„DAS ZUSAMMENARBEITEN VON PROFIS UND LAIEN FINDE ICH SEHR WICHTIG“ – CORDULA BÖSZE IM MICA-INTERVIEW

CORDULA BÖSZE arbeitet als Flötistin, Dramaturgin, Pädagogin, Musikvermittlerin sowie Veranstalterin. Seit der Jahrtausendwende beschäftigt sie sich zunehmend mit Improvisation und Elektronik in Zusammenarbeit mit komponierenden und improvisierenden Musiker:innen. Ein großes Lernprojekt ist der achtstündige (!) Tag mit dem Namen „The Great Learning“, ein epischer Abschluss der heurigen Ausgabe des Festivals WIEN MODERN. Michael Franz Woels hat CORDULA BÖSZE in der baustellenzerklüfteten Luftbadgasse besucht und Antworten auf Fragen über die Farben der Luft, karitative Kuchenkunst und die Konfusion durch Konfuzius erhalten.

„The Great Learning“, die Komposition von Cornelius Cardew hat der heurigen Ausgabe von Wien Modern sein alljährliches Motto verliehen. Wie geht es dir mit diesem Projekt, an dem sich fünf Personen, neben dir auch noch Kira David, Sonja Leipold, Sophie Löschenbrand und Michael Weber, die Konzeption teilen? Welche großen Lernerfahrungen machst du in diesem Prozess?

Cordula Bösze: Im Grunde fange ich gerne auch mit der Person Gunter Schneider an. Er hat vor über zwanzig Jahren bei einem Workshop die Konzepte des London Scratch Orchestra präsentiert. Komponierende wie auch nicht-komponierende Menschen konnten sich Konzepte überlegen, die selbst Laien sofort umsetzen können. Das London Scratch Orchestra war ein Kollektiv von rund fünfzig Personen, die auch aus Bankangestellten und Haushaltshilfen, also nicht-professionellen Musiker:innen, bestanden hat. Gunter Schneider hat dieses Kollektiv auch noch kennengelernt und getroffen: Jede Idee zählt und alles darf ausprobiert werden.

Das klingt jetzt idealtypisch. Jede:r darf mitbestimmen. Wer trifft aber dann letztendlich Entscheidungen?

Cordula Bösze: Das London Scratch Orchestra hat in der Royal Albert Hall genauso gespielt wie auf irgendwelchen Marktplätzen. Das Ensemble war stark von der Fluxus-Idee geprägt, sie haben auch performative Aktionen durchgeführt, wie das öffentliche Verschenken von Geld. Und eine Persönlichkeit wie Cornelius Cardew hat diese Leute zusammengehalten, aber sich nie als Guru aufgespielt – und das war ja Ende der 1960er Jahre nicht selten.

Es gibt eine sogenannte „Scratch Anthology of Compositions“, und die Konzepte, auch zum Spontanmusizieren, stammen zum Teil von ganz unbekannten Nichtmusiker:innen. Ich arbeite im Rahmen von Workshops sehr viel mit Kindern, aber auch mit Erwachsenen, und diese Ideen der „Scratch Anthology“ haben mich oft begleitet.

Generell noch einmal nachgefragt, wie kam es überhaupt dazu, diese epische Komposition „The Great Learning“ im Rahmen von Wien Modern mit Musikschüler:innen aufzuführen?

Cordula Bösze: Wien Modern hat immer wieder auch Co-Kuratoren, und das war im Jahr 2022 der Deutsche Künstler Georg Baselitz. Georg Baselitz wurde vom Hotel Sacher auch eingeladen, eine Artist’s Edition für die Holzkisten ihrer Torten zu gestalten. Die Einnahmen werden dann Wohltätigkeitsorganisationen gespendet. Georg Baselitz wollte die Geldspende aber lieber als einem karitativen Kinderprojekt einem künstlerischen Kinderprojekt zur Verfügung stellen. Deshalb hat er den künstlerischen Leiter von Wien Modern Bernhard Günther gefragt, ob er ein Projekt wisse. Und da ich seit mittlerweile 2011 gemeinsam mit Wien Modern von der IGNM [Anm.: Internationale Gesellschaft für Neue Musik] aus gemeinsam mit den Musikschulen in Wien ein paar Konzerte mit zeitgenössischer Musik (dieses Projekt nennt sich „Junge Musik“) hat Bernhard Günther diese Idee vorschlagen. So kamen wir plötzlich zu einer Großspende vom Hotel Sacher. Bernhard Günther hat dann das Stück „The Great Learning“ vorgeschlagen, und ich finde, die Gesellschaft braucht Stücke wie dieses, das Themen wie ein gutes Zusammenleben verhandelt. Auch das Zusammenarbeiten von Profis und Laien finde ich sehr wichtig.

