKOLLS 2015, überarbeitet. Anfang Februar 2019 hat er das mit autobiografischen Hörerinnerungen angereicherte Stück, eine hochalpine Gratwanderung zwischen groovigem Ambient und sphärischem Dub, auf seinem Label „4Bit Productions“ veröffentlicht. Nach der Trilogie „Songs for Williams“ und der EP „Deadlock Versions“ ist dies ein weiterer Versuch, die Charakteristiken von Dub-Musik sehr persönlich und zeitgemäß zu interpretieren. Michael Franz Woels sprach mit dem Künstler.

„In Zukunft würde ich gerne mehr Filmmusik für Dokumentar- und Kinofilme komponieren.”

Wie kriegen Sie all Ihre Aktivitäten zeitlich gemanagt? Ihr Label „4Bit Productions“, Ihr „4Bit Studio“, Ihre Arbeit als DJ und, und, und.

Ulrich Troyer: Das hat sich so kontinuierlich über die Zeit entwickelt. Am Naschmarkt lege ich seit mittlerweile zehn Jahren ein- bis zweimal im Monat auf. Manchmal probiere ich bei meinen DJ-Sets auch eigene, unfertige Nummern aus. Und mein Projekt-Studio kann ich auch extern für Sprachaufnahmen anbieten, es dient mir aber vor allem für meine Kompositionen und mein Sounddesign. Filme zu vertonen macht mir großen Spaß. In Zukunft würde ich gerne mehr Filmmusik für Dokumentar- und Kinofilme komponieren. Mit dem Südtiroler Lucas Zanotto, der in Helsinki lebt, und mit Niels Hoffmann aus Berlin sowie mit Ilari Niitamo, ebenfalls aus Helsinki, habe ich vier Kinder-Apps gemacht: LOOPIMAL und BANDIMAL sind die erfolgreichsten davon. Und allgemein arbeite ich oft ein paar Monate zum Beispiel an diesen Apps, danach konzentriere ich mich wieder auf die Musik und arbeite an einzelnen Stücken oder einem Album. Letztes Jahr habe ich das „Green Album” vom The Vegetable Orchestra bei mir aufgenommen und gemischt. Wir haben intensiv mehrere Monate im Studio daran gearbeitet.

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Wie hat Ihr Architekturstudium Ihr musikalisches Schaffen beeinflusst?

Ulrich Troyer: Was ich beim Architekturstudium sicher gelernt habe, sind das Konzipieren, Entwerfen und Umsetzen von Projekten. Das Zeichnen mit Tusche, mit einem Rapidografen, war damals noch recht üblich. Ich mag den Geruch von Tusche sehr. Für die Coverzeichnung und die beiliegende Graphic Novel von „Songs for Williams“ habe ich aber keinen Rapidografen, sondern eine oldschool Tuschefeder verwendet, um diesen ungenauen, leicht zittrigen Strich zu bekommen. Für das Cover von „Dolomite Dub“ bin ich ähnlich vorgegangen, nachdem ich das Ganze mit Bleistift vorgezeichnet hatte. Was mich auch schon während des Architekturstudiums sehr interessiert hat, waren der Nachhall, die Raumakustik. Meine Diplomarbeit behandelte das Thema, wie blinde Menschen Architektur wahrnehmen. Daraus ist die CD „Sehen mit Ohren“ entstanden. Die Interviews habe ich ursprünglich für das Diplom „1 Hörspiel für Architekt_innen“ geführt. Ich glaube, ich war einer der letzten, die so eine freie Arbeit – ein Buch – machen durften. Nachträglich wollte ich aber immer schon noch eine CD machen. Dann hat sich 2005 über das Ö1 Kunstradio die Gestaltung einer Sendung ergeben und ich hatte die Möglichkeit, mit einem Tontechniker von Ö1 mit Surround-Sound 5.1 Raumaufnahmen zu machen. Entstanden ist ein Hybrid irgendwo zwischen einem Hörspiel, einem Radiofeature und einer Kunstradiosendung.

