Die Auswahl der Musiker ist Teil des Kompositionsprozesses, sagt Komponist Johannes Berauer, dem mit „Chamber Diaries“ ein Album gelungen ist, das sich beiden Traditionen – dem Jazz und der Zeitgenössischen Musik – gleichermaßen verpflichtet fühlt und sie in einem kammermusikalischen Projekt miteinander kurzschließt. Das Interview führte Markus Deisenberger.
„Chamber Diaries“ – der Titel gemeinsam mit dem Cover, auf dem du allein im Cafe über Aufzeichnungen sinnierend zu sehen bist, erweckt zunächst einmal den Eindruck, als handle es sich um sehr persönliche Betrachtungen – solche, die man sonst eben in einem Cafe ins Tagebuch schreibt. Ist das so oder hast du eine falsche Fährte gelegt?
Johannes Berauer: Das ist gewollt so. Die Musik auf „Chamber Diaries“ ist sehr persönlich und sehr intim, und ich habe einen Titel gesucht, der das auch widerspiegelt. Es ist ein Kammermusikprojekt und als solches weder ein reines klassisches noch ein reines Jazzprojekt. Mir war von Anfang an der Kammermusikcharakter enorm wichtig. Auch zwischen den Musikern in der Interaktion war die Stimmung sehr intim.
Findest du, dass sich dieser Kammermusikcharakter durchzieht, oder wurde er stellenweise auch aufgebrochen?
Johannes Berauer: Er zieht sich durch. Die größte Besetzung ist ein Oktett. Aber es gibt schon zwei, drei Nummern, wo es innerhalb der bestehenden Möglichkeiten orchestraler arrangiert wurde.
Hat die zu treffende Aussage die Besetzung bestimmt?
Johannes Berauer: Ich glaube, dass es eher aus einer bestimmten Klangvorstellung wuchs. Aus einem Instrumentenpool verschiedene Charaktere und Stimmungen zu kreieren, war das Ziel. Und dabei habe ich versucht, es möglichst unterschiedlich zu gestalten
Es sind also keine konkreten Geschichten?
Johannes Berauer: Eher Stimmungen und Gedankenreflexionen. Nichts Literarisches. Die Stimmungen drücken sich durch die Instrumentierungen aus. Bei „Free Fall“ etwa durch die Kombination aus Saxophon und Klavier. Dadurch bekommt das Stück eine ganz eigene Energie. Der Gedanke des freien Falls durch den Raum erfordert viel Kraft. Andere Stücke sind da fragiler arrangiert.
Sind die Stücke völlig ausnotiert oder gibt es auch Freiraum für Improvisation?
Johannes Berauer: Ja, den gibt es. Und das ist auch extrem wichtig. Den Freiraum gibt es in jedem Stück. Umgekehrt ist kein einziges Stück völlig auskomponiert. Mir ging es wirklich um die Verbindung von Kammermusik und Jazz. Und das meine ich nicht nur im Begrifflichen, sondern tatsächlich. Es geht um zwei Arten Musik zu denken und ihre Verschmelzung. Trotz allem gibt es bei diesen beiden Musiken sehr unterschiedlichen Traditionen. Es gibt sehr wenige Musiker, die beide Traditionen verstehen und musikalisch erfühlen können. Genau mit solchen Leuten aber wollte ich arbeiten.
Auch wenn es nicht viele erfühlen können, wie du sagst, probiert haben es dennoch viele. Ich meine damit: Klassik und Jazz zu verschmelzen haben vorher schon viele versucht, mit ganz unterschiedlichen Erfolgen: Von großartig bis großartiger Kitsch gibt es da fast alles. Gab es Vorbilder für den Crossover?
Johannes Berauer: Es gibt einige konkrete Vorbilder. Billy Childs aus Kalifornien etwa hat ein wunderbares Projekt mit dem Titel „Jazz Chamber Music“ gestartet. Im Gegensatz zu meiner Arbeit hatte er allerdings eine Rhythmusgruppe und Klavier dabei. Dazu gesellen sich dann bei ihm klassische Instrumente, wobei die Musik aber trotzdem sehr kammermusikalisch gedacht ist. Es gibt ja den Begriff des Third Stream, der für diese Art von Musik von Gunther Schuller geprägt wurde. Schuller setzte sich an der Uni, an der ich studierte – am New England Conservatory – sehr für die Musik zwischen diesen Welten ein. Er spielte zum Beispiel mit Miles Davis und Gil Evans auf der Birth of The Cool. Den Begriff prägte er in den 1950ern. Damals wurde diese Fusion von beiden Fraktionen vehement angefochten. Heute ist das anders, weil es viele Musiker gibt, die von mehreren Welten – man muss es ja gar nicht auf die beiden Welten des Jazz und der Klassik beschränken – eine Ahnung haben.
Was ist die Voraussetzung einer gelungenen Fusion?
