Seit Jahren hegt BRIGITTE WALK den Wunsch, ein Werk von GEORG FRIEDRICH HAAS aufzuführen. Mit dem Komponisten ist die Künstlerin freundschaftlich verbunden und seine Musik berührt sie emotional. Die mikrotonale Musiksprache des G.F. HAAS begeistert auch den Leiter des ENSEMBLE PLUS und Bratschisten GUY SPEYERS. Gemeinsam realisieren das WALK-TANZTHEATER und das ENSEMBLE PLUS nun ein großes Vorhaben. Sie bringen das 2018 entstandene Werk „Solstices“ auf die Bühne und ermöglichen somit ein Wiederhören eines Werkes des weltweit renommierten Komponisten G.F. HAAS auch in Vorarlberg.
G.F. Haas ist im Montafon aufgewachsen. Seine internationale Karriere startete er von den Bregenzer Festspielen aus. Der damalige künstlerische Leiter Alfred Wopmann erkannte die große Aussagekraft der Kompositionen von G.F. Haas und präsentierte die Oper „Nacht“ sowie „Die schöne Wunde“ im Rahmen der Bregenzer Festspiele. Bis auf zwei Aufführungen bei Dornbirn Klassik sowie drei Streichquartettaufführungen standen hierzulande in den vergangenen zehn Jahren nur sehr spärlich Werke von G.F. Haas auf Konzertprogrammen. Und dies, obwohl er zu den anerkanntesten Komponisten unserer Zeit zählt. In einer Umfrage der italienischen Musikzeitschrift Classic Voice wurden 2017 hundert namhafte Expert:innen gebeten, die „schönste Musik, die seit 2000 komponiert wurde“ zu wählen. Mit großem Abstand belegte Haas den ersten Platz.
Von Bregenz aus über Graz und Basel nach New York
Bevor der Komponist im Jahr 2013 an die Columbia University in New York berufen wurde, unterrichtete G.F. Haas in Graz und in Basel. Er fühlt sich in der europäischen Musiktradition verwurzelt. Wesentlich beeinflussten ihn unter anderem der Pionier der mikrotonalen Musik Ivan Wyschnegradsky sowie John Cage, der mit der Aleatorik eine ganz neue Dimension in die Musikrezeption einbrachte.
Die Kindheit und Jugendzeit im Montafon erlebte G.F. Haas unter höchst problematischen Bedingungen. In seiner im vergangenen November erschienen Autobiografie „Durch vergiftete Zeiten“ beschreibt er seine durch die nationalsozialistische Gesinnung der Eltern und Verwandten indoktrinierte Sozialisation. Erst als junger Erwachsener emanzipierte er sich vom ‚Nazi-Sumpf‘ und vor wenigen Jahren machte er seine lange unterdrückte sexuelle Neigung publik. Geprägt von diesen Erfahrungen ist G.F. Haas ein politisch höchst sensibler Künstler. Mit allen seinen Kompositionen verbindet er auch eine politische Lesart. Damit in Beziehung stehen beispielsweise Werke, die laut Spielanweisung teilweise oder als Ganzes in völliger Dunkelheit aufzuführen sind, wie „in vain“, das 3. und 9. Streichquartett und „Solstices“.
Musik in vollkommener Dunkelheit erleben
Vor nunmehr zehn Jahren wurde das 3. Streichquartett im Rahmen der Bregenzer Festspiele sowie im Hotel Felbermayer in Gaschurn aufgeführt. Jene, die dabei waren, haben dieses eindrückliche Erlebnis sicher noch in Erinnerung, denn Musikhören in völliger Dunkelheit verändert sowohl die Außen- als auch die Innenwahrnehmung wesentlich. Sam Wilson, Perkussionist des Londoner Riot Ensembles, beschrieb seine Erfahrungen: „Ohne visuelle Reize hört man viel aufmerksamer zu, und was unheimlich und anders klingen mag, wird normalisiert. Die Mikrotöne sind nicht ‚weniger‘ als die normalen Noten: man hört jeden Klang, jeden Akkord, für sich allein.“
G.F. Haas komponierte „Solstices“ 2018 im Auftrag des Riot Ensembles. Mit großem Erfolg wurde das Werk Anfang des Jahres 2019 bei den Dark Music Days in Reykjavik uraufgeführt. Die Musiker:innen präsentierten das 70-minütige Werk in vollkommener Dunkelheit. Eigentlich impliziert der Werktitel „Solstices“, das bedeutet Sonnenwenden, unterschiedliche Lichtverhältnisse. Doch die Musik beschreibt keine Sonnenbahnen oder ähnliches, vielmehr ist die Komposition autobiografisch inspiriert. Genau zur Wintersonnenwende 2013 lernte G.F. Haas seine Partnerin Mollena Haas-Williams kennen und zur Sommersonnenwende 2014 feierten sie beide ihre Hochzeit.
