Endbericht: Wien Modern 2012

Die zweite Hälfte des Festivals brachte neben bemerkenswerten Aufführungen jüngerer Stücke aus Österreich auch etliche Wiederbegegnungen mit Klassikern des 20. Jahrhunderts. Das erste der drei Orchesterkonzerte, die heuer sämtlich vom Radio-Symphonieorchester Wien bestritten wurden, konfrontierte etwa György Ligetis wegweisende Kompositionen „Lontano“ und „Atmosphères“ mit neueren Werken von Bernhard Gander und Olga Neuwirth. Die Hauptkomponistin der diesjährigen Wien-Modern-Ausgabe schlägt in „Remnants of songs … An Amphigory“ einen gänzlich anderen Weg ein als der Pionier der Klangflächenkomposition: Hatte dieser seine Musik von einem virtuellen Nullpunkt aus entwickelt, so wendet sich Neuwirth offensiv der Vergangenheit zu, der sie in Form musikalischer Erinnerungsfetzen breiten Raum gibt. Das lässt sich – je nach Standpunkt – als provokant oder reaktionär beurteilen, zeigt aber jedenfalls, dass Tonalität nicht unbedingt mit leichterer Verständlichkeit einhergehen muss.

Unbestimmter blieben die tonalen Allusionen in Neuwirths Werk „Clinamen/Nodus“, das beim zweiten RSO-Konzert auf dem Programm stand. Sirenen, peitschenschlag-artige Perkussion und rhythmisch pulsierende Streicherflächen erzeugen hier ein „unheimliches“ Klangbild, das in seiner suggestiven Wirkung an Filmmusik denken lässt. ZuhörerInnen, denen dies zu atonal war, kamen anschließend bei John Cages „Quartets I–VIII“ auf ihre Kosten. Das Orchesterwerk von 1976, das auf Kompositionen aus der Zeit der amerikanischen Revolution basiert, brachte eine Dreiviertelstunde aufführungstechnisch äußerst anspruchsvoller Musik, die dennoch an ein Weihnachtslieder-Medley erinnerte – auch so kann Neue Musik klingen. Obgleich den europäischen Gralshütern der Avantgarde diese Konsonanzenseligkeit als Affront erschienen sein muss, lässt sie die revolutionären Auswirkungen des Amerikaners auf die Musikgeschichte allenfalls ansatzweise erahnen.

Mehr davon enthielt da schon die Veranstaltung „Fluxus“, auch wenn darin kein Stück von Cage zur Aufführung gelangte. Das Konzert im Mozartsaal, in welchem das Ensemble „L’art pour l’art“ historische Fluxus-Performances nachstellte, bot eine lohnende Erinnerung an Zeiten, in denen der Konzertbetrieb noch ernsthaft in Frage gestellt wurde. Allerdings war dieses Reenactment mehr Dokumentation als tatsächliches Happening, also zu zahm und museal, um auch nur ansatzweise provozieren zu können. Das nachfolgende Konzert mit dem Klangforum Wien entsprach eher der konventionellen Vorstellung eines Ensemblekonzerts, ersetzte aber den klassischen Konzertsaal durch die imposante Säulenarchitektur des Odeons. Die Aufführung von Olga Neuwirths „Construcion in space“ profitierte vom Synergieeffekt zwischen der eindrucksvollen Atmosphäre der alten Wiener Getreidebörse und Olga Neuwirths bezwingender Raummusik.

Hinsichtlich Ablauf und Ambiente gänzlich dem Usus entsprechend, aber musikalisch dennoch spannend fiel das Gastspiel des Ensemble intercontemporain aus. Unter der Leitung des Komponisten wurde unter anderem ein Zwischenstand von Enno Poppes auf sechs Teile angelegtem „Speicher“-Zyklus präsentiert. Das groß dimensionierte Werk zeigt eindrucksvoll, wie Ereignisreichtum gepaart mit motivischer Wiederholung auch in einer avantgardistischen Musiksprache über lange Zeitspannen hinweg Spannung erzeugen kann. Undogmatisch modern ist auch die Musik von Friedrich Cerha, der nach dem letztjährigen Schwerpunkt auch heuer neue Werke beisteuerte. Martin Haselböck und einige seiner Stundenten brachten in der Wiener Ursulinenkirche je neun Präludien und Inventionen für Orgel aus Cerhas Feder zur Uraufführung, die in ihrer strengen Kontrapunktik die Erinnerung an die liturgische Geschichte der Orgelmusik ebenso bewahren wie jene an die kontrapunktische Tradition der Wiener Schule.

Auf andere Art retrospektiv geriet das Abschlusskonzert des RSO im Musikverein: Der letzte Programmpunkt einer Reihe, die von Wien-Modern-Mitbegründer Lothar Knessl kuratiert worden war, brachte die Neubegegnung mit zwei Monumenten der jüngeren Musikgeschichte. Bruno Madernas „Quadrivium“ beeindruckte durch unmittelbare Körperlichkeit und – streckenweise – berückende Expressivität, während „Rituel in memoriam Bruno Maderna“ von Pierre Boulez in seiner zeremoniellen Theatralik erstaunlich archaisch wirkte. Eines von vielen guten Konzerten als Schlusspunkt eines Festivals, dessen inhaltliche Positionierung seit der Übernahme durch Matthias Lošek Gegenstand konstanter Auseinandersetzungen ist. Ist der künstlerische Leiter den einen nicht innovativ genug, so halten ihm die anderen vor, dass er das Erbe nicht in angemessener Weise bewahre. Dass die Neue Musik immer noch primär von Institutionen und Publikum des bürgerlichen Konzertlebens getragen wird, ist eine Tatsache, der schon Lošeks Vorgänger Berno Odo Polzer entgegenwirken wollte, die jedoch nicht primär Wien Modern anzulasten ist. Solange die Neue-Musik-Szene in ihrer Abwehrhaltung verharrt, muss jede noch so gut gemeinte Öffnung notwendig Kosmetik bleiben. (Lena Dražić)

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