Ihr aktuelles Album mit dem alliterativen Titel „Dolomite Dub“ lässt an ein schroffes Bergmassiv und an geomorphologische Schichten denken. Sehen Sie kompositorische Analogien zwischen Gesteinsschichtungen und dem Aufbau Ihrer Dub-Tracks?

Ulrich Troyer: Die massiven Berge und Gesteinsschichten der Dolomiten haben mich inspiriert und lassen sich in gewisser Weise auch übertragen auf die Arbeit und die Arbeitsweise, wie das Stück entstanden ist. Ich wollte schon jahrelang ein Erlebnis einer einwöchigen Wanderung durch die Dolomiten musikalisch verarbeiten. Es geht dabei um dieses Gefühl, tagelang auf 2.500 Meter Meereshöhe zu wandern. Am Dub faszinieren mich der massive Bass, er wird hier zu einer Analogie zu den Bergmassiven, die Repetition, die einer Wanderbewegung ähnelt, und die Hall- und Echoräume, die sich aufmachen und schließen. Hinzu kommen die für den Dub charakteristischen Triolen-Delays über einem geraden Metrum, welche einen Sog erzeugen, genauso wie die polyrhythmischen Verschiebungen, mit denen die Komposition arbeitet.

Ich finde, diese Weite hört man gut heraus. Haben Sie auch Field Recordings in den Bergen gemacht?

Ulrich Troyer: In diesem Fall nicht. Es geht eher um die Erinnerung an ein Körpergefühl und auch um diese Freiheit im Kopf, ein Gefühl des Fließens, das man auch durch Meditation erreichen kann. Was mich auch seit meiner Kindheit immer inspiriert hat, war das Haus meiner Oma in Klobenstein am Ritten. Du hat man im Süden die Dolomiten direkt vor der Nase. Der Rosengarten, die Vajolet-Türme, diese ehemaligen Korallenriffe erzeugen eine Umgebung, die von einem anderen Stern sein könnte. Bei Nebel habe ich mir immer vorgestellt, dass die Berge aus Papier oder aus Karton bestehen würden. Bei gewissen Licht- und Wolkenverhältnissen wirken sie seltsam zweidimensional. Das war dann auch die Inspiration für das Cover, wobei das Cover dann schlussendlich anders erstellt wurde. Ich habe das ganze Stück „Dolomite Dub“ von einer Software frequenzmäßig analysieren lassen. Ich habe die 3-D-Darstellung der Schallwellen bzw. Frequenzspektren dann so lange gedreht, bis sie mich an die Bergsilhouette der Dolomiten erinnert hat. Das Ganze habe ich dann zuerst mit Bleistift und dann mit Tuschefeder nachgezeichnet. Ein Freund von mir, der italienische Künstler Giulio Camagni, der jetzt in der Nähe von Wien lebt, arbeitet in seiner Malerei ähnlich wie ich beim Komponieren im Studio. Wir arbeiten beide in Schichten: Wir tragen Schichten auf, nehmen sie wieder weg, tragen sie wieder auf und so weiter.

„Es braucht oft nur die richtige Schallplatte, von der aus man auf eine Reise in die Vergangenheit gehen kann.“

Ulrich Troyer (c) Eva Kelety
Ulrich Troyer (c) Eva Kelety

An welchen Traditionen oder Vorbildern orientieren sich Ihre polyrhythmischen Strukturen?

