HARALD HUBER, österreichischer Musikwissenschaftler, Komponist und Pianist, geb. 1954 in Lilienfeld/Niederösterreich, entwickelte an der UNIVERSITÄT FÜR MUSIK UND DARSTELLENDE KUNST WIEN ab 1980 den „Fachbereich Popularmusik“, der 2002 in das künstlerisch-wissenschaftliche „Institut für Popularmusik“ (ipop) mündete. Dort unterrichtet er als Professor für Theorie, Geschichte und Didaktik der Popularmusik und war Mitglied des Leitungsteams bis 2019.
Er ist seit 2006 Präsident des ÖSTERREICHISCHEN MUSIKRATS, der österreichweit die Interessen von mehr als 350.000 Musikschaffenden vertritt, gehörte von 2005-2010 dem Vorstand des EUROPÄISCHEN MUSIKRATS an und ist ständiges Mitglied der ARGE Kulturelle Vielfalt der Österreichischen UNESCO Kommission.
Als Wissenschaftler, Künstler und Pädagoge ist er der gesamten Vielfalt der Musik verpflichtet. Er komponierte über 400 Werke und ist als Musiker in den Bereichen Neue Musik, Jazz, World Music, Rock/Pop, Tanz- und Improvisationstheater aktiv. Für 2022 wurde HARALD HUBER von „musik aktuell – neue musik in NÖ“ als Artist in Residence eingeladen.
Mit Michael Franz Woels sprach er über eine noch immer nicht verjährte Schelte von Friedrich Gulda, über die längst nicht mehr stimmige Dichotomie von E- und U-Musik und über die Vertonung der Deklaration der Menschenrechte.
Sie bekamen 2019 die goldene Verdienstmedaille der mdw, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Jede Medaille hat zwei Seiten – auch diese?
Harald Huber: Ja, definitiv. Auf der einen Seite war es möglich, in über 40 Jahren das Spektrum des traditionsreichen Klassik-Ausbildungstempels zu erweitern und ein „Institut für Popularmusik“ zu errichten. Andererseits tut man sich seitens der mdw nach wie vor schwer, die Expertise in diesem Bereich wahrzunehmen und anzuerkennen. Die Schelte von Friedrich Gulda im Jahr 1969, die ich anlässlich der Verleihung der Medaille 2019 versucht habe wieder ins Bewusstsein zu rufen, gilt im Grunde genommen auch heute noch. Es gibt Lippenbekenntnisse bezüglich der Wichtigkeit kultureller Diversität, aber keinen Plan, dies auch tatsächlich umzusetzen.
Seit 2019 sind Sie an der mdw pensioniert, haben aber weiterhin Lehraufträge im Bereich Didaktik der zeitgenössischen Musik. Sie engagieren sich auch im Rahmen des Flüchtlingsprojekts „Zusammenklänge“. Können Sie uns darüber etwas erzählen?
Harald Huber: Der eigentlich faszinierende Aspekt an einer Musikuniversität ist die Arbeit mit den Studierenden. So bin ich weiterhin Betreuer von über 10 Dissertationen, aber auch Lehrer und Prüfer im Bereich der Didaktik der Popularmusik, der Improvisation und der Arbeit mit Geflüchteten. Das Angebot an österreichischen Schulen und Musikschulen hat sich stets an die realen Gegebenheiten anzupassen, um ein breites Spektrum von musikalischer Kreativität zu ermöglichen. Dafür müssen wir in der Ausbildung die Grundlagen und ersten Erfahrungen vermitteln. Es geht um ein produktives Verhältnis von Wissenschaft, Kunst und Pädagogik. Immer wieder gibt es viele Studierende, die sich davon anregen lassen und selbst engagierte Lösungen finden. Das gilt es zu fördern.
„ES GEHT LETZTLICH DARUM, DASS DAS DICHOTOME MODELL VON „E-MUSIK“ UND „U-MUSIK“ LÄNGST NICHT MEHR STIMMT“
Gemeinsam mit Magdalena Fürnkranz werden Sie 2021 das Buch „Aufführungsrituale der Musik. Zur Konstituierung kultureller Vielfalt am Beispiel Österreich“ herausbringen. Können sie uns etwas zum Inhalt erzählen, einen kurzen Überblick geben?
