Dicke Hose, weiter Rock – Ein Überblick über die österreichische Popszene der Gegenwart

Das Wieder-wer-sein überstrahlt derzeit alles in Österreich. Blitzgescheite, auch noch gutaussehende Buben, echte Rockstars, stehen wieder einmal breitbeinig vorne und sagen Sätze wie „Wir gehen durch die Mitte“ (Maurice Ernst von Bilderbuch in einem Special der Bayrischen Jugendradiosendung Zündfunk über die „neue Pophauptstadt Wien“) oder „Wir trauen uns“ (Marco Michael Wanda ebenda). Man sieht sich vom deutschen Feuilleton bestätigt, wittert Weltbeherrschung und liest in Netz und Print sogar schon wieder Backlash-Artikel gegen diese gerade erst gekürten jungen Könige (Bilderbuch und WANDA) – immer schon das sicherste Zeichen dafür, wenn man es in diesem Land so richtig geschafft hat.

Kaum wurde das Wort „Austropop“ ein paar Mal ironiefrei verwendet, stellt der Fachhandel die Platten der neuen Bands im Fachhandel bereits auf einen gemeinsamen „Musik aus Österreich“-Ständer mit denen von Rainhard Fendrich, und in der derzeitigen Stimmung finden sogar das noch alle irgendwie cool. Der Zug der Ereignisse ist eben „Undeniable/Irresistible“, wie die in seinem Windschatten lauernden Catastrophe & Cure Anfang 2015 singen.

Bild Clara Luzia
Clara Luzia © Sarah Haas

Wir räumen ein: Auffälligerweise sind es gerade wieder einmal nur die Buben, die da vorne stehen (obwohl dies in den letzten Jahren, im Interregnum von Soap&Skin, Clara Luzia oder Gustav schon einmal ganz anders ausgesehen hatte). Und ja doch, diese Helden von Heute werfen einem ihre Falco-Zitate zeilenweise in stimmenimitatorischer Penetranz um die Ohren, aber egal, wollen wir unsere Euphorie über Wandas Wiener Schlawinertum und Bilderbuchs sexy digitale Neudeutung des Gitarrenband-Formats einmal nicht bremsen lassen von der typischen Skepsis gegenüber dem kleinen bisschen verdiente Aufmerksamkeit, das man in Österreich dann immer gleich „Hype“ nennt.

Was aber ebenfalls nicht aus den Augen verloren werden sollte, ist die Vielfalt der österreichischen Popszene, die diesem Moment des begeisterten Konsenses überhaupt erst den nötigen Boden bereitet hat. Wenn es bis vor kurzem seit dem Downtempo-Boom der Neunziger kein eindeutig festzumachendes Ösi-Pop-Phänomen mehr gegeben hatte, dann lag das schließlich nicht daran, dass so wenig lost gewesen wäre, sondern – im Gegenteil – so viel Gutes und Grundverschiedenes zur selben Zeit.

Von den frühen bis mittleren Nullerjahren an schossen Indie-Labels wie Monkey, Wohnzimmer Records, Seayou, Siluh, Schönwetter, Inkmusic, Karate Joe, Konkord, Pumpkin, Valeot oder Problembär aus dem Boden. Sie versorgten den öffentlich-rechtlichen Alternativ-Radiosender FM4 mit allen erdenklichen Formen von Independent Pop bzw. jener Sorte zeitgenössischer Updates, die aufgeschlossene Rockbands wie Naked Lunch oder Bulbul über die elektronisch dominierten Endneunziger hinweg am Laufen gehalten hatten.

Bild Velojet
Velojet © Julia Grandegger

Teils wuchsen sich diese Independent-Wurzeln in großformatige Pop-Ambitionen und Musik für größere Bühnen und stylische Videos aus, siehe Gitarren-Bands wie Velojet, Garish, M185, Francis International Airport, GIN GA, Beth Edges, Steaming Satellites, Olympique, We Walk Walls, eine neue Riege ambitionierter Pop-Acts wie Mynth, GODS (ehemals Bensh) oder Fijuka bzw. deren Solo-Spin-Off Ankathie Koi, und letztlich natürlich auch die seit einem guten Jahrzehnt genau in diesem Biotop beheimateten Bilderbuch.
Andere wiederum kultivieren eine konsequente DIY-Ästhetik, allen voran Mile Me Deaf und Sex Jams, vereint durch sich überschneidendes Personal, darunter nicht zuletzt Wolfgang Möstl, der aus dem Provinz-Phänomen Killed By 9V Batteries hervorgegangene Noise-Pop-Posterboy der Szene.