Intensive Vorbereitungen
Als Brigitte Walk G.F. Haas um ein neues bzw. ein bereits komponiertes Ensemblestück für das Walk-Tanztheater und das ensemble plus bat, schlug er „solstices“ vor. Sie sei ein wenig verblüfft gewesen, erzählt Brigitte Walk, da das Werk sehr dicht sei, in kompletter Dunkelheit gespielt werden sollte sowie zehn Musiker:innen benötigt würden. Doch nach einer dreimonatigen Einarbeitungszeit verstehe sie die Wahl sehr gut. „Es ermöglicht eine körperliche Annäherung, die sehr persönlich ist, die ganz eigene Bögen der Erzählung finden lässt und die es zulässt, jeden Charakter zu entwickeln.“
Auch Guy Speyers und die Ensemblemusiker:innen bereiten sich seit längerem intensiv auf das gemeinsame Projekt vor, denn die mikrotonale Musik des G.F. Haas, das sehr genau Aufeinanderhören und das exakte Abstimmen der Klänge im Zusammenwirken stellen besondere Herausforderungen dar.
Wirbel, Reibungen, Annäherungen und Unterbrechungen
„Solstices“ ist in mehrere Teile gegliedert. Nach einer Einleitung beginnt ein Abschnitt, in dem die Instrumente „umgestimmt“ werden, um sich allmählich der reinen Stimmung des Klaviers anzunähern und sich in einen Einklang hineinzubewegen. Dies geschieht in einem vielschichtigen musikalischen Fluss aus vorgegeben Floskeln und freien „Games“. Für die Zuhörenden entwickelt sich der Verlauf atmosphärisch. Aus unterschiedlichsten Spielarten ergeben sich Bewegungsströmungen, Lautstärkenverhältnisse sowie reibende und ebenmäßig wahrnehmbare Tonhöhenveränderungen. Im Mittelpunkt des Geschehens steht das rein gestimmte Klavier. Von ihm gehen zahlreiche Impulse aus und im Klavierklang finden die Musiker:innen Orientierung. G.F. Haas gibt genau vor, wie das Ensemble agieren soll, gewährt ihm jedoch auch Freiheiten innerhalb eines abgesteckten Rahmens. Mittels „Umstimmungen“ der Instrumente finden Annäherungen statt. Guy Speyers unterstreicht die Quintessenz des Werkes, wenn er betont, dass man den Mut haben müsse, sich ganz zurückzunehmen oder auch voll hineinzuspielen. Von uns wird ein sehr genaues und fokussiertes Hören verlangt. Nicht die lautesten Stellen sind die Herausforderung, sondern die ruhigen Momente.“
Drei „Interruptions“ gliedern den Verlauf. Nach ihnen finden Umbrüche statt und die musikalischen Ideen werden weiterentwickelt. Schließlich steuert das Stück auf eine große Klangorgie zu.
Körper als Spiegelungen der Klänge
Weil „Solstices“ in Vorarlberg als Tanzperformance gezeigt wird, wäre eine Aufführung in vollkommene Dunkelheit widersinnig. Das Zusammenwirken von Tanz und Musik verleiht der Komposition einen neuen Charakter. Sensibel und sehr bewusst auf die Musik achtend gehen Brigitte Walk als Regisseurin und die Choreografin Elisabeth Orlowsky bei der Interpretation dieses speziellen Werkes vor. Es bleibe eine sinnliche Erfahrung, die durch Körper und Menschen erweitert würde, die wie Spiegelungen der Klänge seien. Selbstverständlich beeinflusse die Mikrotonalität den Tanz, denn es gebe keine überflüssigen Bewegungen. Gearbeitet würde mit fixen Choreografien, aber auch mit geleiteten improvisatorischen Teilen, geben Brigitte Walk und Elisabeth Orlowsky Einblick in ihr künstlerisches Konzept. „Die Tänzer:innen haben eigene Körpergedichte verfasst, die in vielen Variationen immer wieder auftauchen.“
Aufmerksame Interaktionen
Wie in der Musik spielen auch im Tanz unterschiedliche Parameter wie Klangentwicklungen und dynamische Verläufe eine Rolle. Die ersten zwanzig Minuten von „Solstices“ erklingen in Dunkelheit. Danach bricht Licht ein, das den Tanz und die Musik gleichermaßen sichtbar macht. Diese Passagen werden mit Bewegungen weitererzählt, um einen neuen Spannungsbogen aufzubauen. „Die Tänzer:innen sind wie der erweiterte Klangkörper: Klänge, die zu Körpern werden. So wird die intensive Hörerfahrung der Komposition mit der visuellen Ebene verknüpft und erweitert.“
Die Interaktion der Musiker:innen und Tänzer:innen setzt eine genaue Kommunikation miteinander voraus. „Einige Passagen sind klar choreographiert, die werden zumindest im Timing vom Orchester wie vereinbart gespielt werden müssen. Andere Teile werden wir anhand einer Struktur improvisieren. Diese Teile können wir mit dem Orchester zwar vorbesprechen, aber erst in der letzten Phase der Proben etablieren. Es bleibt spannend“, beschreiben Brigitte Walk und Elisabeth Orlowsky die Probenarbeit, die in einem intensiven Austausch mit dem Ensemble plus stattfindet.
In der Dornbirner Deutung von „Solstices“ wird die Lichtführung von Matthias Zuggal eine große Rolle spielen. Den Körpern soll die Musik eingeschrieben werden und Bilder von einer langen Reise „von Nacht zu Tag“ erzählen.
Silvia Thurner
Factbox
Donnerstag, 16.2. 2023, Kulturhaus Dornbirn, 19:30 Uhr, Premiere
Georg Friedrich Haas, „Solstices“ Walk-Tanztheater.com und ensemble plus.
Weitere Vorstellungen am 17.2.; 18.2.; 21.2. und 22.2.2023
Matinee-Vorstellung am 19.2.23, 10.00 Uhr