„Die Leute waren nicht so gierig“ – die Wienerliedlegende KURT GIRK im mica-Interview

KURT GIRK ist eine lebende Legende des Wienerlieds. Der „Mexiko-Kurtl“ oder der „Frank Sinatra von Ottakring“, wie er von seinen Fans liebevoll genannt wird, hat viel miterlebt: die dunkle Zeit der Naziherrschaft und die goldene Zeit, als in der Rinderhalle St. Marx noch jeden Tag für die Sautreiber gesungen wurde. Heute, im hohen Alter von 83 Jahren, scheint sein Tatendrang ungebrochen: Immer noch gibt er regelmäßig Konzerte – etwa im THEATER AM SPITTELBERG oder bei diversen Heurigen. Der aufwendig gemachte Bildband „Es is a oide Gschicht, a Herz so leicht zerbricht“ (Atzler/Mussil/Weber) erzählt von seinem Leben. In seinem verlängerten Wohnzimmer, dem Ottakringer Heurigen Sissi Huber, entführt er interessierte JournalistInnen gerne in eine Zeit, in der es noch Straßensänger und eigene Strafanstalten für sie gab. Das Interview führte Markus Deisenberger.

Sie sind öfter da beim Heurigen?

Kurt Girk: Das ist mein Stammlokal. Da habe ich schon vor sechzig Jahren gesungen, da wohne ich.

Das Wienerlied war ja immer eng mit besonderen Lokalen und Orten verbunden, wo es gesungen wurde. Im Buch wird vom Schlachthof St. Marx als einem legendären Ort des Wienerlieds erzählt.

Kurt Girk: Das war eine einmalige Angelegenheit, so etwas kommt nicht mehr. Das war ein Volksfest, wenn wir dort waren. Ich hatte damals selbst ein Pferd und bin deshalb einmal pro Woche runter nach St. Marx. Und die Sautreiber waren musikalische Menschen. Das waren wirkliche Wiener. Die Maly hat damals noch gelebt. Die hatte auf der Landstraße vor St. Marx eine Trafik. Und wenn sie mich gesehen hat, wie ich mit meinem Pferd vorbeikam, hat sie „Servas Kurtl“ gerufen. Und: „I kumm glei.“ Damals gab es noch 280 Sautreiber. Die hatten alle eine Marke. Später übernahm das die Gemeinde, dadurch starb das Ganze auch. Die Gemeinde hat ein ganzes Jahr lang nicht das verkauft, was die damals an einem Tag verkauften. Da war was los. Tausende Schweine, Ochsen, Stiere und Pferde.

Und wann haben Sie gesungen? Danach?

Kurt Girk: Nicht danach. Während der Arbeitszeit. Sobald wir anfingen, haben die alles liegen und stehen lassen und sind zur Schank gekommen. Dann hat die Viecher inzwischen wer anderer von den Waggons, die ankamen, in die Stallungen getrieben. Das waren alles lustige Leute. Alle gut drauf. Später hatte ich ein Wirtshaus in der Nähe. Da hat sich‘s abgespielt, das glaubt man nicht. Da war was los. Ohne die Gschaftlhuber, die beim Radio oder beim Fernsehen waren. Das waren doch alle Banausen, die keine Ahnung hatten. Ein ehemaliger Intendant des ORF – ich will keine Namen nennen – hat damals gesagt: „Bei mir kommt kein Wienerlied vor.“ Was für ein Volltrottel. Und dazu unverfroren. Die hatten weder vom Wienerlied noch vom Wienertum eine Ahnung.

Gibt es denn heute noch eine lebhafte Szene?

Kurt Girk: Sicher. Im Theater am Spittelberg zum Beispiel. Da hat der Karl Hodina seinen 80er gefeiert. Das ist eine ausgesprochen schöne Sache dort. Die haben ein Herz für das Wienerlied. Demnächst spiele ich dort wieder, ein neues Programm. Und es gibt sehr gute junge Leute, die sich interessieren: Die Stickler etwa ist ein Weltwunder. Was die kann, ist ein Wahnsinn. Ich hab damals mit ihrer Mutter geredet. Da erzählte sie mir: „Meine Tochter, die Maria, hat schon mit fünf steirische Harmonika gespielt.“ Mit fünf Jahren! Das muss man sich einmal vorstellen. Heute ist sie eine Weltmeisterin. Die hat Technik und Hirn. Und singen kann sie obendrein.

Mit den Jungen macht es Ihnen besonders Spaß, scheint es.