Ulrich Troyer: Der polyrhythmische, treibende Rhythmus, der die Geschwindigkeit vorgibt, ist sehr stark von afrikanischer Musik bzw. Rhythmik inspiriert. Ich bin fasziniert von moderner afrikanischer Musik, von den 1960er-Jahren aufwärts, und dann natürlich von jamaikanischer Musik, die ja im Endeffekt auch ursprünglich aus Afrika kommt. So um 2003 herum hat mir Didi Kern gute Dub-Techno-Platten empfohlen, wie zum Beispiel „Rhythm & Sound – Basic Channel“ aus Berlin und die Platten des Exil-Jamaikaners Lloyd Barnes von seinem New Yorker Label „Wackies“. Es braucht oft nur die richtige Schallplatte, von der aus man dann auf eine Reise in die Vergangenheit gehen kann. Man forscht nach den Vorbildern dieser Künstlerinnen und Künstler und findet wirklich tolles Material. Im Jim-Jarmusch-Film „Broken Flowers“ wurden Kompositionen von Mulatu Astatke aus den 1960er- und 1970er-Jahren verwendet. Diese äthiopische Variante des Afrobeats, der Ethio-Jazz, hat mich sehr geprägt, wie auch zum Beispiel der Äthiopier Mahmoud Ahmed. Oder Ebo Taylor mit seiner ghanaischen Variante des Afrobeats. Es wäre natürlich extrem spannend, in Zukunft einmal mit einem dieser Musiker zusammenzuarbeiten. Bei meinem Projekt „Deadlock Versions“ habe ich mit Vin Gordon, der jetzt in Paris lebt und früher bei vielen Studio-One-Aufnahmen bei der Bläsersektion dabei war, und Didi Kern zusammenarbeiten können.

Waren Sie schon an den Originalschauplätzen Ihrer Vorbilder, waren Sie zum Beispiel schon einmal in Jamaika?

Ulrich Troyer: Ein großer Teil der Aufnahmen, die mich faszinieren, ist vor fast fünfzig Jahren entstanden. Insofern weiß ich nicht, ob es sinnvoll ist, an die Originalschauplätze zu reisen, auch wenn es die Bands zum Teil heute noch gibt. Natürlich sind die Stadt und die Umgebung wichtig für das, was eine Musikerin bzw. ein Musiker kreiert, aber es genügt mir zum Teil ein autobiografisches Buch oder eben eine Schallplatte, um ein Gespür zu bekommen für die Person und die Zeit. Das eigentlich Spezielle ist ja in der Musik drinnen. Und ich muss zugeben, ich bin nicht gerne ein Tourist, ich war auch noch nie in Jamaika.

„[…] im übertragenen Sinn fand ich es die ideale Wandergeschwindigkeit“

Das Album „Dolomite Dub“ ist in einem konstanten Tempo komponiert.

Ulrich Troyer: Wenn sich eine Schallplatte mit 33 1/3 Umdrehungen pro Minute dreht, dann hat die Endrille, wenn man sie in vier Viertel teilt, eine Geschwindigkeit von 133 1/3. Für diese Komposition war 133 1/3 BPM die ideale Geschwindigkeit – und im übertragenen Sinn fand ich es die ideale Wandergeschwindigkeit. Ich suche ja immer nach Geschwindigkeiten und die Tonart ist dann wichtig für die Emotion, die erzeugt wird.

Wie haben Sie die Tonart bei „Dolomite Dub“ ausgewählt, die Komposition ist ja in cis-Moll?

Ulrich Troyer: Ich habe vor Jahren einmal verschiedene Lieblingslieder von mir aus allen Bereichen analysiert und bin draufgekommen, dass sie meistens in c-Moll, cis-Moll oder in g-Moll sind.

Die Erstfassung „Dolomite Dub“ wurde 2015 in der Helmut-List-Halle in Graz im Rahmen des Steirischen Herbsts uraufgeführt. Es war eine Auftragsarbeit für das ORF Musikprotokoll.

