„DIE GEMEINSAME ABLEHNUNG EINES SYSTEMS, VON DEM NIEMAND PROFITIERT“ – JAMAL HACHEM (AFFINE RECORDS) IM MICA-INTERVIEW

Keine Kerzen, kein Kuchen, Hüpfburg auch eher nicht – JAMAL HACHEM, Gründer von AFFINE RECORDS, spart zum 15. Geburtstag seines Labels mit Spompanadeln. „Es gibt ja nix zu feiern”, sagt der bestrasierte Independent-Labelmann Wiens und meint: „Es gibt einen Anlass und einen Grund, wieso ich mit dir sprechen möchte.” 

Der Anlass sind 15 Jahre AFFINE RECORDS. Jenes Label, das von Dorian Concept über Cid Rim bis hin zu Wandl, Zanshin und Kenji Araki immer die Musik veröffentlicht, bei der in ihrer Entwicklung hängengebliebene Musikredakteure verstohlen auf ihre Pink-Floyd-Platten schielen. Der Grund ist: „Wir müssen über Musikstreaming reden.”

HACHEM mag zum Jubiläum mit Kuchen und Kerzen sparen, aber weniger mit einer Ansage: „Ich will zum breiten Ausstieg aus dem Streaming-Monopol aufrufen.” Warum? „Weil wir zu schon zu lange eine Maschine füttern, die uns alle auffrisst!” Wichtiger Nachsatz: „Eine Veränderung ist möglich, wenn wir sie nur wollen!” 

An der Stelle könnte HACHEM tief Luft holen, pusten, sich was wünschen. Tut er aber nicht. Weil es gegenwärtig nichts zu pusten gibt. Und weil ein Wunsch schon in Erfüllung gegangen ist. 

HACHEM spricht über die Streaming-Ökonomie – was sie mit schlechten Karten beim Pokern zu tun hat. Er spricht über die selbstverschuldete Abschaffung von Radiosendern wie FM4. Und über einen neuen Kollektivismus, der ein gescheitertes System ablehnt und ein neues ermöglichen soll. 

Lass uns über ein Thema sprechen: die Streaming-Ökonomie.

Jamal Hachem: Ja, ich will das 15-jährige Jubiläum dafür nutzen, um zu beschreiben, in welche Bereiche diese monopolistische Streaming-Vorherrschaft ausstrahlt. Und was wir tun können, um sie zu brechen. Es geht mir also nicht nur um eine Bestandsaufnahme oder einen akademischen Diskurszirkel, sondern vor allem um Lösungsansätze, die uns als Independent-Labels und somit den vertretenen Artists kollektiv einen Ausstieg aus der Streaming-Despotie ermöglichen soll, um in weiterer Folge ein neues und besseres System zu entwickeln.

Dir geht es um einen Ausstieg aus dem Streaming-System, nicht um einen Umstieg von bestehenden Streaming-Strukturen. Wieso?

Jamal Hachem: Inzwischen leben und arbeiten wir seit über zehn Jahren mit den Musik-Streaming-Platzhirschen. Wir sind damals in ein dysfunktionales System hineingestolpert und haben Verhältnisse und Aussichten kaum kritisch hinterfragt. Mit dem alten Trick des „ewigen Wachstums” sind Artists und Labels gelockt worden. Wir haben nun eine Zeitspanne, die Erfahrungswerte generiert hat und mich Bilanz ziehen lässt. Ich will deshalb drei Säulen definieren und hervorheben und damit erklären, warum die gegenwärtige Streaming-Ökonomie für die absolute Mehrheit, ich schätze über 90 Prozent der Musikwirtschaft, nicht funktioniert. Es geht natürlich um eine ökonomische Säule, es gibt die künstlerisch-kreative Komponente und damit verbunden einen Mental-Health-Aspekt.

Bild Jamal Hachem
Jamal Hachem / Affine Records (c) Clemens Radauer

Beginnen wir mit der ökonomischen Säule.

Jamal Hachem: Dafür muss man das Pro-Rata-Model verstehen, das gegenwärtig existiert und immer existiert hat. Es ist das schlechteste aller Streaming-Vergütungsmodelle, weil es im Zusammenspiel mit einem ritualisierten Playlist-Fetisch zu einer massiven Entwertung geführt hat. Will man es plump formulieren, kann man sagen: Wir arbeiten für Drake und Taylor Swift und nehmen ganz offensichtlich hin, die nützlichen Idioten zu sein.

Warum machen viele trotzdem mit?

