„ERLEUCHTUNG IST KEIN EINMALIGES EREIGNIS.“ – TAMARA FRIEBEL IM MICA-INTERVIEW

Als die Komponistin TAMARA FRIEBEL, die auch ein Studium der Architektur absolvierte und mehrere Semester Theologie studierte, letztes Jahr das erste Mal den Klangraum Krems betrat, gingen ihr Textzeilen der früh-islamischen Mystikerin Rabia von Basra durch den Kopf: „Ich will Wasser in die Hölle gießen / Und Feuer ans Paradies legen / Damit diese beiden Schleier verschwinden / Und niemand mehr Gott aus Furcht vor der Hölle / Oder in Hoffnung aufs Paradies anbete / Sondern nur noch um seiner ewigen Schönheit willen“.

In der Aufführung „Illuminations“ für das Festival IMAGO DEI wird es zwar keinen Text von Rabia von Basra zu hören geben, aber es wird eine geheimnisvolle Sanskrit-Textebene durch Beej-Mantras auftauchen. TAMARA FRIEBEL spürte den Energiezentren dieses alten Klangraumes nach, tauchte ein in die Chakren des sakralen Gebäudes und reflektierte kompositorisch über „die andauernde Hoffnung, dass es eine Sprache der Götter gibt“.
Mit Christoph Benkeser und Michael Franz Woels sprach sie in einem alten Wiener Kaffeehaus über die Ortsgebundenheit von Kompositionen, das Nachbauen von Muscheln und das notwendige Plural im Werktitel „Illuminations“.

Sprechen wir über „Illuminations“ – dein Stück, das im Rahmen des Festivals Imago Dei in Krems zur Uraufführung kommt. Dazu ein Aphorismus als Einstieg, der mir seit ein paar Jahren immer wieder durch den Kopf geht: „Constant enlightenment is blinding“. Kannst du damit etwas anfangen?

Tamara Friebel (c) Maria Frodl
Tamara Friebel (c) Maria Frodl

Tamara Friebel: „Illuminations“ ist mein Versuch, diese Suche nach Licht intensiver zu verstehen. Es geht dabei auch um das Bewusstwerden dieses Zustands, den man anstrebt. Die Formen der Komposition habe ich nicht erwartet, sie haben sich ergeben. Das Chakren-System mit seinen sechs Elementen hat sich daraus ableiten lassen. Und die Verbindungen, die sich daraus ergeben, sind überraschend. Versteht mich nicht falsch: Hätte mir das jemand vor zehn Jahren erzählt, hätte ich gedacht, das sei undenkbar. Mittlerweile bin ich so weit, es etwas besser zu verstehen.

„Illuminations“ ist für mich ein Projekt mit einem längerfristigen Hintergrund. Nadja Kayali [Intendantin des Imago Dei Festivals, Anm., hier im mica-Interview] kam mit dem Konzept auf mich zu, meine Studien-Bereiche Architektur und Komposition zu verbinden. Prinzipiell ist das für mich nicht neu, aber es war das erste Mal, dass jemand mit der konkreten Anfrage auf mich zukam. Die Komposition findet zwar im Jetzt statt, aber sie dauert ebenso vor wie nach. Sie ist eine Zusammenarbeit zwischen Nadja und mir, mithilfe derer wir etwas Verstecktes zu finden versuchen. Dabei ist die Erleuchtung von großer Bedeutung. Sind wir nicht alle immer wieder auf der Suche nach Licht?

Licht ist für dich …

Tamara Friebel: Freude, ja! Deshalb beschäftige ich mich aktuell gerne mit „Illuminations“. Ich habe im Laufe der letzten zehn Jahre so viele andere Themen bearbeitet, aber …

Das Licht ist neu in deinem Schaffen.

Tamara Friebel: Ja, ich begrenze mich nicht mehr auf den architektonischen Raum, es ist mehr geworden. Das hat bestimmt mit meiner kulturellen Vergangenheit zu tun – vor zwanzig Jahren kam ich nach Wien und lerne noch immer, wie die österreichische Kultur funktioniert. In Australien sind viele Dinge ganz anders.

Wie meinst du das?

Tamara Friebel: Als Beispiel:In Australien hört man anders. Klang hat dort eher Entertainment-Charakter, er ist mehr ein leichter „Throw-Away-Sound“, während hier von Komponierenden fast alle Klänge geschätzt werden. Das hat mich an Wien immer fasziniert. Es gibt diese lange Vergangenheit, die einerseits Ballast ist, aber andererseits aufzeigt, was alles passiert ist – es gibt ein Repertoire. Deshalb fühle ich mich immer an Momente zurück, in denen mir eine bestimmte Komposition Freude bereitet hat.

