„DIE ZITHER IST FÜR DIE MIKROTONALITÄT JA GERADEZU PRÄDESTINIERT“ – MARTIN MALLAUN IM MICA-INTERVIEW

Der Tiroler Zithervirtuose und Botaniker MARTIN MALLAUN ist schon seit Jahren der Schönheit mikrotonaler Stimmungen verfallen. Anfang Februar spielte er mit seinem Zither-Trio GREIFER, gemeinsam mit Reinhilde Gamper und Leopold Hurt, im Rahmen des ECLAT Festival 2021 ein Konzert in Stuttgart. Vor kurzem hat der forschende, experimentierfreudige Musiker eine betörend eindringliche Sammlung an alten wie auch ganz neuen Klangbeispielen beim Wiener Label loewenhertz veröffentlicht. Der Titel des Albums ist kurz und prägnant: „Stimmungen“. Im Interview mit Michael Franz Woels verrät MARTIN MALLAUN, wo er die Veränderungen unserer Natur hautnah miterleben kann, wann er das erste Mal für Monate in die Welt der Obertonreihen abtauchte und wie die jenseitige, albtraumhafte Welt eines Alfred Kubin „zithiert“ werden kann.

Du bist nicht nur als Musiker, sondern auch als Biologe tätig. Seit 2001 untersuchst du im Rahmen des Forschungsprojektes „GLORIA“ die Auswirkungen des Klimawandels auf die Vegetation alpiner Ökosysteme. Kannst du uns kurz deinen Tätigkeitsbereich erklären? Hat sich dein Wissen als Biologe auf deine Art des Musizierens ausgewirkt?

Martin Mallaun: Bei einem Konzert, das ich vor einigen Jahren in London spielte, begann der Moderator Michael White seine Einführung mit „Martin Mallaun has a certain mess in his biography …“. Das trifft es ganz gut, ich war in den letzten Jahren oft hin- und hergerissen zwischen der Botanik und meiner Hauptbeschäftigung, der Musik. In den Sommermonaten kartiere und forsche ich für verschiedene Institutionen. Für mich am wichtigsten ist dabei das Projekt „GLORIA“, ein internationales Netzwerk von Biologen, die nach einem festgelegten Protokoll die pflanzliche Vielfalt im Hochgebirge und deren Veränderung durch den Klimawandel untersuchen. Konkret bedeutet das, dass wir im Sommer meist für ein paar Wochen im Zelt am Berg unterwegs sind und auf Daueruntersuchungsflächen die Pflanzenwelt erheben. Eine sehr schöne Arbeit, die auch eindrücklich ist, weil wir die rasanten Veränderungen unserer Natur hautnah miterleben. Auf die Musik hat sich diese Arbeit eher nicht ausgewirkt, außer, dass es ab und zu wirklich „gesund“ ist, Abstand von seiner Arbeit zu gewinnen.

Martin Mallaun (c) Reinhard Winkler

„IM ZITHERBAU HAT SICH IN DEN LETZTEN 20 JAHREN MEHR BEWEGT ALS IN DEN KNAPP 200 JAHREN DAVOR.“

Dein aktuelles Album heißt „Stimmungen“. Du schreibst, dass musikhistorisch betrachtet, jenes Stimmungssystem, welches die Oktave in zwölf gleichgroße Halbtonschritte teilt, eher „als eine vorübergehende Laune betrachtet werden könnte“. Kannst du dich noch an dein Schlüsselerlebnis im Bereich der mikrotonalen Stimmungen erinnern?

Martin Mallaun: Ich beschäftige mich seit beinahe zwanzig Jahren mit alternativen Stimmungssystemen – die Zither ist für die Mikrotonalität ja geradezu prädestiniert. Besonders eindrücklich war dabei die Mitwirkung an der Oper „Thomas“ von Georg Friedrich Haas im Jahr 2014. Die Zitherpartitur in diesem Werk ist ein wahres Monster: über 120 Seiten Zithernoten, gespielt auf drei  Zithern, die nach verschiedenen Obertonreihen komplett umgestimmt werden. Für dieses Projekt tauchte ich mehrere Monate lang in eine Welt der Obertonreihen ein – ein fantastisches Hörerlebnis! Danach hatte ich eine Zeit lang richtig Probleme mit der gleichstufigen Stimmung, alles hörte sich falsch an.

Das aktuelle Album präsentiert auch keine gleichstufigen, sondern alternative Stimmungen auf der Zither. Dein experimentierfreudiger Zitherbauer Klemens Kleitsch entwickelte für dich eine E-Zither und eine sogenannte „Cetra Nova“ mit mitteltönigem Griffbrett – die erste ihrer Art weltweit. Wie habt ihr euch kennengelernt, wie hat sich eure Zusammenarbeit ergeben?