Ulrich Troyer: Ich hatte die Möglichkeit, geknüpft an einen Kompositionsauftrag, ein Stück mit einer Länge von ca. 45 Minuten dort uraufzuführen. Ich hatte circa drei Monate Zeit, um das Ganze zu entwickeln, zu proben und dann zu spielen und schon länger diese Vision oder diesen Wunsch, die Dolomiten zu verarbeiten. Mit dem Kompositionsauftrag kam dann, auch finanziell, die Möglichkeit, das umzusetzen, die Musikerinnen und Musiker zu bezahlen – und eine konkrete Deadline. Das ist dann ganz gut gelaufen, aber ich wollte dieses Stück auch als Album veröffentlichen und wollte die Live-Instrumente noch mehr mit der Elektronik verweben. Im Vegetable Orchestra gibt es viele tolle Talente, Musikerinnen und Musiker, die nicht nur auf Gemüse spielen, sondern auch eine andere musikalische Karriere haben. Zum Beispiel Susanna Gartmayer, die auf „Dolomite Dub“ die Kontra-Altklarinette spielt. Ein sehr spezielles und außergewöhnliches Instrument mit schönen, tiefen Bässen. Jürgen Berlakovich spielt Gitarre und ist ein sehr talentierter Bassist, der den Bass stoisch ruhend bedient. Didi Kern hätte damals schon auch Lust gehabt mitzuspielen, war aber zu der Zeit leider auf Tour. Das rhythmische „Geklacker und Geklapper“ sind zerschnittene Field Recordings aus dem Haus meiner Großmutter in Klobenstein: Fensterbalken, Böden, Türen, Kästen, Öfen und Dachbodenwände wurden von mir mit Drumsticks perkussiv bespielt. Aus diesen Geräuschen und dem Nachhall in diesen Räumen habe ich polyrhythmische Patterns kreiert, die einen permanenten Fluss, eine treibende Wirkung erzeugen. In den letzten Jahren konnte ich dann einerseits Schlagzeug und Perkussion von Didi Kern aufnehmen und somit dieses Stück dann immer mehr „einkochen“. Den Fluss des Stückes im Blick zu behalten war durchaus ein anstrengender Prozess. Vor allem die Pausen waren sehr wichtig, ich habe dieses Projekt immer wieder ein paar Wochen ruhen lassen. Und mit „einkochen“ meine ich, dass ich die Live-Aufnahmen der instrumentalen Improvisationen im Studio immer wieder neu bearbeitet und gekürzt habe, bis ich eine Textur wie ein zerklüftetes, aber kompaktes Gestein hatte. Dadurch entstand eine Atmosphäre, die eine Nähe zu Neuer Musik und Ambient hat, aber mit einem Dub-Gedanken.

Wie unterscheidet sich Ihr heutiges Produzieren von früheren Herangehensweisen, wenn Sie zum Beispiel Ihre erste Veröffentlichung „Nok“ aus dem Jahr 2000 mit „Dolomite Dub“ vergleichen?

Ulrich Troyer Cover

Ulrich Troyer: Auch damals habe ich das Cover selbst gemacht, der Linolschnitt am Albumcover damals war eine Kooperation mit der Grafikerin Tina Frank. Wenn ich es jetzt noch einmal machen würde, würde ich es wahrscheinlich reduzierter und in Schwarz-Weiß entwerfen. Ich wollte ja auch schon immer Comiczeichner werden. Bei meinem Architekturstudium hat mir das Zeichnen sehr gut gefallen, es war ein Hilfsmittel ,um Ideen zu notieren und zu kommunizieren. Witzigerweise habe ich mich erst kürzlich wieder mit den alten DAT-Aufnahmen von „Nok“ beschäftigt. Ich habe versucht, dieses mittlerweile fast zwanzig Jahre alte Material zu sichten und zu schauen, ob es Skizzen von Stücken gibt, die ich noch nicht veröffentlicht habe. Da ist mir aufgefallen, dass der Beat des ersten und des letzten Tracks eine polyrhythmische Verschachtelung von mehreren ungeraden Takten ist, die ich mit Alltagsgeräuschen – Schere, Kugelschreiber und Küchenequipment meiner damaligen Studentenwohnung – kombiniert habe. Dieses polyrhythmische, hypnotische Fließen zu einer geraden Metrumstruktur scheint sich als kompositorisches Interesse von mir durchzuziehen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Michael Franz Woels

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