Harald Huber: Dieses Buch, das im transcript Verlag erscheinen wird, ist der vorläufige Abschluss einer Forschungstätigkeit, die in den 1990er Jahren begonnen hat. Es geht letztlich darum, dass das dichotome Modell von „E-Musik“ und „U-Musik“ längst nicht mehr stimmt und um eine Alternative, die ich in einem Stilfelder-Modell sehe. Ich behaupte: über die Methode einer „vergleichenden Stilfelder-Analyse“ können Differenzen und Diffusionen von Stilfeldern wie Klassik, Jazz, World, Dance, Rock oder Schlager herausgearbeitet werden, welche die kulturelle Vielfalt sehr viel besser beschreiben als das alte Schema. Zunächst habe ich das am Beispiel der Liedformen – der Songs – durchgeführt, dann mir angeschaut, wie sich die Stilfelder in Bereichen des österreichischen Musiklebens anhand von Förderungen, Veranstaltungen, Medien, etc. abbilden. Und nun – gemeinsam mit Magdalena Fürnkranz, die von der Theater-, Film- und Medienwissenschaft kommt – habe ich Aufführungsrituale wie Konzert und Musikvideo einer vergleichenden Stilfelder-Analyse unterzogen. Das Material besteht aus zwölf, in ihrem Segment erfolgreichen, österreichischen Musikstücken der Jahre 2010 bis 2015. Die Frage war: „Wie unterscheiden sich die Stilfelder in ihren Performance-Ritualen?“
Als Präsident des Österreichischen Musikrates, des ÖMR, sind sie unter anderem Ansprechpartner des BMKÖS bezüglich Covid19-Maßnahmen im Musikbereich. Was waren für Sie frappierende Erkenntnisse?
Harald Huber: Auf eine Pandemie waren wir ja alle in unserem Leben nicht vorbereitet. Man hantelt sich so Tag für Tag immer weiter. Es galt und gilt weiterhin, den Interessen der Musikschaffenden entsprechend Gehör zu verschaffen. Dabei hat sich gezeigt, dass sich vor allem in Bereichen, die bisher nicht über entsprechende Interessenvertretungen verfügt haben wie z.B. die freischaffenden MusikerInnen, die Clubkultur, die Veranstaltungstechnik, die Tanzpädagogik etc. Eigeninitiativen und neue Strukturen entwickelt haben. Der Musikrat, der ja seine Aufgabe als Dachorganisation wahrzunehmen hat, wird von manchen der neuen IG´s genutzt. Aber letztlich ist die Situation – vor allem im Amateur- bzw. semiprofessionellen Bereich – absolut katastrophal, weil nicht einmal geprobt werden darf.
In dem Dossier “Intermittence du Spectacle – Ein Modell auch für Österreich?” widmen Sie sich gemeinsam mit Irma Niskanen von der IG Freie Musikschaffende und dem Musiker und Aktivisten Géza Frank der Grundsicherung für KulturarbeiterInnen. Was waren die Ergebnisse dieser Recherche?
Harald Huber: Es gibt in Frankreich ein System der Grundsicherung für Kulturschaffende, das die üblichen unregelmäßigen Beschäftigungsverhältnisse kompensiert – eine Art Arbeitslosenversicherung, die ein monatliches Mindesteinkommen garantiert. Es berücksichtigt allerdings nicht, dass künstlerisch Tätige auch abwechselnd als Arbeitnehmer oder als Arbeitgeber, als EPU, Einkommen lukrieren. Und jetzt in der Pandemie ist ohnehin alles anders.
Was sind denn weitere gegenwärtige oder kommende Projekte der Lobby-Arbeit des ÖMR?
Harald Huber: Wir sind gemeinsam mit anderen Kunstsparten eingebunden in die „Fair Pay“- Strategie des BMKÖS, bringen uns in die Debatten der Umsetzung der EU-Urheberrechtsrichtlinie und des Urhebervertragsrechts ein, sind laufend damit beschäftigt, den Interessen der Musikschaffenden im epidemiologischen Hammer-und-Tanz-Wirrwarr Gehör zu verschaffen und kämpfen für einen Masterplan im Bereich der musikalischen Bildung: vom Kindergarten bis zu den Musikuniversitäten.
2017 hat der ÖMR eine Pressemeldung zur Situation des Musikunterrichtes in der Volksschule veröffentlicht. Eine Headline lautete: „Musikalarm. Volksschule bald ohne Musikunterricht!“ Was hat sich seither getan?
