Ein Blog mit imaginären Flügeln – die Performancekünstlerin Barbara Lüneburg im mica-Interview

Mit dem social media Kunstprojekt „transcoding“ versucht eine Gruppe rund um die Performancekünstlerin Barbara Lüneburg junge Menschen auf partizipative Weise mit zeitgenössischer Kunst in Berührung zu bringen. Ein Interview über ein möglicherweise bahnbrechendes Projekt. Das Gespräch führte Curt Cuisine.

Wie kam es zum Projekt „Transcoding“?
Barbara Lüneburg: Ich wohne seit vier Jahren in Österreich und habe schon im ersten Jahr von den PEEK-Projekten zur künstlerischen Forschung des FWF (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung) gehört. Ich halte das für einmalig in Europa. Das hat mich natürlich sofort interessiert. Darüberhinaus unterrichte ich seit mehreren Jahren an Medienfachhochschulen –  vor allem StudentInnen, die mit der Art von Kunst, wie ich sie mache, wenig zu tun haben, deren künstlerisch-musikalischer Hintergrund eher in der Pop-, Elektronik-, Bandkultur liegt und die an den FHs vor allem einen praktischen Umgang mit Medien und Medientechnik lernen. Den Austausch zwischen ihnen und mir, man könnte auch sagen zwischen junger Popularkultur und “Highart”, fanden wir alle spannend. Ich konnte die StudentInnen zum Hören und Erleben von Klängen und Kunst verführen, die sie nicht kennen und die sie möglicherweise nur schwer entdecken würden, während sie umgekehrt mit ihrem eher populärkulturellen Hintergrund meinen Input zu etwas völlig Neuem verschmolzen haben.

Zudem sind Erfahrungen aus meiner Arbeit im Ausland eingeflossen. Ich habe jahrelang in Holland gelebt, da gab es früher eine unglaublich gute Kulturförderung, die aber in den letzten Jahren stark abgebaut wurde. Künstler werden dort inzwischen nicht mehr nur dafür zur Verantwortung gezogen, dass sie gute Kunst machen, sondern auch dafür, dass sie die Säle füllen, früher eigentlich Aufgabe der Veranstalter. Sie werden an den creative industries (Design-, Werbeagenturen, Fernsehen etc.) gemessen und sollen finanziell möglichst völlig unabhängig von Kulturförderung werden. Inwieweit das überhaupt möglich ist, ist Teil einer großen kulturpolitischen Fragestellung, die noch ungelöst ist. Davon abgetrennt ist aber die Frage, wie sich ein größeres Publikum erreichen lässt, berechtigt und spannend. So kam es zum Kunstprojekt „Transcoding“ rund um das Thema Identität, mit dem wir ein junges Publikum zwischen 20 und 40 Jahren erreichen und zu künstlerischen Partizipation anregen wollen.

Wie kam es zur Fokussierung auf das Thema Identität?
Barbara Lüneburg: Bei Thema “Identität” kann jeder aus seinem eigenen Erleben hinaus einhaken. Es umfasst die persönliche gesellschaftliche, familiäre Rolle, Gender, Berufswahl, Sprache, Religion, Nationalität, künstlerische Identität, Körper, die Liste ist unendlich. Von einem philosophischen, möglicherweise utopischen Ansatz her, könnte man sagen, dass wir uns im Prinzip täglich neu zu einer Identität entscheiden können. Wer will ich heute sein? Wer war ich gestern, welche Vision habe ich für die Zukunft? Was könnte faszinierender sein?

Wie ist das Projekt konkret aufgebaut?
Barbara Lüneburg: Das Projekt verläuft auf drei Ebenen. Zunächst via social media. Für mich an sich schon ein Kunstprojekt, die Stelle, wo Menschen zur Teilnahme, zur Partizipation aktiviert werden sollen. Die Resultate, die wir aus den Social Media gewinnen, speisen wir in eine Multimedia Show für Geige, interaktive Elektronik und Video, sowie in eine audiovisuelle Installation ein, die international reisen wird. Die Show wird Mitte 2015 fertig sein, die Installation dann 2016. Es ist ein umfangreiches, auf drei Jahre angesetztes Projekt. Begleitet wird das Projekt von dem Künstlerteam Anthony Kelly, Cathy van Eck, David Stalling, Damian Stewart und mir, sowie einer Social Media Strategin und ForscherInnen der FH St.Pölten.

