Nach der Uraufführung von NESTROYS „Höllenangst“ am 17. November 1849 am Wiener Carl-Theater erschien in der Tageszeitung „Fremden-Blatt“ eine Kritik, die das Stück zerriss und folgendes Resümee zog: „Mit großer Erwartung kam das Publikum ins Theater, mit vollkommener Enttäuschung verließ es dasselbe.“ Zu wenig Witz, zu wenig Versöhnung, zu wenig NESTROY. Jetzt wagte sich der 25-jährige Regisseur FELIX HAFNER an den einstigen Publikumsfeind und brachte „Höllenangst“ in neuer Fassade und mit neuen Couplet-Texten von Willkommen-Österreich-Außenreporter PETER KLIEN am 23. September 2017 auf die Bühne des Wiener VOLKSTHEATERS. Kein schlechter Zeitpunkt, wenn man an die aktuellen soziopolitischen Ereignisse denkt und dem Theater mehr beimessen möchte, als eine Lachnummer zu sein. HAFNERS „Höllenangst“ spricht von einem abstrakten Revolutionszustand, der nicht nur visuell und inhaltlich auf die Gegenwart reagiert, sondern auch akustisch. CLEMENS WENGER zeichnet als Komponist für die Theatermusik verantwortlich und sprach mit Julia Philomena über die Inspiration des Reibungspotenzials, das omnipräsente Hindernis und den Chor der Unterdrückten.
Zu welchem Zeitpunkt stand fest, dass Sie als Komponist für die Produktion „Höllenangst“ arbeiten werden? Welche Vorbereitungen konnten Sie treffen?
Clemens Wenger: Ich wurde im September 2016 vom Theater kontaktiert. Man sagte mir, dass sie jemanden suchen, der sich mit traditioneller Wiener Musik auseinandersetzt, aber einen modernen Zugang dazu finden könnte. Ich habe mit Felix Hafner lange über das Stück gesprochen, er hat mir seine Ideen und Fragestellungen präsentiert, mit denen ich mich schnell anfreunden konnte. Die Zusammenarbeit und somit auch meine Recherche haben also früh begonnen.
„Höllenangst“ ist ein Stück aus dem 19. Jahrhundert und reagierte damals auf die bürgerlich-demokratische Revolution der 1848/49er-Jahre. Wie nahe ist dem Ensemble der Stoff gestanden bzw. zu welcher Interpretation fanden Sie?
Clemens Wenger: Felix versteht das Stück als einen Diskurs über die Welt im Umbruch. Diese sehr allgemeine Auslegung hat mir gefallen und funktioniert 2017 natürlich sehr gut. Die Revolution an sich hat mich als Thema angesprochen, gemeinsam mit der Frage, was eine Gesellschaft schlussendlich daran hindert, Veränderung und Fortschritt zu bewirken. In „Höllenangst“ kämpft jeder Charakter mit einem eigenen, sehr subjektiven Konflikt, weshalb das große Ganze und somit das Revolutionspotenzial übersehen wird.
Hat in Ihren Augen die Musik selbst Revolutionspotenzial?
Clemens Wenger: Dieser Frage konnte ich im Zuge der Produktion natürlich nicht aus dem Weg gehen. Ich habe mir viele, in erster Linie französische Märsche angehört, sprich große Chöre, die begleitet von Akkordeon und Trommel durch die Straßen ziehen. Das war witzig anzuschauen, aber vor allem ist mir einmal mehr bewusst geworden, welche Kraft Musik hat. Für mich persönlich ist Musik ein starker emotionaler Antrieb, ein Auslöser für Reflexion, Mut und die daraus resultierende Erneuerung. Unbewusst kann einiges passieren, aber wenn man die musikalischen Fähigkeiten mit Sorgfalt auslotet, kann das mit Sicherheit so einiges bewirken.
„Ich habe versucht, nicht im Schema von Theatermusik zu denken(…)“
Das Stück wurde damals sehr kritisiert, vor allem weil das Publikum Nestroys gewohnten Witz vermisste. Welche Ernsthaftigkeit muss man dem Stück Ihrer Meinung nach entgegenbringen?
Clemens Wenger: Mit Erwartungshaltungen tue ich mir schwer. Natürlich, damals wie heute funktioniert es so, dass Nestroy Unterhaltung bedeutet und der Name auf einem Plakat Entertainment verspricht. Deswegen wurde das Stück vielleicht nicht so laut bejubelt wie vergleichsweise „Einen Jux will er sich machen“. Wenn man „Höllenangst“ als gesellschaftlichen Spiegel sieht, schauen wahrscheinlich auch heute noch nur wenige mit Vergnügen hinein.
Können Sie Ihre musikalische Herangehensweise schildern?
