„Es geht der Neuen Musik gut“ – Tagung Publikumsentwicklung in der Neuen Musik, Teil 1

Was ist Neue Musik? Wie lautet die richtige Bezeichnung – Neue, zeitgenössische oder moderne Musik? Und wie wird Publikum für diese Kunstform generiert beziehungsweise wer ist und soll überhaupt das Publikum dieser Sparte sein? Zu allen diesen schwierigen Fragen sollten am Mittwoch, dem 26. September 2018, in der MUSIK UND KUNST PRIVATUNIVERSITÄT DER STADT WIEN (MUK) im besten Falle Antworten gefunden werden, zumindest aber Diskussionen zustande kommen, die zum Nachdenken anregen. ULLA PILZ leitete dabei durch den umfangreichen Tag, der von MICA – MUSIC AUSTRIA in Kooperation mit der MUK veranstaltet wurde.

"Zug ins Gelobte" (c) Susanne Reiterer
“Zug ins Gelobte” (c) Susanne Reiterer

Drei Tänzerinnen und ein Tänzer, gekleidet in Schwarz, und nicht zu verortende Klarinettenklänge mit hektischen, sich überlagernden Melodiestücken: Mit dieser körperlich intensiven Performance zu Karlheinz Essls „(7×7)^7“ wurde die Tagung zur Publikumsentwicklung in der Neuen Musik eröffnet. Mit den weiteren musikalischen Eckpfeilern – Eva Reiters „Zug ins Gelobte“, einem vielschichtigen, rasenden Stück für Blockflötenquartett und Elektronik, Pia Palmes „Aus der Nähe“, einem singulärer Ruhepol für Oboe da caccia solo, und Georg Friedrich Haas kraftvollem und mitreißendem Saxofonquartett – wurde die Vielschichtigkeit der Neuen Musik eindrucksvoll von (ehemaligen) Studierenden der MUK präsentiert.

Das Ende der Neuen Musik?

Eröffnungsrede Mailath-Pokorny (c) Susanne-Reiterer
Eröffnungsrede Mailath-Pokorny (c) Susanne-Reiterer

Nicht einmal zwei Wochen zuvor hatte Sven Hartberger, Intendant des Klangforums Wien, ein Interview im Standard gegeben, in dem er Folgendes mitgeteilt hatte: „Es gibt verschiedene Indizien, dass die Neue Musik allmählich zu einem Ende kommt.“ Andreas Mailath-Pokorny, der Rektor der MUK, konnte diesem Zitat in Bezug auf die Stadt Wien nur wenig abgewinnen, denn hier hat die Neue Musik ein vergleichsweise großes Publikum. Seiner Meinung nach könnte es daran liegen, dass das vergleichsweise offene Wiener Publikum die Neue Musik reflektiert und sich dazu ein Urteil bildet, diese somit einzuschätzen und zu schätzen vermag. Dennoch merkte Brigitte Winkler-Komar vom Bundeskanzleramt an, dass das Publikum weiterhin Gefahr läuft zu überaltern, weshalb der Bereich des „Audience Development“ zunehmend an Bedeutung gewinnt. Aus einer aktuellen Studie der Europäischen Kommission zitierte sie die entscheidendsten Faktoren, um erfolgreich neues Publikum zu erreichen, wozu auch die Bereitschaft des Publikums, sich mit Kunst auseinanderzusetzen, zählt – ein Punkt, der in der Neuen Musik von erheblicher Bedeutung sei. Abschließend bezog sich Sabine Reiter, die geschäftsführende Direktorin von mica – music austria, in ihrer Begrüßungsrede auf die Studie des Musiksoziologen Michael Huber „Musikhören im Zeitalter Web 2.0“, in welcher festgestellt wird, dass immerhin 19 Prozent der Befragten im Jahr mindestens ein Konzert mit Neuer Musik besuchen. Gleichzeitig haben aber 43 Prozent noch nie etwas von Neuer Musik als Musikgenre gehört.

„… und wenn sie für alle ist, ist sie keine Kunst.“

Susana Zapke (c) Susanne Reiterer
Susana Zapke (c) Susanne Reiterer

Den Hauptteil des Vormittags bildeten drei Vorträge, die sich um die Frage drehten, warum es für Neue Musik so schwierig ist, Publikum zu erreichen. Zunächst berichtete Susana Zapke von der MUK über die Diskrepanz zwischen den steigenden Besuchszahlen bei Konzerten mit klassischer Musik und den Schwierigkeiten hinsichtlich des Publikums, mit denen die Neue Musik zu kämpfen hat. Die Distanz zwischen Musik und Publikum sei aus dem Habitus der Gesellschaft zu begründen. Ein großes Problem liege darin, dass Unterhaltungskultur mit Neuer Musik meist inkompatibel sei, auch da der Zugang systematisch erschwert werde und Orientierung fehle. Nur in seltenen Ausnahmefällen würde Neue Musik als sinnlich wahrgenommen werden. Jugendliche würden heutzutage zwar mehr Musik als je zuvor konsumieren und seien somit speziell hinsichtlich neuer Formen und Ästhetiken zumindest quantitativ musikgebildet, würden aber dennoch keine Neue Musik hören, obwohl die Neue Musik vielfältige Erfahrungsebenen und zahlreiche musikalische Überraschungen biete. Die Stiftungskultur zeige deutlich, wie viele Kompositionsaufträge von öffentlich-rechtlichen Anstalten vergeben werden, um die Neue Musik zu unterstützen.