Kurt Girk: Na freilich. Die Alten sterben ja weg. Umso wichtiger ist es, dass Junge nachkommen. Das macht mich stolz. Und man muss es auch hervorheben und loben. Dass man sich nicht nur für Jazz und Pop interessiert, sondern auch für das Wienerlied. Mein Mitmusiker, der Rudi Koschelu, gibt Unterricht für Kontragitarre. Da lernen viele. Das würde man nicht glauben, wie viele von den Jungen sich für das Wienerlied interessieren. Kontragitarre spielen ja heute nicht mehr so viele. Der Koschelu, der Havlicek und der Gitarrist von den 16er Buam. Aber sonst …

„Ich bin ja in Ottakring aufgewachsen, und da war jeder Zweite ein Sänger oder Musiker.“

Wer waren Ihre Vorbilder, als Sie ein Bub waren?

Kurt Girk: Der Heesters, der hat perfekt gesungen. Aber mit der Zeit haben sich die Wiener Sachen durchgesetzt. Ich bin ja in Ottakring aufgewachsen, und da war jeder Zweite ein Sänger oder Musiker. Die ganze Schrammel-Dynastie – das waren alles Ottakringer.

Und von wem haben sie sich was abgeschaut? Vom Karl Loserth?

Kurt Girk: Der Loserth Karli war automatisch mein Lehrmeister. Wenn ich den im Weingarten oder einem echten Gesangsheurigen auf der Ottakringer Straße, wo ich Stammgast war, getroffen habe, hat er immer ein offenes Ohr für mich gehabt. Und dem Loserth hat gefallen, was ich gemacht habe. Es gab ja auch sehr viele Eifersüchteleien zwischen den Sängern. Aber der Loserth war nie auf jemanden eifersüchtig. Bei dem gab es das nicht. Der hatte das nicht nötig. Ein fescher Mann mit einer tollen Stimme. Keinen falschen Ton hat der gesungen. Ein hochmusikalischer Mensch, der abends beim Schmid Hansl gesungen hat. Wenn ich zu ihm kam, weil ich ein Lied brauchte, hat er‘s mir sofort aufgeschrieben. Mit gestochener Schrift. Am nächsten Tag hat er es schon mit mir gemeinsam gesungen. Der konnte ein paar Tausend Lieder auswendig. Leider bekam er dann Krebs. Als ich noch ein Bub war, war Loserth schon „Straßenprinz“. Du musst wissen: Wenn einer gut war, hat man „Prinz“ zu ihm gesagt. Ich kannte nur zwei Prinzen, einen in Hernals und den Loserth.

Konnte man damals davon leben?

Kurt Girk: Na du bist leiwand. Die haben davon leben müssen. Die hatten ja alle keine Hackn. Hunderte Musiker waren damals arbeitslos. Es war eine schwere Zeit. Bei der 10er-Marie spielten drei Partien und haben sich die Groschen, die sie dafür bekamen, geteilt. Dafür war das Leben halt nicht so teuer wie heute. Beim Wirt‘n am Eck, wo ich aufgewachsen bin, hat man für einen Schilling ein Menü und ein Vierterl Wein bekommen. Das weiß ich noch. Das kann sich heute kaum noch wer vorstellen. Der Zins für eine Zwei-Zimmer-Wohnung betrug vier Schilling. Aber selbst die vier Schilling hatten wir nicht.

Und wieso ging es sich trotzdem aus?

Kurt Girk: Nächstenliebe. Die Leute waren nicht so gierig wie heute, weil sie nichts hatten. Es gab nichts. Nur Nächstenliebe. Im Viertel gab es viele Buben, die zu meiner Mutter essen kamen. Wir hatten nichts, aber meine Mutter hat sie alle eingeladen. Die Mutter hat oft beim Fenster runtergeschaut und gerufen: „Kommt rauf!“ Dann gab es Erbsensuppe oder Grenadiermarsch. Erdäpfelsuppe. Wir haben‘s überlebt. Aber es war nicht einfach.

„Ich bin damit aufgewachsen. Mit dem Wienerlied und im Wienerlied.“


Wie sind Sie zum Wienerlied gekommen?

Kurt Girk: Ich bin damit aufgewachsen. Mit dem Wienerlied und im Wienerlied. Mein Nachbar war Sänger, Tag und Nacht unterwegs, hat die Familie erhalten können. Er hat nicht nur schön gesungen, sondern auch gut Mundharmonika gespielt. Wenn man auf der Straße ging, ist oft plötzlich einer mit Gitarre oder Geige aufgetaucht und hat zu spielen begonnen. Das war damals nicht erlaubt. Musik zu machen war verboten. Das war eine Bagage, die damalige Regierung unter Dollfuß. Die haben alle angezeigt, die auf der Straße sangen. Und es gab eine eigene Strafanstalt für jene, die sich nicht daran hielten. Geld konnte man ihnen ja keines nehmen, weil sie keines hatten. Also hat man sie eingesperrt. Im 9. Bezirk war das, ich weiß es noch genau, beim Sicherheitsbüro ums Eck. Viele Leute haben geglaubt, Hitler befreie sie von all dem. Die meisten hätten, wenn sie gewusst hätten, was sie erwartet, wohl anders gehandelt. Meinen Vater aber konnten sie nicht blenden. Der war im Ersten Weltkrieg. Der hat das ganze Elend gekannt. Wir waren alle keine Nazis. Die Hitlerjugend ist herumgegangen und wollte uns Buben einsacken. Aber wir haben auf die HJ geschissen, sind ihnen davongelaufen. Das waren ja alles bloß Wichtigtuer. Kinder und Jugendliche, die sonst nichts hatten und glaubten, mit den Abzeichen und der Uniform jemand zu werden. Wir haben die abgebeutelt. Von den hundert Burschen, die ich gekannt habe, war kein einziger bei der Hitlerjugend.