Jamal Hachem: Ein Player beherrscht den Markt. Diese Dominanz macht es schwierig bis unmöglich, auf andere Bereiche auszuweichen – außer man bricht sie mit einem neuen Kollektivismus. Ich sage bewusst neuer Kollektivismus, weil es eine neue Herangehensweise und Konsequenz braucht, das durchzuziehen. Lass mich ein Beispiel aus der Vergangenheit anführen, bei der ein Kollektivismus leider nichts gebracht hat: S.T. Holdings, ein britischer Vertrieb, der bedeutende Labels aus den Bereichen Breakbeat, Jungle und Dubstep vertrieben hat. 2012 hat S.T. Holdings öffentlichkeitswirksam angekündigt, den gesamten Katalog von Spotify abzuziehen – ein Zeitpunkt, zu der die Marktmacht von Spotify noch nicht so manifestiert war wie heute. Über 200 Labels waren danach nicht mehr mit ihren Katalogen auf Spotify vertreten. Man hat aber schnell gemerkt, dass dieser kollektive Ausstieg keinen Impact hatte, um den Aufstieg des heutigen Streaming-Monopolisten zu gefährden.

Die Streamingdienste sagen: Die Musikbranche muss sich einig sein. Ziemlich schwierig, wenn von Universal-Music-Chef bis zum Indie-Dachverband fast alle Positionen unterschiedliche Ansätze verfolgen.

Jamal Hachem: Während sich einige streiten und ihre Zeit de facto auf Nebenschauplätzen verschwenden, verschlechtern sich weiterhin die Bedingungen. Deshalb sagen die Streamingdienste das ja mit einem gewissen Kalkül. Ich möchte als Beispiel den Discovery Mode anführen – ein Modus des Monopolisten, mit dem Payola quasi legalisiert wird, denn: Das Ziel des Monopolisten ist es, langfristig bis zu 30 Prozent aller Payouts an Artists und Labels einzusparen. Dafür arbeitet Spotify mit einem Versprechen: Als Artist oder Label wird man vom System algorithmisch bevorzugt, wenn man auf Teile der Streaming-Erlöse verzichtet. Das ist wie die berühmte Karotte, die man vor die Schnauze des Esels hält. Die sogenannte Bevorzugung ist aber ein falsches Versprechen. Der Vorteil von nichts, bleibt nichts.

„DU BEKOMMST EBEN IMMER EIN OARSCH-BLATT.”

Dennoch erhoffen sich manche, einen Vorteil gegenüber anderen zu haben.

Jamal Hachem: Deshalb machen viele mit und es werden mit dieser falschen Hoffnung noch mehr mitmachen, wenn niemand ein Stoppschild aufstellt. Viele glauben ja tatsächlich, dadurch weniger zu verlieren oder etwas mehr gewinnen zu können. In Wahrheit hat aber eine deutliche Mehrheit dieses perfide Spiel von Anfang an verloren und kann defacto auch nicht gewonnen werden.

Wer einsteigt, hat also die falschen Karten in der Hand.

Jamal Hachem: Um im Poker-Jargon zu sprechen: Du hast permanent 2-7 Offsuit in der Hand.

Ein Oarsch-Blatt.

Jamal Hachem: Ja, aber: Du bekommst eben immer ein Oarsch-Blatt. Es ändert sich nie, man deutet Veränderungen maximal in homöopathischen Dosen an. Mit dieser diffusen Hoffnung lässt sich schließlich sehr gut arbeiten. Ein weiteres Ziel von Spotify ist nicht umsonst die Entkoppelung von Artists und Labels. Künstler:innen sollen direkt mit Spotify dealen, um die Abhängigkeiten zu verstärken, lästige Administrationsthemen zu umgehen und in letzter Konsequenz die Payouts noch weiter zu senken. Dabei haben wir noch nicht mal über den AI-Aspekt gesprochen, der das Potenzial für die nächste Eskalationsstufe in sich trägt. Wir, als kollektiver Körper, dürfen jedenfalls nicht weiterhin naiv sein und glauben, dass dieses Ökosystem für uns gemacht wurde – ist es nämlich nachweislich nicht. Letztlich wurden die Grundwerte von Indie-Culture für deren Wachstumsmantra missbraucht. Konzerne stehen primär in Investorenpflicht, denen ist es schlicht egal, ob die Hamburger Indie-Band angemessene Payouts erzielt. Viel eher wird durch das System der Editorial-Playlists eine künstliche Verknappung geschaffen die dieses absurde Pferderennen manifestiert. 

Wie meinst du das?