Aus einem ästhetisch verwandten Dunstkreis kommen assoziierte Acts wie Monsterheart, Die Eternias, Luise Pop, Hella Comet und Labels wie Fettkakao, Wilhelm show me the Major Label, Unrecords oder Totally Wired Records. Acts wie Crazy Bitch in a Cave, POP:SCH, Petra und der Wolf, Just Friends and Lovers, Crystal Soda Cream, I/II, Dot Dash, Gran, Bruch, Clemens Band Denk, Tirana, Lime Rush, Goldsoundz oder Ana Threat (die gemeinsam mit Al Birt Dirt das grandiose Garage-Punk-Duo The Happy Kids bildet) haben jeweils schon auf mindestens einem dieser Labels veröffentlicht. Was sie alle vereint, sind ein diskret unterspielter Instinkt für Hipness, das Meiden oder die Umkehrung rockistischer Gender-Stereotypen und eine gesunde Verachtung der – gerade im Musikschulenland Österreich omnipräsenten – homogenen Normen des Professionalismus.

Bild Bo Candy & His Broken Hearts
Bo Candy & His Broken Hearts (c) Julia Grandegger

Von letzterem Prinzip nicht minder beseelt ist die Sixties-Psychedelic/Trash/Garage/Rock’n Roll-Fraktion, siehe Wild Evel & The Trashbones, Sado Maso Guitar Club, Bo Candy and his Broken Hearts aus dem Burgenland, Beat Beat aus Kärnten, die aus der Mod-Szene kommenden Freud und Jaybirds, sowie die frankophilen Mopedrock!! aus Wien.

In Tirol, am anderen Ende des Landes dagegen regen sich von jeglicher Hipsterei unberührte, härtere Lesarten des Rock, siehe White Miles oder Mother`s Cake, und eine Indie-Rock-Band wie die Nihils aus Waidring im Bezirk Kitzbühel, fern von allen Szenen, wählt eben eine TV-Talenteshow als Schaufenster ihres Schaffens.

Im – zumindest stilistischen – Gegensatz dazu hält auch die akustisch gepolte, Anfang der Nullerjahre eingesetzte Renaissance des Singer-Songwriter-Genres weiter an. Erwähnte Clara Luzia war damals mit ihrem Asinella-Label eine zentrale Figur einer Szene, die nebst ihren eigenen Label-Schützlingen wie Marilies Jagsch und Mika Vember über die Jahre so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Squalloscope, Bernhard Eder, Clara Blume, Martin Klein, Mel Mayr, Eloui, Ernesty International, Violetta Parisini, Susana Sawoff, Norb Payr aber auch einen Major-Act wie Anna F. hervorbringen sollte. Exzentrische Figuren wie Florian Horwath, Das Trojanische Pferd (u.a. assoziiert mit Neuschnee), Bernhard Schnur, Alfred Goubran, Bands wie Son of the Velvet Rat, A Life A Song A Cigarette und DAWA,

Bild Anna F
Anna F (c) Max Parowsky

die beiden Songwriter_innen-Kollektive Loose Lips Sink Ships und Nowhere Train, sowie Dust Covered Carpet, Sweet Sweet Moon und Contrails kommen aus einem stilverwandt semi-akustischen Sound-Bereich, bewegen sich teils aber immer weiter über ihn hinaus.