Harald Huber: Am Grundproblem, dass es zu wenige, in Musik qualifizierte VolksschullehrerInnen gibt, hat sich nichts geändert. Ein sehr erfolgreicher Schulversuch, die „Musikvolksschule“, wurde in der langfristig bestehenden Form abgeschafft und durch bundesländerspezifische Lösungen mehr schlecht als recht kompensiert. Für Kooperationen mit Musikschulen gibt es noch immer keine tragfähigen Grundlagen.
„DIE IDEE, GEMEINSAM MIT LAIEN UND PROFIS KONKRETE LEBENSVERHÄLTNISSE MIT HILFE KÜNSTLERISCHER MITTEL ZU REFLEKTIEREN PRÄGT MICH BIS HEUTE.“
Sie haben eine Reihe von musikpädagogischen Projekten initiiert. Was war Ihnen dabei immer ein besonderes Anliegen?
Harald Huber: Ein wichtiges Anliegen ist mir, den Grundsatz gesellschaftlich durchzusetzen, dass alle Kinder, Jugendliche und Erwachsene Zugang zur Musik als Ausdrucksmittel haben sollen. Dabei sollte jede Form von Stilistik anerkannt werden. Das war z.B. wichtig bei der Ausgestaltung des Faches „Komposition“ in Musikschulen. Auch Songwriting oder elektronische Musik, die direkt mit dem Klang ohne Notenschrift arbeitet, sollen willkommene Arten des Erfindens von Musik sein. Ich hatte das Glück, in den 1980er Jahren auf Vermittlung von Dieter Kaufmann am Programm „Musikanimation“ des Steirischen Herbstes mitzuwirken und dabei das Konzept der kulturellen Partizipation direkt in der Zusammenarbeit mit Hans Werner Henze kennenzulernen und mit Jugendlichen des Mürztals musiktheatralisch umzusetzen. Die Idee, gemeinsam mit Laien und Profis konkrete Lebensverhältnisse mit Hilfe künstlerischer Mittel zu reflektieren und lokal, regional und medial zu kommunizieren prägt mich bis heute.
2020 haben Sie „Universal Declaration of Human Rights“ komponiert, die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UN 1948) haben Sie für Sprecher/in und World Orchestra vertont und eine Klavierfassung fertiggestellt. Was waren dabei Ihre konzeptionellen Überlegungen?
Harald Huber: Ich war im Frühjahr 2020 überrascht, dass – etwa im Zusammenhang mit der „Black Lives Matter“ Bewegung – die Bedeutung der Deklaration der Menschenrechte in der Bevölkerung kaum wahrgenommen wird. Daher will ich dazu beitragen, diese grundlegenden global geltenden Rechte wieder stärker ins Bewusstsein zu bringen. Meine eigene Komposition, die alle 30 Artikel ähnlich wie Mussorgsky´s „Bilder einer Ausstellung“ vor Augen und Ohren führt, ist in den Monaten Juni bis September 2020 entstanden und soll mit einer bunten, internationalen, vielsprachigen Besetzung realisiert werden. Die Einladung, als „artist in residence“ an der Veranstaltungslandschaft in NÖ mitzuwirken, gab mir die Gelegenheit, dieses Thema als Jahresprojekt für 2022 aufzustellen.
Die Live-Premieren ihrer Pop/Rock Band Donaukrach und des Ensembles Afro Arabiq Walzer Archestra mussten 2020 verschoben werden. Stattdessen haben Sie die Zeit für Studioproduktionen genutzt. Wie kam es zu diesen beiden Projekten?
Harald Huber: Das Interesse an arabischer Musik entstand durch die längerfristige Zusammenarbeit mit dem tunesischen Perkussionisten Habib Samandi. Was als Duo begonnen hat, ist mittlerweile zu einem 8- bis 10-köpfigen Afro Arabiq Walzer Archestra (AAWA) angewachsen. Die Anspielung an das Intergalaktic Research Arkestra von Sun Ra ist beabsichtigt. Es geht aber nicht nur um Afro-Futurismus, sondern vor allem um die Verwandtschaften zwischen Walzer-Rhythmen und afro-arabischen Musiktraditionen.
Die Rock/Pop/Funk/Theater-Band Donaukrach dient der Realisierung vor allem meiner eigenen Songs, wir bringen aber auch Stücke der Sängerin Patricia Simpson. Ich will erstklassigen Instrumentalistinnen eine Bühne bieten: Andrea Fränzel spielt Bass, Raphaela Fries die Drums, Elena Todorova rockte die Gitarre. Elena ist allerdings nach Brüssel gezogen, statt ihr spielt nun der hervorragende Dominik Reisner.