Jamal Hachem: Stellen wir uns folgendes Bild vor: Es gibt 50 Gefäße. Über diese 50 Gefäße kippt man tonnenweise Sand. Die 50 Gefäße sind dadurch zwar gefüllt, aber: 90 Prozent des Sands liegen um die Gefäße verstreut. Dazu kommt, dass die meisten dieser 50 Gefäße bereits gut gefüllt gewesen waren, bevor man den Sand ausgeschüttet hat – mit eigenem Major-Repertoire, Ghost-Artists und zunehmend mehr Produktionen von AI. Die Gefäße sind nichts anderes als die begehrten Playlist-Placements. Sie sind zu einer relevanten Währung geworden, obwohl sie Passivität animieren. Und solltest du mal auf so einer großen Playlist landen, verkaufst du dadurch mittelfristig nicht automatisch mehr Tickets. Die Übersetzung der Plays in andere Bereiche hinein kann viele unterschiedliche Geschichten erzählen.

Was du skizzierst …

Jamal Hachem: Zeigt, dass das System für die große Mehrheit nicht funktionieren kann! Einzelne Erfolgsgeschichten bestätigen nur die Ausnahme, man kann sie ignorieren, weil das System sie braucht und produziert, um zu funktionieren beziehungsweise um zu überleben und um dieses Narrativ, dass es jede:r schaffen kann, weiter zu spinnen.

„WIR MÜSSEN EINSEHEN, DASS DIESES SYSTEM NIE FÜR UNS WAR UND SEIN WIRD.”

Für wen funktioniert dieses Narrativ?

Für die großen Major Acts, vereinzelt für Protagonist:innen, die sozial-ökonomisch ein Template abarbeiten und künstlerisch-kreativ den Vorgaben folgen und offenbar auch Produzenten von Piano-Kitsch-Generika. Spotify ist nicht daran interessiert, ein System zu etablieren, das für die Mehrheit funktioniert. Gerade recht aktuell: Man erhöht die Preise der Abos, was den Umsatz um eine kolportierte Milliarde Dollar erhöht. Gleichzeitig heißt es, dass hunderte Mitarbeiter:innen abgebaut werden. Zwischen all dem vergisst man, dass es Spotify nicht mal primär um Musik, sondern stark um das lukrative Podcast-Business geht. Deshalb müssen wir Indie-Player einsehen, dass dieses System nie für uns war und nie sein wird. Wir müssen aufhören, einer Versprechung nachzulaufen, die nie eingelöst werden wird. Wir müssen endlich mit der naiven Vorstellung brechen, dass man einen Monopolisten von außen verändern kann. Es ist schlichtweg Zeitverschwendung. Der erneute Verkauf von Bandcamp (also das Indie-Monopol auf der anderen Seite) vor wenigen Tagen sollte nochmal Warnung genug sein und bestätigt auch hier, dass wir uns beim Investoren-getriebenen Plattformkapitalismus defacto auf nichts verlassen können. Dasselbe gilt übrigens selbstverständlich auch für TikTok, das sich als neuer Spotify-Gegner positioniert. Als aktuell größtes Social Network der Welt rollt TikTok gerade einen Streamingdienst in ausgewählten Märkten aus – mit dem Unterschied, dass dort das Versprechen der Sichtbarkeit noch viel größer sein wird. Also eine gigantische Karotte, mit der bald flächendeckend gewedelt wird – eine Art Umerziehungsprogramm vom Artist zum Content Creator.

Damit konkurriert man nicht mehr gegen andere Artists, sondern …

Jamal Hachem: Sowieso schon längst gegen alle und alles in einer Spirale aus Content-Häppchen. Doch wenn Streamingdienst und Social-Media-Plattform immer weiter verschmelzen und 15 Sekunden zum Standard erhoben werden, wird vielen der Dopamin-Kick vom Preview-Buffet reichen. Wie soll sich so Fandom entwickeln? Ich mache keiner Nutzerin und keinem Nutzer den Vorwurf, diese oftmals gut gemachten und verführerischen Plattformen zu nutzen, speziell der jungen Generation, die mit Selbstverständnis damit aufwächst. Das wäre zu einfach und hat ein snobistisches Element, das ich ablehne. Es geht aber darum, attraktive Alternativen zu schaffen, denn diese beschriebenen Mechanismen sind kein Naturgesetz.

Die du noch erklären wirst. Davor wolltest du noch zwei weitere Säulen des Gegenwartsproblems skizzieren: die künstlerisch-kreative und jene der Mental Health.

Jamal Hachem: Genau, denn: Was passiert, wenn man aus systemischen Gründen kaum Perspektive entwickeln kann? Man wird Nebenschauplätze eröffnen und aus ökonomischen Zwängen müssen – wenn man nicht zu einer privilegierten Klasse gehört – Zweit- und Drittprojekte betrieben werden. „Mach doch dein eigenes Merch”, heißt es dann oft oder: „Mach einen Patreon-Channel auf.” Dass das wieder ökonomische, geistige und zeitliche Ressourcen verschlingt und in den meisten Fällen aus diversen Gründen ohnehin keinen Sinn macht, wird nicht dazugesagt. 