Johannes Berauer: Eine gewisse Offenheit und Respekt einer bestimmten Tradition gegenüber. Es geht um den Versuch zu verstehen, wie eine Tradition denkt. Und dabei wiederum geht es eher darum, das Wesen zu erfassen als die Oberfläche zu studieren. Natürlich kann ich Bach spielen und dazu improvisieren…
Vieles, was in diesem Bereich geschah, hatte mehr mit der Oberfläche zu tun. Mir geht es aber darum, zu erforschen wie eine bestimmte Musik denkt. Wer an Jazz denkt, denkt automatisch auch an Improvisation. Es muss daher entsprechende Freiräume geben, in denen die Musiker improvisatorisch tätig werden können. Die Herausforderung besteht darin, das mit kompositorischem Denken zu verweben. Dieses kompositorische Denken einerseits und die Freiheit andererseits – in der Verschmelzung dieser beiden Bereiche liegt die Essenz meiner Musik, denke ich.
Sehr strukturiert zu sein, andererseits aber auch sehr frei, muss also kein Widerspruch sein?
Johannes Berauer: Genau. Das muss kein Widerspruch sein. Die Herausforderung ist es genau diesen Spagat zu schaffen., Als Komponist bin ich natürlich strukturiert. Die Integration von Freiräumen in diese Struktur zu bewältigen – genau das ist die große Herausforderung.
War das in Deiner Historie immer klar, sich mit beidem – Neuer, komponierter Musik und Jazz – beschäftigen zu wollen?
Johannes Berauer: Es war eigentlich immer schon so, ja. Seitdem ich komponiere, habe ich beide Bereiche bedient. Aber nie habe ich die Verbindung beide Bereiche so konsequent gesucht wie jetzt und tatsächlich Musik geschrieben, bei der sich Musiker beider Richtungen mit ihrem ganz speziellen Wesen gleichermaßen einbringen können. Insofern ist das Album die logische Weiterentwicklung von etwas, das ich immer schon, aber eben nie so konsequent wie jetzt, gemacht habe. Indem sich so viel zusammenfügt, bekommt es etwas sehr Persönliches.
Das heißt aber, dass man die Grenze oder die vermeintliche Grenze zwischen diesen beiden Richtungen nicht im Kopf hat und sie bewusst zu überschreiten versucht?
Johannes Berauer: Im Konkreten ergibt sich das im Kompositionsprozess. Es ist ein Aufsaugen der Elemente. Das geht über die Jahre.
Wie lange dauerte die Arbeit an diesem Album?
Johannes Berauer: Die Kompositionsarbeit dauerte fast ein Jahr. Bis das Album veröffentlicht war, dauerte es ein weiteres Jahr.
Wie ist es, die eigene Musik schließlich von Musikern gespielt zu hören? Klingt die Zusammenführung, das Resultat also, dann mitunter ganz anders, als man es sich eigentlich vorstellte?
Johannes Berauer: Von Projekt zu Projekt ist das sehr verschieden. Da gibt es Höhen und Tiefen, großartige Ergebnisse und solche, die man besser vergisst.
Ist ein großartiges Ergebnis, das meiner Meinung die „Chamber Diaries“ sind, der Qualität der Musiker geschuldet und der eigenen Komposition?
Johannes Berauer: Es gibt keinen Künstler, der konstant gleiche Qualität abliefert. Es ist immer eine Suche und eine Entwicklung. Die Momente, in denen sich dann alles schön zusammen fügt, sind die befriedigenden, die andere, bescheidenere Momente vergessen machen.
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Und war das bei diesem Projekt so, dass sich alles schön zusammenfügte?
Johannes Berauer: Definitiv. Das war eine sehr runde Sache. Das ist auch den Musikern zu verdanken, die die Musik verstanden und einfach großartig spielten. Ich hatte mir viele Gedanken gemacht, welche Musiker ich frage. Die Musiker machen ja letztlich den Unterschied aus, ob es durchschnittlich oder großartig wird, weil sie die Musik verkörpern müssen. Man hat nichts von einer guten Komposition, die von Musikern gespielt wird, die das, was sie spielen, nicht verkörpern können. Und überall dort wo improvisiert wird, ist das doppelt wichtig, weil sonst Dinge improvisiert werden, die nicht in den Rahmen passen. Das ist heikel. Insofern ist die Auswahl der Musiker Teil des Kompositionsprozesses.
Da erwies sich Wolfgang Muthspiel wohl als Idealbesetzung, weil er ja selbst erfolgreich auf diesen beiden Hochzeiten – Jazz und Klassik – tanzt.
Johannes Berauer: Ja, aber nicht nur er. Bei allen Musikern war das der Fall. Pianist Gwilym Simcock verfügt über eine klassische Ausbildung. Und auch Klaus Gesing, der Saxophonist, macht sehr viel Kammermusik und verfügt deshalb über einen sehr klassischen Sound – gerade beim Saxophon gibt es ja eine riesige Bandbreite an Ästhetiken.
Auf Youtube gibt es Live-Aufnahmen des Aufnahmeprozesses zu sehen. Das wirkt hockkonzentriert und fokussiert.