Aber was ist das eigentliche Ziel, worum geht’s?
Barbara Lüneburg: Wir wollen Leute für die Kunst gewinnen, die wir machen, und wir wollen sie zum Teilnehmen bewegen. Wenn es uns gelingt, dass die Leute selbst kreativ werden, dann haben wir einen riesigen Schritt gemacht.  Zum Beispiel haben wir einen kleinen Youtube-Channel, wo junge KünstlerInnen aus Deutschland die Musik zu kurzen, von uns erstellten Videos gemacht haben. Seit Februar diesen Jahres arbeiten wir an dem „What-ifblog.net“, wo wir das Thema „Identität” aufgeteilt haben in „You, us and the Project“, „Art we love“, oder „Freedom of Choice“. Eine der großen Herausforderungen im Blog ist, das Thema „Identität“ dabei so zu aufzuarbeiten, dass es die Leute anspricht und sie spontan bereit sind, sich zu involvieren. Wir hatten etwa einen sehr poetischen Gastbeitrag einer Armenierin, die darüber geschrieben hat, wie die Kultur ihres Landes ihre Identität geprägt hat. Zu dem Thema „What if we had wings?“ beziehen wir uns auf Traumwelten oder Visionen, die Menschen haben, und erwähnen dabei auch die Sage von Ikarus, die Teil der europäischen Identität ist. Hoffentlich evoziert das bei unserer Community Bilder und “flügelverleihende” Visionen, die sie mit uns teilen.

Wie kommt ihr zu den Leuten? Denn Blogs gibt es ja wie Sand am Meer?
Barbara Lüneburg: Es dauert ein Weilchen, bis man Follower gewinnt. Uns gibt es als Blog erst seit Mitte Februar, und wir haben in unserem Pilotprojekt schon eine Menge Erfahrungen gesammelt. Verlinkungen mit anderen Websites sind enorm wichtig und aktive Teilnahme und Interesse an der Community. Um zu Partizipation zu bewegen, muss man in der Bloggerwelt sehr aktiv sein, was unglaublich viel Zeit verschlingt. Man muss an Community-Angeboten teilnehmen, das Projekt ständig präsentieren, aber auch andere teilnehmende Blogs lesen und kommentieren, Interesse gezeigt und gegenseitigen Austausch anregen. Es ist ein Geben und Nehmen. Interessanterweise haben wir schon den ersten Award bekommen als „most influental blogger“. Ich denke, das  zeigt, dass Menschen bereits das Potenzial sehen. Jeder Social Media Kanal hat darüberhinaus unterschiedliche Herausforderungen und ein anderes Verhalten der Community. Wir haben twitter, pinterest, google plus, wordpress, youtube – für jeden Kanal brauchen wir daher eine andere Vorgehensweise.

Also ein klassisches networking, um auf das Projekt aufmerksam zu machen. Oder mit anderen Worten: zum Projekt gehört die PR-Arbeit dazu?
Barbara Lüneburg: Es ist keine PR-Arbeit, sondern es ist ein Suchen nach Leuten, die Interesse an einer Mitarbeit in einem Kunstprojekt haben. Wir wollen die Menschen kennen lernen, wollen wissen, welche Sprache sie sprechen und wollen, dass sie das Projekt beeinflussen können. Zum Beispiel haben wir zu Beginn die Idee der Philosophin Judith Butler vom “Undoing Gender” als starken und deutlich sichtbaren Einfluss im Blog präsentiert. Aber Gender wurde in der partizipativen Welt und unserer jungen Zielcommunity eher als unsexy abgelehnt. Also haben wir das vorerst mal in dieser expliziten Deutlichkeit herausgenommen. Partizipation bedeutet für uns auch, dass eine gegenseitige Einflussnahme da ist und wir auch auf unsere Community reagieren.

Wie weit geht diese Offenheit? Wird am Ende auch der ursprüngliche Kunstanspruch aufgegeben?
Barbara Lüneburg: Wir werden unseren Kunstanspruch nicht aufgeben. Uns ist natürlich auch klar, dass wir damit auch ein Nischenblog bleiben. Es geht uns nicht darum, unbedingt Massen zu bewegen. Aber wir wollen eine Öffnung, und zwar in beide Richtungen von uns zum Publikum und vom Publikum zu uns. Dazu müssen wir Gelegenheit geben, uns und unsere Arbeit kennenzulernen, zu kommentieren, selbst kreativ zu werden. Wir versuchen unser Projekt einem Publikum zu öffnen, für den unser Kunstsektor oft nicht so ohne weiteres zugänglich ist.  Wie man schnell an ein großes Publikum kommen könnte, ist klar, darum geht es uns aber nicht.