Es gibt aber auch noch ein Duo Palm&Stern mit der Wienerlied Spezialistin Agnes Palmisano und experimentelle Projekte im Bereich Neuer Musik und manches andere.
Sie spielen mit Andi Schreiber an der Violine und dem Perkussionisten Habib Samandi auch im Trio SA.HA.RA. Im Rahmen der Vortragsreihe Transkulturalität an der mdw haben Sie 2018 den ältesten dokumentierten Song interpretiert. Er wurde auf einer Steintafel in Ugarit gefunden und scheint etwa 3.400 Jahre alt zu sein. Worum geht es in diesem Lied, was waren die faszinierendsten Aspekte dieses Ur-Songs?
Harald Huber: Bei Sa.Ha.Ra und auch im AAWA darf ich mit der aus Syrien stammenden großartigen Sängerin Basma Jabr zusammenarbeiten. Die Reste von Ugarit – Ras Schamra – liegen heute an der syrischen Mittelmeerküste. Ich bin auf das Lied, die sogenannte „Hurritische Hymne Nr. 6“ im Zuge von Studien zur Geschichte des Songs gestoßen und habe die derzeit elaboriertesten Interpretationen der Schriftzeichen der Tontafel zum Ausgangspunkt für ein Arrangement genommen. Wir bringen die von Richard Dumbrill rekonstruierte Melodie in puristischer Form und setzen zwischen die beiden Strophen einen dem Bandstil entsprechenden neukomponierten Mittelteil. Im Text geht es um eine Bitte an die Mondgöttin, sie möge einen Kinderwunsch erfüllen. Basma Jabr singt in Hurritisch, einer längst ausgestorbenen Sprache.
Hinweis: Mit dem Abspielen des Videos laden sich sämtliche Cookies von YouTube.
„DIE FREIHEIT, SICH AUSZUDRÜCKEN WIRD WELTWEIT NACH WIE VOR IMMER WIEDER DURCH ZENSURMASSNAHMEN BIS HIN ZU FREIHEITSENTZUG UND FOLTER MISSACHTET.“
Von „musik aktuell – neue musik in nö“ wurden Sie für 2022 als „artist in residence“ ausgewählt. Das Thema ist „Menschenrechte/Musikrechte“. Was ist unter den Musikrechten zu verstehen?
Harald Huber: Der International Music Council hat um das Jahr 2000 auf der Basis der Deklarationen der Menschenrechte und der Kinderrechte „Five Music Rights“ formuliert, die seither die Leitlinien der musikpolitischen Arbeit weltweit darstellen:
1) Alle Kinder und Erwachsene haben das Recht sich in aller Freiheit musikalisch auszudrücken.
2) Alle Kinder und Erwachsene haben das Recht musikalische Ausdrucksformen und Fähigkeiten zu erlernen.
3) Alle Kinder und Erwachsene haben das Recht auf Zugang zu musikalischen Aktivitäten – zur Teilnahme, zum Hören, zum musikalischen Schaffen und zur Information.
4) Musikschaffende haben das Recht sich als Künstler zu entwickeln und das Recht auf Kommunikation in allen Medien indem ihnen angemessene Einrichtungen zu ihrer Verfügung stehen.
5) Musikschaffende haben das Recht auf angemessene Anerkennung und Vergütung für ihre Arbeit.
Die Freiheit sich auszudrücken wird weltweit nach wie vor immer wieder durch Zensurmaßnahmen bis hin zu Freiheitsentzug und Folter missachtet, für das Recht auf Partizipation am Musikleben seitens aller Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen kämpfen wir tagtäglich, genauso steht die faire Abgeltung für musikalisch-künstlerische Leistungen ständig zur Debatte – vom Live-Sektor bis zum Internet.
Herzlichen Dank für das Interview!
Michael Franz Woels
++++
Links:
Harald Huber
Harald Huber (mica-Datenbank)
ÖMR
Rede Gulda 1969 http://www.gulda.at/deutsch/biographie/1969_rede.htm
Rede Huber 2019 https://www.ipop.at/wp-content/uploads/Kollektion_ipop_2020_final.pdf Seite 23 ff.
International Music Council / Five Music Rights