Ist das ein hedonistischer Zugang?

Tamara Friebel: Vielleicht lässt es sich aus der Perspektive von „The Birth of Tragedy“ betrachten – als eine Art rauschhafte Verzückung. Dabei hat mir die Lektüre von Friedrich Nietzsche nie so wirklich richtig Freude bereitet. Für mich ist in seinen Zeilen kein Licht, sie haben mein Leben nicht unbedingt besser gemacht. Hedonismus würde ich deswegen nicht sagen, eher Bliss [in etwa: Glückseligkeit, Anm.] – es ist sachter und nicht so verschwenderisch wie das Hedonistische.

Braucht es eine Grundfreude, um länger an einem Thema arbeiten zu können?

Tamara Friebel: Ja, die Offenheit zu schauen, was da ist, ist wichtig. Dadurch komme ich automatisch zu Themen, die ich nicht intendiert habe. Man kann sich das wie eine Ausgrabungsstätte vorstellen, an der man Schicht für Schicht abträgt, bis man etwas entdeckt, das man nicht erwartet hätte. Meine Recherche zu „Illuminations“ bringt mich beispielsweise zur Gebundenheit von Kompositionen an Orte. Schließlich ist die Minoritenkirche als Klangraum ein besonderer Ort – ihre Struktur hat Ähnlichkeiten zu den Chakren. Das ist erstaunlich, weil die europäische Kirche nie etwas mit Sanskrit zu tun hatte. Aber wir können daran realisieren, dass wir auf vielen Ebenen miteinander verbunden sind.

„AUSSERDEM WAR DIE VOGELPERSPEKTIVE WICHTIG.“

Inwiefern spielt dein architektonischer Background in den Kompositionsansatz hinein?

Tamara Friebel: Ich habe mir die Pläne der Kirche in einem 3D-Programm angesehen, bevor ich das erste Mal im Gebäude war. Außerdem war die Vogelperspektive wichtig – wo und wie ist die Kirche in der Stadt eingebettet? Als ich nach Krems kam, hatte ich die Sprache des Ortes und seine Vergangenheit schon im Kopf. Vor Ort wanderte ich durch die Stadt und konnte ihre Entwicklung entlang der Donau nachempfinden. Die Minoritenkirche ist durch ihre Lage der Höhepunkt der Stadt. Eine interessante Erfahrung beim ersten Betreten der Kirche: Im Inneren erfuhr ich gleichzeitig Kälte und Wärme. Solche Gefühlseindrücke durch ein Gebäude lassen sich aus keinem Plan ableiten.

Du meinst die Aura des Gebäudes? Die man in der Planung auch auf den Genius loci – den Geist des Ortes – zurückzuführen kann.

Tamara Friebel: Ja, das fängt schon mit der Entscheidung an, wo eine Kirche stehen sollte. In Indien ist das spirituelle Thema noch viel präsenter als bei uns – auch bei der Auswahl für einen guten Platz für ein Haus.

Wie lässt sich dein Kompositionsansatz bei „Illuminations“ beschreiben?

Tamara Friebel: Zuerst wollte ich mich auf einer meditativen Ebene annähern, aber ich habe realisiert, dass das nicht meinem Wunsch für das Stück entspricht. Ich wollte mit den Formen arbeiten. Daraus lässt sich der Ansatz der Komposition ableiten, ja.

Tamara Friebel öffnet ein Federpennal. Darin: weiße, filigrane Plastikteile, die in ihrer organischen Form an Muscheln erinnern.

Interview Vogelperspektive (c) Tamara Friebel
Interview Vogelperspektive (c) Tamara Friebel

Die Objekte erinnern an Muscheln.

Tamara Friebel:Während des ersten Semesters bei Zaha Hadid sollten wir Muscheln studieren. Probiert man, eine Muschel in einem 3D-Programm nachzubauen, dann wird sie immer zu perfekt. Man muss sie organisch randomisieren. Diese Stücke stammen aus den Studien, die ich mit den Plänen der Minoritenkirche machen konnte. Ich habe die Proportionen zwischen den Säulen studiert und verschiedene Triangulationen angefertigt. In meinen Überlegungen kommen zusätzlich mehrere Dinge zusammen – Hildegard von Bingens „Voices of Angels“, das Chakren-System … In der Kompositionstechnik habe ich außerdem mit Spiegelungen gespielt. Die Plastikstücke sind wie eine Anleitung dafür. Ihre Formensprache habe ich bei Zaha Hadid gelernt.