Mit dem berühmten Katzenblog zum Beispiel.
Barbara Lüneburg: Genau.

Man könnte ja Katzenbilder mit zeitgenössischer Musik verknüpfen?
Barbara Lüneburg: Auch das gibt es schon, klar… Aber was ist für uns spannend? Ich denke, das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Zugänge. Eben dass Leute, die aus der Popularmusik kommen, mit meinen Sounds etwas völlig anderes machen, als ich machen würde. Als nächsten Schritt werden wir beispielsweise auf Soundcloud ein Archiv als open source anbieten, mit sehr schönen aufgenommenen Sounds und Klängen. Einzige Nutzungsbedingung ist, dass die Leute uns als  Quelle angeben und dass sie die entstandenen Sachen möglichst auch wieder zurück spielen.

Viele kreative Menschen veröffentlichen ihre Sachen ja ohnehin. Warum soll man mit Vorgaben anderer Künstler arbeiten?

Barbara Lüneburg: Menschen wollen gehört und gesehen werden. Eingebunden in ein bereits existierendes Projekt und in eine Gemeinschaft ist das einfacher, als wenn man alleine für sich zuhause “rumwerkelt”. Bei uns werden die entstandenen Arbeiten Teil eines Gesamtkunstwerkes. Wir werden Blog, Show und Installation international online und “offline” in der Kunstgemeinschaft präsentieren, das heißt die Beiträge der einzelnen Leute werden in einer Umgebung gezeigt, die ihnen sonst möglicherweise nicht zugänglich wäre. Darin drückt sich eine große Wertschätzung aus. Außerdem gibt es den Open-Source-Spirit. Menschen wollen teilen, gemeinsam entwickeln, Teil einer größeren Sache sein. Und zu guter Letzt: Kreativ sein macht einfach Spaß, oder?

Wenn alle, die in der sozialen Medienwelt aktiv sind, beim Projekt mitmachen können und dadurch zu Künstlern werden, was heißt das für den Begriff des Künstlers?

Barbara Lüneburg: In der Kreativitätstheorie gibt es ein sogenanntes systemisches Modell von Kreativität, das von drei Ebenen der Kreativität ausgeht. Einmal ist da der Künstler an sich, dann die Domain und das Feld. Die Domain ist dabei das gesammelte Fachwissen, die Kunsthistorie, das Feld ist das Publikum, die Medien, die Kritik. Viele Leute sehen sich als Künstler, schreiben aber nur für ihre Schublade, und denken nicht über Domain und Feld nach. Erst wenn es ein Geben und Nehmen in alle Richtung ist, wenn KünstlerInnen sich mit der Domain auseinandersetzen, ihre Arbeit zum Teil des Domainwissen wird und das Publikum sagt: das ist top!, dann ist es Kunst.

Dann wandelt „Transcoding“ also Menschen in Künstler um, weil ihnen hier ein Feld bereitet wird. Und für die Einbettung in die Domain ist auch gesorgt.
Barbara Lüneburg: Möglicherweise, vielleicht sogar in einem Beuys’schen Sinne, dass ein Künstler in jedem steckt. Wir sind einerseits Kuratoren, aber die mitmachenden Laien werden quasi auch zu unserem Feld. Das künstlerische Selbstverständnis ist Thema des Projekts. Durch die Partizipation und zur Verfügungstellung von Inhalten wird das klassische Selbstverständnis des Künstlers bzw. der Künstlerin durchaus in Frage gestellt, von urheberrechtlichen Fragen gar nicht zu reden.

Das heißt, das Thema der Partizipation greift den klassischen Kunstbegriff an. Es stellt sich die Frage, wo bzw. über wen die Kunst dann stattfindet. Wer der Künstler ist.

Barbara Lüneburg: Das sind spannende Fragen, für die wir offen sind. Ich habe mich schon in meiner Doktorarbeit, intensiv mit kollaborativer Kreativität auseinandergesetzt. Nicht nur auf der Ebene Komponist – Performer, sondern auch Performer-Veranstalter-Publikum. Wer beeinflusst wen, wie? Wie entsteht bei uns Kunst, was hat es mit dem Autorenbegriff auf sich? Auch das wird Teil der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Projektes.

Das klingt alles in allem nach einem wahnsinnig umfangreichen Projekt.
Barbara Lüneburg: Das ist es auch.

Curt Cuisine

Foto: Curt Cuisine

Die Diskussions- und Vortragsreihe mica focus wird unterstützt durch die Abteilung für Wissenschafts- und Forschungsförderung der MA7 Wien.