Das siebenteilige Stück wird mit Texten von Konfuzius philosophisch-poetisch unterfüttert. Wie ging es dir mit den Texten?

Cordula Bösze: Ich habe angefangen, Texte von Konfuzius zu lesen und das hat mich sehr konfus gemacht. [lacht] Es gab auch ein Podiumsgespräch mit Wolfgang Kubin, der den Text des Ta-hio ins Deutsche übersetzt hat. Diese Texte sind ja dermaßen alt, da gab es bereits viele Bedeutungswandel. Wenn zum Beispiel vom Volk gesprochen wird, dann ist das ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert. Früher war damit der Kaiser gemeint. Wir haben versucht, das ein bisschen zu sortieren. Ezra Pound, den ich sehr schätze, hatte aber mit der Bewunderung des Faschismus auch seine dunkle Seite. Seine Übersetzungen von Konfuzius wurden von Cornelius Cardew so verwendet, wie sie für Cardew gut gepasst haben – es handelt sich also bei den Texten von „The Great Learning“, die im Stück gesungen werden, also nicht um die wörtlichen Übersetzungen von Ezra Pound.

Cordula Bösze beim Spielen der Wasserorgel zum 200. Geburtstag von Anton Bruckner 2024
Cordula Bösze beim Spielen der Wasserorgel zum 200. Geburtstag von Anton Bruckner 2024 © Reinhard Winkler

Diese Frage betrifft jetzt deine persönliche Wahrnehmung – durch das lebenslange Musizieren sensibilisiert. Wie geht es dir mit der städtischen Lärmumgebung?

Cordula Bösze: Die Baustelle vor meiner Wohnung war mir diesen Sommer durch das Chaos vor meiner Tür einfach zu viel. Und das war nicht unbedingt nur der Lärm, sondern die Fernwärme-Ausgrabungen waren kombiniert mit der Übersiedelung einer Person. Ich konnte nicht mehr vernünftig bei der Tür ein- und ausgehen, schon gar nicht mit dem Fahrrad. Nachdem ich mich dann an den Bezirksversteher gewendet habe, hat dieser wiederum einem – wie ich sagen muss, wirklich verständnisvollen – Bauleiter Bescheid gegeben. 

Aber zum Lärm und den Geräuschen in der Stadt: 2014 hatte ich gemeinsam mit Elisabeth Flunger – die ich übrigens schon seit meinem Studium kenne – ein Projekt mit weiteren fünf Personen. Mit dabei waren außerdem die Akkordeonistin Ute Völker, die Sprecherin Ada Günther sowie Katharina Bihler und Stefan Scheib [Anm.: Katharina Bihler und Stefan Scheib des Liquid Penguin Ensembles] dabei. Elisabeth hatte davor jahrelang Baustellengeräusche aufgenommen und wir sind dann einmal eine Woche in ihrem Haus in Südtirol gesessen und haben gemeinsam versucht, diese Geräusche nachzuspielen. Katharina hat zufällig aufgenommene Zuggespräche als Kommentare eingebaut. Wir haben diese Konzerte 2015 mit dem Titel „draußen und drinnen“ in Wuppertal und in Luxemburg aufführen können. In Wien haben wir dieses Projekt (noch) nicht präsentiert.

Bei der Stadtbenützung gibt es in Wien nur einen Punkt, der für mich auch zu einem guten Zusammenleben gehört und den Stadtbenützer:innen erklärt werden muss: Es gibt viele Sorten von Fußgängerampeln und viele dieser Kasteln haben an der Unterseite einen Taster, der bei der nächsten Grünphase das akustische Signal für Blinde einschaltet. Es hat sich eingebürgert, dass Menschen auf diesen Taster drücken. Und da meine Mutter blind ist, ärgert es mich, dass viele dieser Taster schon kaputt sind. Durch das Draufdrücken im Sekundentakt werden die Taster kaputt – die eigentlich zur Entlastung der Umgebung dienen, da sie nur im Bedarfsfall als Signal für Blinde aktiviert werden sollten. Ich bin schon so weit, dass ich viele Leute und Kinder anspreche, damit sie das unterlassen. Soviel zu den Geräuschen der Stadt.

Cordula Bösze beim Spielen der Wasserorgel zum 200. Geburtstag von Anton Bruckner 2024
Cordula Bösze beim Spielen der Wasserorgel zum 200. Geburtstag von Anton Bruckner 2024 © Reinhard Winkler

„DIESES SELBSTENTDECKENDE LERNEN IST EIN MANTRA, DAS ICH VOR MIR HERTRAGE: SELBERMACHEN STATT KONSUMIEREN.“

Dein Experimentieren mit ungewöhnlicher Klang- und Geräuscherzeugung durch ein Blasinstrument hast du einmal als Spielen mit und Erzeugen von „Farben der Luft“ umschrieben. Musikvermittlung ist immer noch ein wichtiger Schwerpunkt in deinem Musikerinnenleben. Haben sich deine Zugänge in letzter Zeit geändert?