Du meinst: Man muss sich die Kunst verdienen, weil man sie sich sonst nicht mehr leisten kann?

Jamal Hachem: Ja, gleichzeitig muss man immer lauter sein, um wahrgenommen zu werden. Das fördert desperates Marketing. Die Angst, vergessen oder kaum wahrgenommen zu werden, schwingt bei vielen Akteuren leider oftmals und konstant mit und kann lähmend wirken. Die Kombination dieser Hamsterräder erzeugt zu oft durchschnittliche Kunst, weil man den Großteil seiner Zeit nicht an Kunst oder zu oft nur in unvorteilhaften Zuständen an Kunst arbeiten kann. Die technischen Maßstäbe und systemisch produzierte, kurze Aufmerksamkeitsspannen greifen insgesamt viel zu weit in kreative Prozesse ein – egal ob man elektronische Clubmusik, Indie-Rock oder Pop in Zwischenräumen produziert. Das nimmt der Kunst seine Integrität. Wenn Songs erst nach 31 Sekunden als vollwertiger Play gezählt werden, muss man sich nicht wundern, wenn sich Songs an diesen Vorgaben ausrichten. Wenn man in einem toxisch-turbokapitalistischen Umfeld immer nur aus einer defensiven Position agiert, ist es kein Wunder, wenn die Burnout-Quote im Musikbereich steigt und sich gefühlt jede dritte Promo-Kampagne mit Mental-Health-Issues beschäftigt.

Hier kommen einige Dinge zusammen, aber wie?

Jamal Hachem: All diese Symptome haben Folgewirkungen, denn: Die Dynamiken der Streaming-Ökonomie strahlen auf andere wesentliche Bereiche aus. Nehmen wir als Beispiel öffentlich-rechtliche Radiosender quer durch Europa. Dort etablieren zu oft inkompetente Entscheidungsträger:innen ohne Not eine Konkurrenzsituation mit Streamingdiensten und treffen somit die falschen Ableitungen. Man glaubt, junge Leute für sich begeistern zu können, indem man Eigenschaften des Streaming-Monopolisten übernimmt. Letztendlich wird man dadurch nur zur Kopie von der Kopie von der Kopie und wundert sich, wieso sich immer mehr junge Leute abwenden oder es gar nie zu einem Annäherungsprozess kommt. Währenddessen hat man aber Strukturen geschaffen, die sich am freien Markt orientieren und nicht am öffentlich-rechtlichen Auftrag. Dass die klar vorteilhafte, öffentlich-rechtliche Struktur als Entwicklungslabor und ein potentielles Alleinstellungsmerkmal letztendlich freiwillig aufgegeben wird, ist ein Skandal. Leider ist FM4 in unseren Breitengraden auch Teil dieses Strudels.

Das öffentlich-rechtliche Radio schafft sich also ab.

Jamal Hachem: Ja, indem Redaktionen nicht rechtzeitig wehrhaft werden und rote Linien definieren, schafft man sich letztendlich ab. Vor allem, wenn die Schnittmengen mit dem Mutterschiff – im Fall von FM4 ist das bekanntlich Ö3 – sowohl in der Musikprogrammierung als auch in der Ausrichtung immer größer werden, gibt man den existierenden Einsparungskräften, angetrieben vom hysterischen Boulevard, ein starkes Argument für eine Zusammenlegung in die Hand. Dazu kommt eine weitere Folgewirkung aufgrund von irrtümlichen Schlussfolgerungen: die institutionelle Förderung von Spotify. Wenn Label X in Wien eine Playlist unter dem Vorwand der Förderung österreichischer Musik betreibt, aber diese im Kern den eigenen Katalog pushen soll, dann ist das Augenauswischerei. Das Schlimmste daran ist: Man leitet öffentliche Gelder in das falsche System.

Das ist die Gegenwartsanalyse. Du hast zu Beginn schon anklingen lassen, dass es zukünftig einen neuen Kollektivismus braucht, wenn man das System ändern will. Wie soll das gehen?

Jamal Hachem: Zuerst gilt: Raus aus der Opferrolle, weg vom Beifahrersitz und hinein in eine selbstbewusste Position, um in einem mehrstufigen Prozess die Kontrolle zu erlangen. Der Kipppunkt ist erreicht. Auch wenn thematisch etwas anders geprägt, ist eventuell auch der sogenannte Hollywood-Streik gut geeignet, um noch mehr öffentlichkeitswirksames Bewusstsein zu generieren. Es geht jedenfalls darum, neue Tatsachen zu schaffen. Denn die gegenwärtige Streaming-Ökonomie ist kein Naturgesetz.