Du hast bei Zaha Hadid studiert. Die Ähnlichkeit zu ihren Entwürfen ist verblüffend.

Tamara Friebel: Ja, ich habe diese Technik von ihr gelernt. Diese Formen lassen sich aus der Gesamtform des bestehenden Ortes extrahieren. Die Komposition besteht aus den Teilen, man kann sie frei anordnen, mit ihnen spielen. Der revolutionäre Twist kommt durch sogenannte NURBS zustande – non uniform rational basis splines. Plötzlich arbeitet man nicht mehr mit parabolischen Kurven, sondern mit nicht-rationalen, die mit Mathematik kaum zu beschreiben sind. Daraus entstehen komplexe Objekte, die zur Zeit der Renaissance noch nicht möglich gewesen wären. 

3D-Rendering Minoritenkirche, Krems (c) Tamara Friebel
3D-Rendering Minoritenkirche, Krems (c) Tamara Friebel

Tamara Friebel fügt die einzelnen, muschelförmigen Teile am Tisch zu einem „Wellen-Konstrukt“ zusammen.

„FORMEN SIND FÜR MICH KLÄNGE“

Wie übersetzen sich die Formen in Musik? Sind das die einzelnen Klänge des Stücks?

Tamara Friebel: Nein, es sind eher Movements, sie symbolisieren auch verschiedene Zeitabschnitte. Es steckt eine Formel dahinter, die ich internalisiert habe, weil ich sie studieren konnte. Formen sind für mich Klänge, die ich nicht erklären kann, aber: Ohne diesen Formen käme ich nicht zur Komposition. Sie sind wie frozen music.

Eine Art dreidimensionale Partitur?

Tamara Friebel: Ursprünglich habe ich diese Methode immer versteckt, weil ich davon ausgegangen bin, dass man diese manifesten Formen nicht braucht, um die Komposition zu verstehen. Ich habe aber realisiert, dass diese Formen eine Tür öffnen. Letztes Jahr bei einer Ausstellung „Listen to intuition“ in Graz konnte ich einige Objekte begleitend zur Musik ausstellen. Ich glaube, das half vielen Menschen, Neue Musik besser zu verstehen.

Natürlich könnte ich auch eine Partitur notieren, aber es wäre etwas anderes. Dazu ein Beispiel: Die Weisen in Indien hatten Lichtbild-Formen zur Meditation. Dieser Aspekt hat mich sehr interessiert. Meine Modell-Objekte, die wir sehen und angreifen können, sind wie diese Lichtbilder für mich. Sie existieren im Kopf und geben mir die Komposition vor.

Illuminations Objects (c) Tamara Friebel
Illuminations Objects (c) Tamara Friebel

Ich habe ja sowohl Komposition als auch Architektur und Theologie studiert. Mittlerweile verfolge ich die Kombination dieser Bereiche und finde neue Wege. Aber es ist nicht immer leicht, bei der Komposition zur Ruhe kommen, ohne die Gedanken abschweifen zu lassen. Gleichzeitig muss der Kopf ruhig sein, dann ist der Klang anders. Das ist gar nicht so einfach, weil ich jeweils Architektur und Komposition beachte – ich habe beides nie aufgegeben. Das interessiert mich auch an der Kunst der Renaissance, diese starke Verbindung zwischen Musik und Architektur.

Du hast dir die Zeit bewusst gegeben, um dich in den unterschiedlichen Bereichen zu entwickeln. Das Arbeiten in einem Architekturbüro wäre wohl nichts für dich gewesen?

Tamara Friebel: Normalerweise arbeitet man nach einem Architekturstudium in einem Büro und klickt sich den ganzen Tag durch „AutoCAD“. Für mich wäre das nichts gewesen. Ich brauche die Denkweise der musikalischen Komposition. Und einen Zugang zu unkonventioneller Forschung – deshalb arbeite ich auch mit meinem Mann, einem Mathematikprofessor in Graz, zusammen. Das Projekt „The Collaborative Mind“läuft zwar aus …

Stimmt, du arbeitest in Graz auch in einem interdisziplinären Kollektiv, in dem Kunst auf Mathematik trifft.

Tamara Friebel: Ja, dieses Forschungsprojekt nennt sich „The Collaborative Mind“. Wir arbeiten an der Übersetzung unserer Fachsprachen.