Martin Mallaun: Im Zitherbau hat sich in den letzten zwanzig Jahren mehr bewegt als in den knapp 200 Jahren davor. Vor allem Klemens Kleitsch, von Beruf eigentlich Cembalobauer, revolutionierte den Klang und die Bauweise der Zither. Das Meiste, was jetzt im Bereich der neuen Musik auf der Zither passiert, wäre ohne seine Arbeit nicht denkbar. Die Initiative für diese Innovationen ging von Georg Glasl aus, der an der Musikhochschule in München die Zither unterrichtet und seit langem mit Klemens zusammenarbeitet. Ich konnte also bereits auf diese tollen Instrumente, wie die E-Zither oder die Cetra Nova, eine Zither mit sehr dünner Decke und stark reduzierter Saitenspannung, zugreifen. Für mein Projekt „Stimmungen“ entwickelte Klemens Kleitsch seine Cetra Nova weiter, indem er ein Griffbrett in mitteltöniger Stimmung baute. Das ist jene Stimmung, die vor allem in der Zeit zwischen 1500 und ca. 1650 verwendet wurde. Es ist kaum zu glauben, wie sehr so ein verändertes Stimmungssystem den gesamten Klang eines Instruments ändert!

Mitteltöniges Griffbrett

„AUCH IN DER ALTEN MUSIK GAB ES RICHTIGGEHEND UTOPISCHE ENTWÜRFE.“

Die Wahl einer Skordatur, eines speziellen Stimmungssystems, ist mittlerweile ein Parameter, über den Komponierende frei verfügen. 1920 war zum Beispiel der tschechische Komponist und Musiktheoretiker Alois Hába einer der ersten, der mit Vierteltonstücken gegen die „herrschende Ordnung“ rebellierte, du zitierst im Booklet auch Arnold Schönberg mit „jenem Kompromiß, der sich temperiertes System nennt, das einen auf unbestimmte Frist geschlossenen Waffenstillstand darstellt.“ Welche anderen historisch interessanten oder skurrilen Beispiele ungewöhnlicher Skordaturen sind dir bei deiner künstlerischen Recherche untergekommen?

Martin Mallaun: Eines der schönsten und eigentümlichsten Beispiele ist für mich immer noch die Musik von Harry Partch mit ihrer „just intonation“. Leider hat er ja darauf bestanden, eigene Instrumente zu entwickeln, anstatt für die Zither zu komponieren. Der Hamburger Komponist Manfred Stahnke hat in seinem Stück „partch zither“ den Versuch unternommen, diese Klangwelt auf die Zither zu übertragen. Aber auch in der Alten Musik gab es richtiggehend utopische Entwürfe. Das Problem der mitteltönigen Stimmung war ja, dass viele Intervalle schlecht klangen und deshalb nicht verwendet werden konnten. Daher entwickelten Cembalobauer Instrumente mit geteilten Tasten – zum Beispiel es/dis und gis/as – wie auch auf meiner Zither. Der Italiener Nicola Vicentino trieb das auf die Spitze und baute das Archicembalo, ein Cembalo mit 24 Tasten pro Oktave!

Differenz/Wiederholung 10a“, das Eröffnungsstück des Albums „Stimmungen“ ist von Bernhard Lang. Es gehört zur Serie der „Differenz/Wiederholung“-Stücke basierend auf der Philosophie von Gilles Deleuze und war ursprünglich als Doppelkomposition für Koto, eine japanische Wölbbrett-Zither, die originär keine temperierte Stimmung aufweist, konzipiert. Bei deiner Interpretation kommt auch das Sampling zur Anwendung. Kannst du auf diesen Aspekt ein bisschen eingehen?

Martin Mallaun: Wie der Titel schon sagt, gehört dieses Stück zur Serie der „Differenz/Wiederholung“-Stücke, die über das Thema der musikalischen Wiederholungen reflektieren. Ziel ist eine Art phänomenologische Erforschung der Wiederholung in der Vielfalt ihrer Differenzierungen. Während in den ersten Stücken der Serie die Schleifen immer gespielt oder gesungen wurden, fand in die letzteren, so auch in „DW 10a“, das Sampling im technischen Sinn Eingang. Dazu entwickelte Bernhard Lang gemeinsam mit Thomas Musil vom Institut für Elektronische Musik und Akustik (IEM) an der kug in Graz den Loop-Generator „looping tom“, der die Wiederholung im Stück ermöglicht. Die E-Zither ist über ein Interface mit dem Computer verbunden, das eben Gespielte wird elektronisch verarbeitet und vermischt sich mit dem Live-Klang.

„WENN MAN HEUTE MIKROTRONALITÄT HÖRT, DENKEN DIE MEISTEN AN ZEITGENÖSSISCHE MUSIK.“

Es folgen dem Stück von Bernhard Lang drei Lautenstücke der englischen Renaissance von John Dowland. Warum hast du zwei Galliarden, französische Tanzstücke, ausgewählt?