„ES SOLL KEIN NEUES MONOPOL ENTSTEHEN, DAS WIEDER NEUE ABHÄNGIGKEITEN SCHAFFT.”

Wir kommen zum neuen Kollektivismus, den du zu Beginn angesprochen hast. 

Jamal Hachem: Ja, der erste Schritt ist, in die verfügbaren nationalen Gremien zu kommen. In Österreich ist das der Verband der Indies und FAMA. Dort macht man im zweiten Schritt zusammen die Zustandsbeschreibung und eruiert eben den Status Quo. Das sollte relativ schnell möglich sein. Wenn der Wille vorhanden ist, etwas zu verändern, lassen sich im dritten Schritt nachhaltige Positionen erarbeiten, weil man dann nicht als fragmentierte Branche auftritt, sondern als eine gemeinsame Stimme spricht.

Also Basisarbeit von unten?

Jamal Hachem: Und eine mehrheitsfähige Position auszuarbeiten, auf die man sich nachhaltig stützen kann und die Herrschaftsverhältnisse infrage stellt – darum geht es primär. Dieser Prozess soll in weiterer Folge beispielgebend für andere Länder und deren Bündnisse wie Fachvertretungen sein. Damit echte Dynamik in die Sache kommt, müssen dann vor allem größere Länder wie Deutschland, Frankreich oder UK mitziehen, denn: Im entscheidenden Schritt geht es darum, Durchschlagskraft zu entwickeln, um Druck auf Merlin als Vertreter der Independent-Labels aufzubauen. 

Weil?

Jamal Hachem: Es nicht ausreichen wird, wenn sich Österreich, Luxemburg, Slowenien und Malta verbünden. Es braucht die größtmögliche Klammer und den größtmöglichen Partner – und das ist nun mal Merlin –, der die Formulierungen und Positionen für den Ausstieg aus dieser Streaming-Ökonomie übermittelt. Gleichzeitig muss man für diesen Prozess eine Öffentlichkeit generieren beziehungsweise ihn öffentlich und transparent begleiten. Plattform- und Webentwickler müssen realisieren, dass sich das Potential des Independent-Repertoires – immerhin 30 Prozent des gesamten Marktes – neu verteilt.

Damit eine neue Plattform entsteht?

Jamal Hachem: Ja, aber eine mit neuen Spielregeln und in der Indie-Player die Kontrolle behalten. Es soll also kein neues Monopol entstehen, das wieder neue Abhängigkeiten schafft und erpressbar macht. Es geht darum, Standards zu entwickeln und fix zu etablieren – eine gemeinsame Grundlage, auf die sich neue Plattformen berufen.

Das hört sich an wie …

Jamal Hachem: Bandcamp für Streaming – aber nicht durch einen Player, sondern idealerweise durch mehrere, die koexistieren können.

Ich wollte sagen: eine Genossenschaft aus Independent-Labels.

Jamal Hachem: Nennen wir es meinetwegen auch so. Jedenfalls aber Independent-Labels, die auf neuen Plattformen oder bei bereits existierenden Outlets, die genau diese neuen Standards unterstützen – Soundcloud ist mit einem neuen User-Centric-Modell in letzter Zeit positiv aufgefallen – und ihre eigenen Regeln bestimmen. Regeln, die uns nicht die Majors aufoktroyieren: Wir drehen den Prozess um.

Dieses Wir setzt eine geschlossene Solidarität voraus: „Wir als Independent-Szene”. 

Jamal Hachem: Genau, es geht um eine gemeinsame Ablehnung eines Systems, von dem kaum jemand profitiert. Ich bin überzeugt, dass diese Position formuliert werden kann – unter Einbeziehung von Fakten und jeder Menge Erfahrungswerten.

Was als alternativlos gilt, muss als Alternative erfahrbar werden.

Jamal Hachem: Ja, es geht um neue Standards, die den Ist-Zustand brechen. Das ist möglich, indem wir aufbegehren. Damit meine ich nicht, dass wir in Streik treten gegenüber einem Konzern wie Spotify. Es geht darum, dass wir ihn und ähnlich handelnde Akteure nicht mehr als legitime Spielteilnehmer erachten. Ich habe keine Lust mehr, eine Maschine zu füttern, die uns noch weiter an den Rand drängt und uns letztendlich auffressen wird.

Christoph Benkeser

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