"Attractive Privacies of Breathing Borders, Still." (c) Tamara Friebel
“Attractive Privacies of Breathing Borders, Still.” (c) Tamara Friebel

Apropos Erleuchtung. Im Projekt The Collaborative Mind arbeitest du mit Mathematikerinnen und Mathematikern zusammen. Daraus profitiere nicht nur die Kunst, sondern auch die Mathematik, weil sich die Forschenden aus der Musik neue Erkenntnisse für ihr Fach erhoffen. Ist das so?

Tamara Friebel: Ich habe zum Beispiel der Mathematikerin Karin Baur eine Skizze von „Attractive Privacies of Breathing Borders, Still.“, eine Bild-Bild-Komposition, einen sogenannten Stacking-Prozess, gezeigt und das hat Karin Baur wiederum an eine ihrer Research-Ideen, die Stacking-Triangulations, erinnert: „Mir gefällt, wie man in Phase I eine Triangulation eines Ringes in eine andere stapelt und dann zu Phase II übergeht – in der Mathematik wäre das eine Möglichkeit, die beiden Triangulationen zusammenzusetzen, um eine neue zu erhalten. Ich hatte das vor langer Zeit einmal mit Paul Martin besprochen, aber wir sind nie wieder darauf zurückgekommen.“ Gemeinsam mit Karin Baur und Klemens Fellner habe ich lange über Triangulation gesprochen. Es entstand ein gemeinsames Paper, bei dem wir unsere unterschiedlichen „Sprachen“ verbinden konnten. Komplexe Mathematik ist ja nicht einfach. Das ist wie Neue Musik. Ich konnte Verbindungen aufzeigen, weil ich die Triangulationen in konkrete Kompositionen übersetzte. Das hat auch für die Mathematikerinnen und Mathematiker Türen geöffnet. Schließlich sind sie öfter allein als Komponierende.

Wie meinst du das: „… öfter allein als Komponierende“?

Tamara Friebel: Als Komponistin hast du wenigstens ein Konzert vor Publikum. Als Mathematikerin bist du mit neuen Erkenntnissen oft völlig allein. Außerdem verstehen die Menschen eher Musik als Mathematik. Das versuchen wir in dem Projekt aufzuweichen. Im Forschungsteam „The Collective Mind“ sind alle offen für den Impuls des anderen. Viele Menschen geben ihre Unwissenheit ja nicht zu, weil sie Angst haben, sich bloßzustellen. Ich finde es aber schön, sich mit Leuten zu umgeben, von denen man etwas lernen kann. Und umgekehrt …

„JEDER MOMENT KANN UNS ERLEUCHTEN.“

Ist die Konfrontation mit der eigenen Angst im Leben, aber speziell natürlich auch in der Kunst, nicht entscheidend, um sich weiterzuentwickeln?

Tamara Friebel: Ja, oft ist in der Kunst gerade die Konfrontation mit Angst wichtig. Dieses Angst-Überwinden geht mit einer Konfrontation einher. Eine, die natürlich auch dazu führen könnte, dass keine Komposition entsteht, weil die Konfrontation nicht funktioniert. Neues zu schaffen ist nicht leicht. Die zeitgenössische Musikkultur ist heute häufig an schwierigen Themen interessiert, weil wir uns als Gesellschaft mit komplizierten Themen beschäftigen. Dieser Umstand wird in der Kunst intensiv weiterverarbeitet.

Wie geht es mit dem Stück „Illuminations“ nach der Aufführung in der Minoritenkirche in Krems im März weiter? Hast du eine „Weiterverarbeitung“ geplant?

Tamara Friebel: Das Stück ist ein Anfang für einen Zugang, den ich noch gar nicht absehen kann. Im Rahmen des Carinthischen Sommers werde ich wieder eine Kirche bespielen. Dort sind die Gegebenheiten anders, vor Ort steht eine Barockkirche. Das ist für mich spannend, weil ich als Kind nichts mit Katholizismus zu tun hatte, sondern evangelisch aufgewachsen bin, später den Islam kennenlernte und heute indisches Sanskrit in säkularisierte Kirchen bringe. Das sind die „Illuminations“, von denen wir sprachen. Der Plural ist wichtig, weil das Projekt weiterführt. Erleuchtung ist kein einmaliges Ereignis. Es ist eine ständige Erneuerung, jeder Moment kann uns erleuchten.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Christoph Benkeser, Michael Franz Woels

Termine:
Festival IMAGO DEI
Tamara Friebel: “ILLUMINATIONS”
Samstag, 12. März 2022, 18:00 Uhr
Klangraum Krems Minoritenkirche

Carinthische Dialoge
22.–23. Juli 2022

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