Eine ganz andere, seit den mittleren Nullerjahren einflussreiche Manifestation der Songschreiberei könnte man als Autorinnenpop bezeichnen:  Oft elektronisch arrangierte Synthesen aus Pop und Kunstlied, wie sie etwa Meta-Protestsängerin Eva Jantschitsch alias Gustav hervorgebracht hat. Falls Soap&Skin überhaupt in eines der hier zusammengefassten Genres hier gehört, dann wohl noch am ehesten in dieses. Detto die über slowenische Volkslieder zu einer eigenen Fusionssprache findende, gleichzeitig auch in den Welten von Improv und Noise Rock beheimatete Maja Osojnik, das Duo BIS EINE HEULT mit ihrer in Songform gegossenen Lyrik, eine Mimu Herz oder Meaghan Burke mit ihren die Grenzen zur Performance Art überschreitenden Auftritten. Von dort ist es dann auch nicht mehr weit zum groß arrangierten Pop-Kino eines Sir Tralala oder Karl Schwamberger alias Laokoongruppe, den jazz-affinen Balladen und Pop-Ausritten eines Willi Landl und der improvisatorischen Hysterie von Koenigleopold. Letztere kommen nicht von ungefähr aus den Kreisen der heutzutage mindestens so nah an der Kunst- wie der Popszene stehenden Jazzwerkstatt. Aus jener rekrutiert sich auch die Backing Band von Mira Lu Kovacs alias Schmieds Puls, der herausragenden neuen Songwriterin der jüngsten Zeit.

Foto Ernst Molden
Ernst Molden (c) Andy Urban

Eine ungeheuer produktive Integrationsfigur ist auch der lange medial geächtete, jetzt allseits geliebte Ernst Molden. Erst sang er in Wien-spezifisch koloriertem Hochdeutsch, dann befreite er an der Wende zu den Zehnerjahren die Form des Dialekt-Songs vom bis dahin noch strikt verleugneten Austropop-Mief der 1970er und 1980er. Dabei fand er eine gemeinsame Wellenlänge mit seinem jüngeren Eigenbrötler-Kollegen Der Nino aus Wien, der seinerseits das Solo-Talent Raphael Sas in seiner Band beherbergte.

Hier schließt sich wiederum der Kreis zu Wanda, schließlich baut deren scheinbar aus dem Nichts auf der Bildfläche erschienene Tschick-und-weiche-Knie-Ästhetik doch eindeutig auf der Vorarbeit ihres Labelkollegen Nino auf. Interessant übrigens, dass Molden und Nino sich als Erst-Enttabuisierer 2015 mit ihrem jüngsten Cover-Versionen-Projekt „Unser Österreich“ in sprödester Nüchternheit an den bösen, abseitigen Varianten des Austropop-Phänomens abarbeiten, während rundum dessen einst so toxischem Erbe längst mit revisionistischer Bedenkenlosigkeit gefrönt wird.
Die symbolisch unüberbietbare Verschränkung der Pop-Generationen ist aber wohl – übrigens ebenfalls unter Beteiligung des Nino aus Wien – das Duo Worried Man & Worried Boy, die Zusammenarbeit von Herbert und Sebastian Janata, ersterer vor 45 Jahren Austropop-Pionier mit der Worried Men Skiffle Group, zweiterer Schlagzeuger bei der ursprünglich aus dem östlichsten Bundesland Burgenland stammenden, in ihrer Wahlheimat Berlin zum Inbegriff eines denkenden Pop-Begriffs herangereiften Band Ja, Panik.

Bild Kreisky
Kreisky © Ingo Petramer

Deren zerebraler, gänzlich ohne männliches Balzgehabe auskommender Zugang fühlt sich im Kontext des jetzigen, überschwänglichen Wiener Zeitgeists schon fast ein wenig fremd an. Ähnliches gilt für Kreisky und deren missgelaunte Strenge, die in diametralem Gegensatz zur „Dicke Hose“-Sexiness von Bilderbuch oder der „Lässigkeit“ von Wanda steht und deren einzige Verbindung zum Austropop im Alter Ego ihres Sänger Franz Adrian Wenzl, dem als personifizierte Verarschung des Genres konzipierten, tragisch größenwahnsinnigen Austrofred, besteht.

Die Realität hat die Satire also wieder einmal eingeholt. Aber so präsent jene Reizvokabel Austropop auch wieder sein mag, der wesentliche Unterschied zur dessen klassischer erster Inkarnation ist, dass er damals die Popkultur monopolisierte. Das ist angesichts der Fülle dessen, was heute in diesem Land passieren, dankenswerterweise schlicht undenkbar.

Robert Rotifer