Martin Mallaun: Wenn man heute „Mikrotonalität“ hört, denken die meisten an zeitgenössische Musik. Dabei gab es ja auch in der Alten Musik keine gleichstufige Stimmung. In der Zeit vor 1800 wurden die verschiedensten Stimmungssysteme verwendet, jedes davon eine eigene Klangwelt. Ich wollte also neue und alte Musik gegenüberstellen, die nicht in der zwölftönigen gleichstufigen Stimmung klingt – dem heute in der westlichen klassischen Musik weitaus am häufigsten verwendeten Stimmsystem. Die Musik von John Dowland beschäftigt mich seit Studienzeiten, allerdings hat mir die historische Stimmung noch einmal einen völlig neuen Blick darauf eröffnet. Die Spannung zwischen Dissonanz und Auflösung wird viel stärker, alles wirkt reicher, organischer und farbiger.

Ein zeitgenössisches Stück des Amerikaners William Dougherty, eine Komposition für mitteltönige Zither und Sinustöne mit dem Titel „Traum im Traum“, findet sich auch auf dem Album. Kannst du für uns diesen „Traum im Traum“ deuten?

Martin Mallaun: William Dougherty schrieb „Traum im Traum“ für eine Aufführung im Rahmen des Festivals 4020 in Linz. Das Thema des Festivals und des Werkes war Alfred Kubins surrealistischer Roman „Die andere Seite“ aus dem Jahr 1909. Ein phantasmagorisches Buch über ein Traumreich, das in einem nie endenden Zyklus von Stagnation, Wiederholung und schwindelerregender Bürokratie gefangen ist. „Traum im Traum“ ist Doughertys Beschwörung einer solchen Welt im Klang der Cetra Nova: Diese Zither ist mitteltönig gestimmt und verfügt über mikrotonale Tonhöhen, die in der zwölftönigen gleichstufigen Stimmung nicht realisierbar sind. In „Traum im Traum“ nutze er die Jenseitigkeit mikrotonaler Harmonien, die der Cetra Nova zur Verfügung stehen, in Kombination mit subtil klingenden Sinustönen, um im Klang die verquere, albtraumhafte Welt von Kubins Roman „Die andere Seite“ zu evozieren – eine Welt, die an ihrer Oberfläche idyllisch erscheint, aber in Wahrheit in einer wahnsinnig machenden Leere gefangen ist.

Martin mallaun (c) Peter Gannushkin

„ALS INTERPRET GERÄT MAN IN EINEN SOG.“

Du hast wenig bekannte Miniaturen für die Laute des Domorganisten und Meisters der niederländischen Vokalpolyphonie Jan Pieterszoon Sweelinck als weitere Beispiele aus der Renaissance, beziehungsweise des Frühbarock, ausgewählt. Lautenkompositionen, die zum Teil noch nie auf CD eingespielt wurden …

Martin Mallaun: Neben der hohen Qualität dieser Stücke hat mich vor allem der Reiz des Unbekannten interessiert. Sweelinck ist vor allem für seine großartige Vokalmusik und sein Werk für Tasteninstrumente berühmt. Die Laute spielte dagegen für ihn eine untergeordnete Rolle. Der Sweelinck-Biograf Frits Noske nahm aber an, dass der Komponist eine Laute besaß und diese Werke für seine eigenen Mußestunden komponierte. Leider haben mit sicherer Zuschreibung nur sieben davon bis in unsere Zeit überdauert: drei Psalmvertonungen in „Thysius Lute Book“ und vier Tanzsätze in „Lute Book of Edward“, beides Manuskripte. Gerade die Psalmvertonungen sind ungemein reizvolle Beispiele für die Figurationskunst und Kontrapunktik von Sweelinck. Umso mehr erstaunt es, dass diese wunderbaren Miniaturen bis heute wenig bekannt sind.

Du forschst intensiv an der Erweiterung des Repertoires für die Zither. Das Album-Abschlussstück „graben/wischen/Feder“ des österreichischen Komponisten und Klangkünstlers Marco Döttlinger ist ein intensives, abstrakt-bluesiges „Bottle-Neck“-Stück. Ein scheinbar dekonstruierter Shuffle-Rhythmus wird repetiert und kontinuierlich verdichtet, bis es schließlich final „abhebt“ ‒ das bei weitem jazzigste Stück des Albums. Wie würdest du den rauen Charme des Stückes beschreiben?

Martin Mallaun: Marco Döttlingers Zitherstück beginnt sehr spartanisch mit der langsamen Repetition eines einzigen Tons und verdichtet sich im Lauf von zehn Minuten kontinuierlich zu einer wahren Klangwand. Als Interpret gerät man in einen Sog, der einen mit der Zeit immer tiefer hineinzieht. Am Schluss ist das Ganze so dicht, dass es spieltechnisch kaum noch zu bewältigen ist, gleichzeitig führt dieser ganze „Wahnsinn“ aber gefühlt in eine Art Stillstand ohne Entwicklung.

Herzlichen Dank für das Interview!

Michael Franz Woels

Links:
CD „Stimmungen“ beim Label Loewenhertz
Martin Mallaun
Martin Mallaun (music austria Datenbank)
Trio Greifer beim ECLAT-Festival (Stream)
Forschungsprojekt GLORIA
Bernhard Lang
Bernhard Lang (music austria Datenbank)
Marco Döttlinger