Clemens Wenger: Mit Felix war die musikalische Arbeit deswegen besonders interessant, weil er sehr gut singen kann, Schlagzeug und Klavier spielt, eben selbst ein Musiker ist. Der Austausch war inspirierend und progressiv, zumal er mir viel Vertrauen entgegengebracht hat. Immer und immer wieder haben wir über die Figuren gesprochen, die Handlungsstränge auseinandergenommen, bis wir zu dem Punkt gekommen sind, einen ganzen Soundtrack zu schreiben. Ich habe vorgeschlagen, Musik für einen Film zu komponieren, den es nicht gibt [lacht]. Ich habe ein Bild vertont und Felix konnte entscheiden, welche Elemente für die Inszenierung behalten werden und welche nicht. Er hat mir sehr präzise Anweisungen gegeben und mich in meinem schlussendlich wahnsinnig intensiven Arbeitsprozess gut geführt. Ich habe versucht, nicht im Schema von Theatermusik zu denken oder in Hinblick auf ihren späteren Gebrauch.
Was galt es als Ensemble zu verwirklichen? Welche Stimmungen sollten etabliert werden?
Clemens Wenger: Sehr beeinflusst hat mich das Bühnenbild von Camilla Hägebarth. Bei der Bauprobe habe ich zum ersten Mal den Kessel gesehen, der mir für meine Musik als Stimmung das Brodelnde, den Kampfgeist eingeflößt hat und gleichzeitig die Barriere, die Schwierigkeit und das Hindernis, die ich synchron zum visuellen Pendant akustisch unterstützen wollte. Mit dem Endresultat bin ich eigentlich sehr zufrieden.
Was diente neben dem Bühnenbild als wichtige Inspiration?
Clemens Wenger: Wir wollten zwar einen modernen Sound finden, aber Ausgangsposition war mein altes Akkordeon aus den 60er-Jahren. Ganz viel von dem, was man hier hören wird, stammt von dem alten Instrument, auch wenn es mir keiner glauben wird [lacht]. Ich habe Luftzüge, Klopfgeräusche, diverse Sounds analog eingespielt und elektronisch weiterverarbeitet, geloopt und so weiter. Beispielsweise gibt es einen sehr schweren Hip-Hop-Beat, der auch zu 70 Prozent auf dem Akkordeon basiert. Man kann sagen: Es galt, das Akkordeon zu dekonstruieren.
„Ich wollte einen Sound finden, der die street credibility trifft (…)“
Auch die Couplets wurden dekonstruiert. Die neu verfassten Texte stammen vom Kabarettisten Peter Klien. Wie ist er mit der Herausforderung einer Neudichtung umgegangen?
Clemens Wenger: Im Original werden die Couplets ausschließlich von der Hauptfigur Wendelin gesungen und Felix hatte die großartige Idee, sie unter der Familie aufzuteilen und inhaltlich von Peter Klien aktualisieren zu lassen. Ich wollte einen Sound finden, der die street credibility trifft, der zu Menschen passt, die bei Tag schlafen, um kein Geld ausgeben zu müssen, sich durch die Armut beißen, um schlussendlich als starker Chor der Unterdrückten auftreten zu können.
Ich habe mit Peter Klien sehr viel korrespondiert, weil er nicht oft bei den Proben sein konnte und wir uns inhaltlich natürlich immer absprechen mussten. Am Theater muss man bis zum Schluss flexibel bleiben, das habe ich hier auf jeden Fall gelernt. Wir haben Text und Tonaufnahmen hin- und hergeschickt, eigentlich kontinuierlich daran gearbeitet. Es gab für die Couplets unglaublich viele Proben und ich würde generell sagen, dass sie zu den größten Herausforderungen gezählt haben. Die Couplets gelten ja bei aktuellen Nestroy Inszenierungen als Hemmschuh – das Vorurteil hat sich in diesem Fall bestätigt [lacht]. Das Vorurteil hat sich in diesem Fall bestätigt [lacht]. Den Zugang den wir gewählt haben finde ich mutig und rebellisch, auch wenn die Dogmen der Theaterkritiker_innen uns hier widersprechen.
Haben Sie als Musiker das Gefühl, die Inszenierung aktiv „mitdirigieren“ zu können?
Clemens Wenger: Das Schöne am Theater ist das Zusammenspiel so vieler Ebenen. Sehr viele Elemente können einen hier berühren – wenn man dafür empfänglich ist –, aber die Musik allein trägt kein Stück.
Worin besteht für Sie der Reiz am Komponieren von Theatermusik?
Clemens Wenger: Die kollektive Auseinandersetzung ist für meine künstlerische Arbeit immer ganz wesentlich. Am Theater treffen nicht nur viele Menschen aufeinander, sondern auch Geschichte und Gegenwart auf Inhalt, Technik, eigentlich auf alles, was interessant ist. Bei der Zusammenarbeit mit anderen Musikerinnen und Musikern gibt es oft sehr wenig Reibungspotenzial, am Theater dagegen prallen Welten aufeinander. Was ist spannender, als ein Sammelsurium von Meinungen, das schlussendlich zu einem gemeinsamen Fazit führen muss?
Es kann sehr anstrengend sein, sich über Wochen und Monate nicht voneinander distanzieren zu können, sich gedanklich zu verlieren, wiederfinden zu müssen und von vorne zu beginnen, aber bestenfalls funktioniert das Theater so, wie ich mir die Welt wünschen würde.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Julia Philomena
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