Neue Musik in Luxemburg, Basel und Wien

Bernhard Günther, künstlerischer Leiter des Festivals Wien Modern, brachte anschließend lebhafte Beispiele für seine Erfahrungen im Veranstalten von Konzerten mit Neuer Musik. Seine Definition des Begriffs „Publikumsentwicklung“ müsse sich nach Zeit, Ort, demografischen und kulturellen Kontexten richten. In Luxemburg habe er feststellen können, dass es keinen Raum für Neue Musik gegeben habe, somit auch kein Publikum. Große Namen hätten nur wenig Publikum angezogen, aber eine klare Kommunikation nach außen und eine Vermittlung in Form von kostenlosen Abendprogrammen, Workshops, Konzerteinführungen und Gesprächen haben viel bewirken können. Anders in Basel: Durch zahlreiche Gespräche im Vorfeld, mehrere meist kostenlose Aktionen im öffentlichen Raum, das Einbeziehen vieler Amateur-Künstlerinnen und -Künstler und einen guten Kontakt zu den Medien habe schnell Publikum erreicht werden können. Bei Wien Modern würde sich die Situation durch den bereits hohen Bekanntheitsgrad des Festivals erneut anders gestalten. Das Festival gelte als niederschwellig, cool und jung, wodurch sich nur wenig Publikum angesprochen fühle, und insbesondere kein junges Publikum, da diese Begriffe bei ihm eher Desinteresse hervorrufen würden. Neue Musik müsse als Alternative wahrgenommen werden und kompliziert sein dürfen. Trotz des heutigen Erfolgs von Wien Modern könne er kein Patentrezept für die Publikumsgewinnung nennen, aber vor allem erklärende Gespräche seien von unglaublicher Bedeutung sowie der Kontext, in dem die Musik stattfindet. Seiner Meinung nach gibt es die Neue Musik aber nicht und gleichzeitig existiert auch kein Dilemma der Neuen Musik, denn, wie er selbst sagt: „Es geht der Neuen Musik gut!“

Wer hat Angst vor der aktuellen Musik?

Berthold Seliger (c) Susanne Reiterer
Berthold Seliger (c) Susanne Reiterer

Konzertagent und Publizist Berthold Seliger reihte sich abschließend in die Vortragsrunde ein und legte ein besonderes Augenmerk auf die Konzertbetriebe. Im normalen Konzertbetrieb fänden sich Werke der Neuen Musik nur äußerst selten, da diese das Publikum anscheinend abschrecken würden; Konzerte, in denen Neue Musik gespielt wird, würden sich erheblich schlechter verkaufen, auch wenn es sich nur um Stücke von Béla Bartók oder Paul Hindemith handele. Für ein Orchester sei es zudem nicht möglich, Neue Musik schnell ins Konzertprogramm aufzunehmen, da zu wenig Probezeit zur Verfügung stünde. Seliger forderte daher eine Änderung der Probensituation und zudem eine Plattform in Form eines YouTube-Kanals, auf der verschiedene Stücke Neuer Musik mit guter Einführung inklusive Noten rezipiert werden können. Um das allgemeine gesellschaftliche Ziel umsetzen zu können, klassische Musik (inklusive Neuer Musik) für alle wahrnehmbar zu machen – mithilfe von Vermittlung und günstigen Tickets –, müsse aber zunächst an den Zahlen gedreht werden, die zeigen, dass 50 Prozent aller Österreicherinnen und Österreicher in ihrem Leben nie ein Konzert besuchen und 94 Prozent aller unter 25-Jährigen im letzten Jahr weder in Sinfoniekonzerte noch in Opern gegangen sind. Klassische Musik erreiche zu 80 Prozent die Bildungselite, für die Nichtkonzertbesucherinnen und -besucher sei klassische Musik mit Vorurteilen behaftet.

Podiumsdiskussion

Tagung Publikumsvermittlung in der Neuen Musik, Podiumsdiskussion (c) Susanne Reiterer
Tagung Publikumsvermittlung in der Neuen Musik, Podiumsdiskussion (c) Susanne Reiterer

Der erste Teil der Tagung endete mit einer Diskussion, dessen zentrale Gedanken hier kurz zusammengefasst werden. Die Neue Musik wurde als Archipel benannt, der eine große Vielfalt, nicht nur musikalisch, sondern auch aufführungstechnisch biete. Jugendliche würden sich kaum für Neue Musik interessieren, auch da es an Vermittlung in Schulen fehle. Sogar Musikstudierende würden Werke der Neuen Musik oft nur mit Widerwillen in ihr Programm aufnehmen. Es könnte hilfreich sein, Orte außerhalb der Konzertsäle zu schaffen. Eine Quote für die Neue Musik in den klassischen Konzertbetrieben sei außerdem wünschenswert oder eine Änderung der Rechtslage bezüglich der Verwendung von Noten – die Kosten für Neue Musik könnten mit den rechtefreien Stücken aufgeteilt werden. Die sogenannte Migrationsgesellschaft sollte als Chance für die Neue Musik gesehen werden, da die Musik anderer Kulturen oftmals gar nicht so tonal ist, wie man es in Mitteleuropa gewohnt ist. Wichtig sei, dass die verschiedenen Musikgenres nicht gegeneinander ausgespielt werde, sondern dass die Neue Musik es selbst schafft, mit genügend Menschen Begeisterung zu teilen, ansonsten müsse es neue Aufführungskonzepte geben.

Malina Meier

 

Links:

Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK)