Eröffnungskonzert WIEN MODERN im Großen Konzerthaussaal: Friedrich Cerhas „Spiegel I-VII“ mit dem ORF-RSO Wien (Nachbericht)

Seit Freitag „läuft“ Wien Modern 2011, von Matthias Lošek erstmals im Alleingang und zu Gänze programmiert. Friedrich Cerha ist heuer 85 Jahre jung geworden und es lag auf der Hand, seinem Schaffen beim „Festival der Gegenwart“ einen wirklich repräsentativen Überblick zu widmen. Nicht vergessen soll man, dass Lošek schon vor einigen Jahren in Bregenz eine Gesamtaufführung der „Spiegel“ auf das Programm gesetzt hatte. Kaum einmal ein Wien-Modern-Eröffnungskonzert ohne Uraufführung: Cerha hat zu „Spiegel III“ eine neue Tonbandzuspielung komponiert, er betätigte sich auch selbst als „Tonregisseur“. Handwerklich realisiert hat die Zuspielung im Vorfeld Karlheinz Essl.

Das Werk für (sehr großes) Orchester, ein Meilenstein der Neuen Musik der Moderne nach 1945, wurde vielfach kommentiert und analysiert, etwa von Christian Ofenbauer, der im heurigen Katalog bemerkte:  „Die Erfahrung, die Cerha in seinen ‚Spiegeln’ machte, gehören heute zum kompositorischen Marschgepäck der Menschheit … Die ‚Spiegel’ stehen immer noch für offene Fragen. Sie gehören für mich deshalb zu den intelligentesten Kompositionen nach 1945.“ Sie sind Monolithe, die Pulsation und Dichtheitsgrade in Klang verwandeln, ständig sich verändernde Klangbänder mit einer zumeist dunklen Energie, auch grellem, martialischen Umkippen in mitleidslose militärische Bewegungen. Ein musikalisches Nachdenken über Krieg, Gewalt und Mensch, Individuum und Masse.

Lassen wir Friedrich Cerha selbst zu Wort kommen, der sich bis heute bereitwillig in vielen Kommentaren, Werkeinführungen und Interviews zu seinen „Spiegeln“ äußerte: Als er 1972 selbst die „Spiegel VI“ beim Grazer Musikprotokoll dirigierte, schrieb er in seiner akribischen formalen Erläuterung im damaligen Programmbuch: „Die Spiegel wurden 1960/61 komponiert, der Herstellung der Reinschriften, bei der an der Komposition nichts Wesentliches verändert wurde, erstreckte sich bis 1971. Die Stücke sind rein musikalisch erfunden. Es ist aber wahrscheinlich, dass jene Phänomene, die mich am stärksten bewegen und zu ständiger Auseinadersetzung zwingen … unbewußt meine Klangvorstellungen gespeist haben. Daher die Wahl des Titels.“ So greift etwa „Spiegel VI“ zurück „auf die isolierten Schläge von Spiegel I und Einzelereignisse aus Spiegel IV, verdichtet sie aber zu einer ostinaten Bewegung, deren Penetranz ihre nicht nur vordergründige Logik für mich erst in der Gesamtansicht des Zyklus gewinnt.“ Als da sind: Bewegte Flächen, die die Schläge von Spiegel I langsam, „ in den Konturen unschärfer werdend“, überführen (Spiegel II). Und immer weitere Modifikationen …

Friedrich Cerha sagte erst kürzlich in einem Interview für die Zeitschrift „Falter“ auf die Frage, ob die Stücke unter diesem Titel auch als Spiegel seiner selbst verstanden werden können: „Ja, das ist die eine Seite, die andere bezieht sich auf formale Verhältnisse. Es gibt viele Dinge, die sich in Spiegelform um eine Achse herumbewegen. Aber es ist ein persönliches Bekenntnis. Zu diesem Klangfarbendenken ist es ja gekommen durch die serielle und punktuelle Musik, wo die Töne sich vereinzelt haben und nur mehr eine Fülle von Einzelmomenten vorhanden war. Bei manchen seriellen Stücken sind dann die punktuellen Ereignisse so dicht geworden, dass man die einzelnen Töne nicht mehr gehört hat, dass das umgeschlagen ist zu einem Gesamteindruck, …(Gertraud Cerha ergänzt: … zu einer Feldwirkung …), und da  habe ich mich gefragt, ob man nicht gleich von einem Gesamteindruck ausgehen kann. Da sind dann die „Mouvements“ entstanden, die ich in Berlin uraufgeführt hab’, und dann „Fasce“, dieses erste Klangfarbenstück. Das hat dann das Material geliefert für die ‚Spiegel’. Frage: Und für das, was danach kam? „Netzwerk“ wäre ohne dem „Spiegel“-Zyklus nicht ganz denkbar, oder? – „Natürlich, auch der ‚Baal’ nicht. Die Rezeption des ‚Baal’ war ja so, dass man gesagt hat, ja, jetzt schreibt er also anders. Was ja nicht der Fall war, ganze Teile des ‚Baal’ gäbe es nicht ohne die ‚Spiegel’.

Für alle meine Musik gilt, dass sie Prozesse erzählt, in Prozessen abläuft. In den ‚Spiegeln’ laufen ja sozusagen oft kontrapunktisch Prozesse nebeneinander her. Die Rezeption der ‚Spiegel’ war merkwürdig. Bei den ersten Aufführungen hat man von ‚intellektuellem Experiment’ gesprochen, von einer sozusagen reinen ‚Kopfmusik’. Ich bin erst in den Achtzigerjahren darauf gekommen,  wie sehr in den ‚Spiegeln’ eigentlich die in mir nicht aufgearbeiteten Erlebnisse des Krieges hochgespült wurden. Ich hatte bei der Entstehung der ‚Spiegel’ natürlich visuelle Eindrücke, die ich dann niedergeschrieben habe. Die Vorstellung von einem ‚Welttheater’. Das ist neben dem ‚Netzwerk’ entstanden, das sich auch damit beschäftigt, wie unsere Welt funktioniert.“

Gertraud Cerha ergänzt: In den „Spiegeln“ ist es makroskopisch das Verhältnis des Menschen als Massenwesen. Und im „Netzwerk“ gibt es das, was er als „Regresse“ bezeichnet hat, diese individuellen Aspekte – da wechseln die Perspektiven. Und im „Baal“ steht das Individuum im Mittelpunkt. Im Nachhinein sieht das so aus, als wäre das eine geplante Entwicklung gewesen, das war es aber nicht. Aber es hat wohl sicher einen inneren Grund gehabt.“

Einführungsgespräch und Eröffnungsrede

Zurück zu Wien Modern: Der Schönbergsaal im zweiten Stock des Konzerthauses platzte aus allen Nähten, als es dort schon vor dem Konzert ein Einführungsgespräch mit dem Dirigenten Cornelius Meister und auch mit Cerha selbst gab, das Christian Scheib führte. Charismatisch und durchaus sympathisch beantwortete der Chefdirigent des Radio-Symphonieorchesters die Fragen Scheibs. Er wolle sich akribisch an die überaus genauen Tempo- und Spielvorgaben der Partitur halten. Das Orchester führte unter seiner Leitung und immer im Beisein Friedrich Cerhas lange Proben bis zum Tag der Aufführung durch. Cerha erläuterte auch, dass er 1961 die Kompositionen auf Millimeterpapier graphisch mittels Kurven und Parabeln darstellte, bevor er die zwölf Jahre dauernde minutiöse Abschrift jeder einzelnen Stimme in der Partitur in Reinschrift herstellte. Er wusste auch nicht, ob und wann seine Stücke überhaupt jemals aufgeführt werden können. Aber es war für ihn innere Notwendigkeit. György Ligeti sah einmal die Partituren des Freundes und soll gesagt haben: „Du schreibst ja mein Stück.“

An anderer Stelle sagte Cerha einmal sehr schön, warum das Werk „Spiegel“ heißt: „Einmal sollte dieses Stück ein Spiegel meines damaligen musikalischen Denkens sein, und – obwohl das jetzt vielleicht ein wenig hochgegriffen ist – auch ein Spiegel der Entwicklung des menschlichen Wesens. Der Anfang des ersten Teils ist ja sozusagen ein Ur-Anfang.“