Im Buch wird erzählt, wie Ihr Hausherr, ein Jude, zu Tode kam.

Kurt Girk: Ja, wie sie ihn geholt haben, hab ich mitbekommen. Ein guter Arzt und ein guter Mensch. Seine Frau hat sich umgebracht. Das hab ich auch mitbekommen. Um diese Leute hat es mir sehr leidgetan. Tut es mir heute noch.

Sie waren auch einmal im Gefängnis. Unschuldig, wie Sie sagen. Wie ist das passiert?

Kurt Girk: Na, einer hat gesagt, ich hätte aufgepasst. Der war zwar mit mir unterwegs, aber ich hatte mit der Geschichte nichts zu tun. Seine eigene Frau hat ihn verraten, weil sie ihn loswerden wollte. Ich hatte Zeugen dafür, dass das nicht so war, dass ich nicht dabei war. Aber die wurden nicht gehört. Ein Femegericht war das. Was ich die genannt habe, kannst du dir vorstellen, weil ich bin kein Weh. „Ihr könnt‘s machen, was ihr wollt, ich geh bis zum Europäischen Gerichtshof in Straßburg“, hab ich gesagt, „weil bei euch bekommt man sowieso kein Recht. Ihr habt euch das schon vorher ausgemacht.“ Die Anwälte waren machtlos. Vielleicht wurden die auch bedroht, ich weiß es nicht.

Und im Häfen wurde tatsächlich ausgesteckt?

Kurt Girk: In Karlau, ja. Zuerst haben sie die Nase gerümpft, weil sie keine Wiener wollten, aber nach drei Jahren waren wir alle Brüder. Ich hatte auch ein eigenes Gewand, hab kein Häfn-Gewand angehabt. Ein Freund von mir war Schneider, der hat mir „a schene Schoin“ g‘mocht. Im Häfn war ich Hausarbeiter, hab Essen ausgeteilt. Und da gab es natürlich immer wieder welche, die besondere Hilfe brauchten. Denen hat man dann die Töpfe angefüllt. Weißt eh, wie es ist: Hunger hat man immer.

Max Nagl sagt im Buch, die Zuhälter seien zerronnen, wenn sie jemanden wie Sie ein Wienerlied singen hörten. Deshalb habe es auch immer eine gewisse Nähe zum Milieu gegeben. Stimmt das? Waren Wienerlied und Rotlicht immer eng miteinander verbunden?

Kurt Girk: Ja, das ist schon wahr. Aber jetzt hör endlich auf, Sie zu sagen. Ich bin der Kurti.

Du hast Angebote aus den USA bekommen und aus Japan. Wieso hast du die nie angenommen?

Kurt Girk: Ja, im Waldorf Astoria hätt ich singen sollen. Die Schrammeln haben dort gespielt. Und die wollten mich als Sänger. Aber wozu hätte ich das tun sollen? Ich hab mehr als genug Geld verdient. Wozu brauch ich Amerika? Vielleicht war das ja auch ein Fehler … Wenn sie mir Moskau angeboten hätten, wäre ich gefahren.

Warum das?

Kurt Girk: Das hätte mich interessiert. Aber all das andere. Wenn ich mit meinen Musikern fahren hätte können, hätt ich‘s gemacht. Aber ich hätte alles, was man mir vorgesetzt hätte, akzeptieren müssen. Das wollte ich nicht.

Verstehen die Deutschen das Wienerlied?

Kurt Girk: Na, was heißt. In Bayern hab ich die größte Fangemeinde überhaupt. Die haben auch viele Bücher gekauft. Da gibt es viele, die nur wegen des Wienerlieds nach Wien kommen.

Du wirkst völlig entspannt. Alles leiwand. Gibt es eigentlich auch irgendetwas, was dich Sie aus der Ruhe bringen kann, was dich ärgert?

Kurt Girk: [Überlegt lange] Jo, waunn i auf da Ottakringer geh und mei Heirigar hod zuagsperrt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Markus Deisenberger

Foto Kurt Girk: Wiener Volksliedwerk