Einmal Balkanboom und zurück!

Was war das? Tusch-trörö-rumtata und es passierte im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts: Scheinbar plötzlich tanzten junge Menschen zu taktmäßig wilden, ungeraden Rhythmen und noch fremderen Melodien, gespielt einmal nicht von ihresgleichen, also Jugendlichen, sondern vom fremdartig aussehenden alten Männern in vermutlich gleich alten Anzügen. Nein, das war etwas anderes als die übliche Popkultur, es erklangen auch keine E-Gitarren und Synthies, sondern eher die sprichwörtlichen Pauken und Trompeten. Was das war? Von Harald Justin.

Das war der Balkanboom, so genannt nach dem geografischen Herkunftsort der Musik, die es nun in die Tanzläden der urbanen Metropolen des Westens verschlagen hatte. Doch was genau war da passiert? Und wo kam er eigentlich her, dieser Balkanboom, wo man noch nicht einmal genau definieren kann, wo der Balkan beginnt. In Wien soll er bekanntlich gleich hinter dem Rennweg beginnen, aber die Autoren der vorliegenden Studie mit dem Titel „Balkanboom! – Eine Geschichte der Balkanmusik in Österreich“ halten es mit dem slowenischen Philosophen Slavoj Zizek: „If you ask ‚Where do the Balkans begin’, you will always be told that they begin down there, towards the south-east. For Serbs, they began in Kosovo or in Bosnia where Serbia is trying to defend civilised Christian Europe against the encroachments of thes Other. For the Croats, the Balkans begin in Orthodox, despotic and Byzantine Serbia, against which Croatia safeguards Western democratic values. For many Italians and Austrians, they begin in Slovenia, the Western outpost of the Slavic hordes. For many Germans, Austria is tainted with Balkan corruption and inefficciency; for many Northern Germans, Catholic Bavaria is not free of Balkan contamination.”

Für viele bedeutet ‘Balkan’ die Hölle, das jeweils Andere

Der Balkan, um es mit Sartre zu sagen, ist also die Hölle, ist das jeweils Andere. Über den Balkan zu reden, heißt, sich eines gesellschaftlichen Vereinbarungsbegriffes zu bedienen; es gilt, sich an das platonische Höhlengleichnis zu erinnern: Nicht mit den Dingen selbst wird man fertig, nur ihre Schatten an der Wand sind erkennbar, wir arbeiten uns mit symbolischen Formen ab und als Vereinbarungsbegriff lässt sich ‚Balkan‘ nicht nur wechselweise geografisch nach Belieben verorten, sondern ist dementsprechend immer auch Hort wildester Projektionen.

Sich über den „Balkanboom und seine Musik“ zu verständigen, das heißt, sich darüber zu verständigen, welche Träume, Wünsche und welche Begehren diese Musik zu einer gesellschaftlichen Größe werden ließ, die die Rede von einem Boom rechtfertigte. Jenseits der realen Schrecken, die der Balkan mit den so genannten Balkankriegen darstellte, stand er seltsamerweise in den Boomjahren jenseits des Balkan für eine ganz andere Welt ein: Mit den Klängen der Musik konnte in westlichen Discotheken und Festivals von einer Welt geträumt werden, die weit weg von stupider Arbeitsdisziplin und normiertem Alltag mit viel Humor, Tanz, Herzlichkeit und Alkohol zu existieren schien. Im wilden Kurdistan, in den Schluchten des Balkan, da wissen die Menschen anscheinend noch, wie man ein Lamm am Spieß brät und trunken von einer Hochzeit zu r nächsten eilt.

Die Faszination vom wilden, ungebundenen Leben, die den Balkanboom beseelte und ihm als Treibstoff diente, war recht besehen, die Fortsetzung der alten Rock ’n’ Roll-Fantasie mit neuen Mitteln, und es bedurfte nun noch des soziologischen Feinjustierens, etwa mit Bourdieu, um in Österreich und speziell in Wien Art und Weise dieses Aktivstoffs zu bestimmen. Genau das machen Andreas Gebesmair, Anja Brunner und Regina Sperlich. Im Mittelpunkt ihrer 318 Seiten umfassende Studie steht, titelgerecht, jene medial gepushte Musik, die um die Jahrtausendwende Clubs und Festivals erschütterte und, wahrscheinlich letztmalig, eine tanzende Gemeinschaft erzeugte. Wurde vor den Balkankriegen und bevor das Wort „World Music“ erfunden wurde, Musik aus Südosteuropa vornehmlich als Folklore marginalisiert, so änderte sich diese Wahrnehmung, als mit dem Begriff „World Music“ eine Bezeichnung gefunden war, die ein breiteres, jüngeres Publikum ansprach und mit den Balkankriegen junge, oft akademisch ausgebildete, durch Rock und Jazz sozialisierte Musiker nach Österreich kamen.

Neben den „klassischen“ Brass Bands aus den ländlichen Räumen in Bulgarien und Rumänien wie die Fanfare Ciocarlia oder die Original Kocani Band, waren es nun junge Menschen aus Ex-Jugoslawien, die, etwa, mit dem Sandy Lopicic Orkestra und später mit dem Frankfurter Dj Shantel mithalfen, einen Trend anzuschieben, der sich alsbald zum Boom auswuchs und die Strukturen der Musikszene Wiens nachhaltig veränderte. Aus Abenden mit DJs in kleinen Klubs wurden Konzerte und Festivalreihen in Wiens angesagtesten Häusern wie dem Porgy & Bess, dem Wiener Konzerthaus, dem WUK, der Sargfabrik, dem Metropol und natürlich dem Ost Klub.

Ein Boom mit unabsehbaren Folgen

Mit dem Abebben des Balkanmode blieb in Wien eine bestens aufgestellte Reihe von Veranstaltungsorten und viele junge MusikerInnen zurück, die, zwischen Jazz und Rock pendelnd, Genregrenzen verwischten und dem neuen Genre World Music Gestalt gaben. Sie gemeinsam erschlossen sich ein neues junges Publikum, dem der Balkan nicht länger mehr als Feindbild gilt.
Wenn sich jeder Boom so vorteilhaft auswirken würde, dann nur her mit jedem neuen! Tusch-trörö-rumtata wird es dann zwar nicht noch einmal klingen, aber vielleicht chierp-chirp-rabums?

Keine Frage, Gebesmair, Brunner und Sperlich haben mehr als eine bloße Fleißarbeit geschrieben. Sie verzeichnet nicht nur die herausragenden MusikerInnen und spürt ihren verwobenen Aktivitäten nach, sondern zeichnet in knappen, klaren Zügen einen wichtigen Teil der Wiener Musikgeschichte nach. Wer 2005 mit Garth Cartwrights Buch „Princes Amongst Men – Journeys With Gypsy Musicians” sehnsüchtig die Dörfer des Balkan befuhr, erfährt in „Balkanboom – Eine Geschichte der Balkanmusik in Österreich“ mustergültig, was passierte, als eine Musik mit anderem Balkanhintergrund in die Stadt kam und wie nachhaltig die von ihr eingeleiteten Veränderungen über den Boom hinaus wirkten.
Harald Justin


Andreas Gebesmair, Anja Brunner und Regina Sperlich
, 2014, Balkanboom! Eine Geschichte der Balkanmusik in Österreich. Peter Lang Academic Research.

Foto Sandy Lopicic Orkestar