Im Großen Saal begrüßte Konzerthaus-Chef und Wien Modern-Kuratoriumsvorsitzender Bernhard Kerres dann die prominenten Gäste und das Publikum und dankte dem Stadtrat Andreas Mailath-Pokorny, das durch eine Erhöhung der Stadtsubvention um fünf Prozent das Festival auch heuer wieder stattfinden kann. Mailath-Pokorny seinerseits sprach Eröffnungsworte, auch er begrüßte Friedrich Cerha und erinnerte daran, dass man mit vielen, teils auch neuen Spielorten und Partnern wie Brunnenpassage oder Rabenhof, Dschungel Wien im Museumsquartier, mit dem Tanzquartier Wien dem Gedanken der Gründer Claudio Abbado, der kürzlich in Wien im Musikverein dirigierte, und Lothar Knessl, dem langjährigen Mentor des Festivals, wieder näher gekommen sei, ganz Wien im Monat November modern zu machen. Er gedachte auch seiner Vorgänger in der Stadt, namentlich Ursula Pasterk, die als kräftige finanzielle Anschieberin hinter dem damaligen Bürgermeister Helmut Zilk tätig geworden ist.  Launig fügte er hinzu, er habe Lothar Knessl versprochen, sich dessen gesamte Eröffnungsrede auf dem Podium verbleibend anzuhören.

Lothar Knessl fand die richtigen Worte, er wolle nicht belehrend sein, verwies aber auf die Kulturpolitik einst und jetzt, zeigte auf, dass ein Festival für Ur- und – genauso wichtig – Wiederaufführungen nur dann den Geist für moderne Musik erfülle, wenn man nicht nur die großen Institutionen, sondern auch die vielen Komponistinnen und Komponisten fördere, die Probe- und Aufführungsmöglichkeiten, auch Förderung, benötigen, damit sie ihre Experimente machen können. Statt immer nur staatliche Sparpolitik zu propagieren, sollte man das Kürzel ÖMV etwa auch für „Österreichische Musikförderungs-Verwaltung” gebrauchen und begreifen, dass Kultur der lebensnotwendige Humus für Wachstum und Leistung in einer Gesellschaft sei. Musik zu analysieren sei zwar sein langjähriger Beruf, es widerstrebe ihm aber, logische, sprachliche und semiologische Unmöglichkeiten zu unternehmen, um die „Spiegel” zu erklären. Man solle zuhören, die Abgründe und Unwägbarkeiten dieses Stückes selber erleben. Und diese und andere Neue Musik immer wieder hören (können). Er verwies auch auf den vollen Saal und monierte, dass man vergessen habe, das zahlreiche Publikum von Wien Modern zu begrüßen, das auf Erfahrungen mit dem Neuen neugierig sei und dafür auch gerne Eintritt bezahlt, was Wien Modern erst und in erster Linie ermögliche.

Die Aufführung selbst – von gut eineinhalb Stunden Dauer – war mehr als eindrucksvoll, Friedrich Cerha stand über die oft fast einen Meter hohe Partitur aller Stimmen gebeugt am Regler der Tonbandzuspielung und steuerte diese in fünf der sieben Stücke. Der Dirigent begrüßte die Musiker und den Konzertmeister, der in diesem Stück am letzten Pult postiert ist und manchmal auch alleine hohe Geigen-Tremoli auszuführen hat.  Das Werk in seiner instrumentalen Vielfältigkeit fesselte in seinem ersten dumpfen Grollen in den tiefen Blechbläsern, in seinen klanglichen Schattierungen und ersten Akkordzusammenballungen über die dargestellten Katastrophen, vielleicht auch Bombenangriffen (sechs Schlagwerker) bis zum beeindruckenden Ende mit einem Unisono-Ton, der zuvor immer wieder in seine Teiltonspektren aufgefächert wurde. Friedrich Cerha war sichtlich zufrieden, als er sich verbeugen gehen musste.
Heinz Rögl

Foto RSO Wien: Thomas Ramstorfer