Johannes Berauer: (lacht) Ja, das Video wurde im Studio gemacht. Bei einem Live-Konzert schaut das dann schon wieder ganz anders aus. Da war sicher diese besondere Atmosphäre dafür ausschlaggebend, in der jeder darauf erpicht ist fehlerlos zu spielen. Das sieht man dann an den ernsten Gesichtern.
Was macht für Dich den speziellen Reiz von Kammermusik aus?
Johannes Berauer: Ich mag das Filigrane. Und sie ist kompositorisch sehr reizvoll. Es gibt viel Raum für die Musiker und deren Persönlichkeit, was wiederum dem Jazz-Gedanken entspricht. Für mich ein großes Vorbild ist Duke Ellington, der immer ein großes Orchester aus hochqualifizierten Individualisten formte. Da hatte jeder Musiker einen starken eigenen Sound. Dennoch schaffte er es immer, diese einzelnen Persönlichkeiten in das Gesamte einzufügen. Im Orchester aber geht es immer darum, auch einen standardisierten Klang zu erfüllen und ein perfektes Blending zwischen Musikern uns Instrumenten herzustellen. In der Kammermusik ist dagegen das Individuum mehr spürbar. Ich denke beim Schreiben, wenn nicht schon an den konkreten Musiker, so zumindest an das Instrument.
Wann wurde klar, wer welchen Part spielen wird?
Johannes Berauer: Das stand sehr früh schon fest. Als ich mit dem Komponieren anfing, traf ich mich mit Wolfgang Muthspiel. Der war sofort begeistert von der Idee und wollte selbst mitspielen, was wie Weihnachten für mich war. Und dann haben wir gemeinsam die Besetzung erdacht.
Von der klanglichen Ästhetik hat mich das Album streckenweise sehr stark an ECM-Aufnahmen erinnert. Ist das Zufall oder liegt das auf der Hand, wenn man an dieser Schnittstelle tätig ist?
Johannes Berauer: Das weise ich nicht von der Hand, aber es ist keine bewusste Positionierung, wenngleich ich die Musik von diesem Label natürlich schon toll finde. Insofern sind die Eindrücke und Einflüsse sicher da.
Im August 2008 erschien deine Debüt-CD ‚A Place To Go’ auf Cracked Anegg. Kann man dieses Debüt mit Chamber Diaries vergleichen?
Johannes Berauer: Kaum. Das ist schon sehr anders. Das war damals eine richtige Jazz-Platte. Da war ich noch sehr in der Bostoner Jazzwelt drinnen.
Kann man diese Szenezugehörigkeiten eigentlich am Ort des Studiums festmachen? Das heißt: Ist man als in Linz studierender automatisch in einer anderen Szene als in Boston?
Johannes Berauer: Das Umfeld färbt schon sehr. Die USA waren insofern spannend, als dort Jazz wirklich noch eine gelebte Tradition ist. Bei uns gibt es auch großartige Jazzmusiker und eine großartige Szene, nur klingt die völlig anders: Freier, experimenteller. Zumindest habe ich das während des Studiums so erlebt. In den USA ist noch jeder damit beschäftigt, Coltrane und Parker auszuchecken, um das imitieren zu können. Natürlich verbreitert sich das dann, wen die Leute in den Beruf einsteigen. Aber während des Studiums lag der Fokus ganz stark auf dieser Tradition des Jazz.
Und in Österreich ist es genau umgekehrt?
Johannes Berauer: Schwer zu sagen, aber seitdem ich aus den Staaten zurück bin, lebe ich in Wien, wo die Klassik schon sehr stark ist. Aber auch in den USA hatte ich klassische Lehrer. Aber diese Fokussierung auf den Jazz ist für mich in den Hintergrund gerückt – vielleicht auch durch die Projekte, die ich derzeit am Laufen habe. Im Großen und Ganzen waren das in den letzten Jahren einfach mehr klassische Projekte.
Wie sieht der weitere Weg aus? Möchtest Du genau in diesem Bereich weitermachen?
Johannes Berauer: Ich wünsche mir das, ja. Und ich habe das Gefühl, dass es genau diese Musik ist, die mir nahe liegt. Ich glaube auch, dass ich eine Ahnung von beiden Welten habe – wie sie in sich funktionieren. Und da ist ein Potenzial da, das bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist.
Was ist – in wenigen Sätzen – das Spezielle an „Chamber Music“?
Johannes Berauer: Das Ineinanderfließen von Komposition und Improvisation und die Qualität der Musiker, die Improvisation aus der Musik heraus wachsen zu lassen und in den Dienst der Komposition zu stellen. Das verlangt dem Musiker einiges ab. Speziell ist sicher auch die Klangästhetik. Unter den vielen Crossover-Projekten gibt es sicher wenige, die sich so stark auf das Kammermusikalische reduzieren.
Vielen Dank für das Gespräch.
„Chamber Diaries“: Die Präsentation des Albums findet am 19.12. im Porgy & Bess statt. Im Jänner folgen weitere Termine, darunter auch in London.
Foto Johannes Berauer: Jens Lindworsky