Cordula Bösze: Ich finde die Vorstellung von Bildern gang wichtig, gerade wenn man mit Kindern arbeitet. Aber ich habe diesen Zugang auch erst mit der Zeit gefunden. Geschichten finde ich bei der Musikvermittlung immer noch problematisch, wenn es um das Erfinden von oder Improvisieren mit Musik geht. Aber da gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Zum Beispiel war ich heuer mit einem Komponierprojekt bei der SONUS SommerMusikWoche in Südkärnten, kurz nach dem skandalösen Vorfall am Peršmanhof in Bad Eisenkappel. Ich war zutiefst schockiert, und da ich vier Tage Zeit hatte, um mit den Kindern an einem Thema zu arbeiten, danach zu proben und das Stück aufzuführen, habe ich mich für Länder und Ländernamen entschieden. Es ist sofort das Friedensland gekommen, es hieß „Peatonachill“ zusammengesetzt aus „PeaceTonNaturChillen“, ein „Mystia“ und ein „Heißland“. Wir haben dann eine fünfzehn-minütige, musikalische Reise von einem Land zum anderen konzipiert, und sie haben dann sogar Flaggen für diese Fantasieländer entworfen (auch wenn ich persönlich kein Fan von Flaggen bin). Das hatte schon Ansätze einer Geschichte – also arbeiten mit Bildern immer gerne, und auch mit den „Farben der Luft“, den Obertönen von Blechblasinstrumenten, vor allem wenn man sie mikrofoniert … Dieses selbstentdeckende Lernen ist ein Mantra, das ich vor mir hertrage: Selbermachen statt Konsumieren. Und auch wenn das jetzt extrem plakativ ist: Gemeinsames Spielen und Musizieren ist auch eine Form von Gewaltprävention.

Wie sieht es mit deiner Experimentierphase am und im Instrument aus. Ist die abgeschlossen oder ist das ein „Great Lifelong Learning“ …

Cordula Bösze: Voriges Jahr habe ich bei Wien Modern die Möglichkeit gehabt, beim Blöden Dritten Mittwoch mit der viel jüngeren Flötistin Sara Zlanabitnig zu spielen. Wir haben viele „Farben der Luft“ ausprobiert, und ich habe auch mit Multiphonics und Sounds ohne zusätzlicher Mikrofonierung herumprobiert. Unser Duo heißt Von B bis Z und nächstes Jahr werden wir im Mai dank einer Einladung wieder gemeinsam auftreten. Ich bin sehr glücklich mit dieser Zusammenarbeit, es war sehr lässig, gemeinsam Fragen an unsere Instrumente zu stellen.

Gibt es so etwas wie einen „schrägsten“ beziehungsweise speziellsten Auftritt?

Cordula Bösze: Zu meinem steilsten Auftritt: Norbert Trawöger ruft mich im vorigen Frühjahr an und sagt: „Cordula, ich brauche dich. Wir machen am Bruckner-Geburtstag ein 24-Stunden-Programm und die Geburtsstunde um 4:30 Uhr – das müssen die Frauen machen … Und es gibt eine Wasserorgel, die spielst du …“ Wir sind dann in eine Werkstatt gefahren und haben uns diese Wasserorgel von Josef Baier angesehen. Die Konzeptentwicklung für diesen Auftritt hat mir – wider Erwarten – sehr viel Spaß gemacht. Die Wasserorgel kann ich so beschreiben: Für jede Orgel gibt es eine eigene Pumpe, die Röhren stehen im Wasser und man kann sie aus dem Wasser rausziehen. Dadurch wird der Ton tiefer. Und da ich mehr Hände für die Bedienung gebraucht habe, habe ich Manon-Liu Winter gefragt, ob sie mitmachen möchte. Beim Auftritt selbst waren dann auch noch das quinTonic Ensemble, ein Blechbläserinnenquintett, mit dabei.

„DAS WAR UNGLAUBLICH, ES WAR NOCH FINSTER, DIE MENSCHEN SIND IM SCHÖNSTEN FESTTAGSGEWAND ERSCHIENEN.“

Als wir dann um 4 Uhr in der Früh dort vor Bruckners Geburtshaus in Ansfelden gestanden sind, kamen über zweihundert Leute! Das war unglaublich, es war noch finster, die Menschen sind im schönsten Festtagsgewand erschienen. Diesen Auftritt werde ich bestimmt nie vergessen. Bis zur Geburtsminute haben wir eher geräuschhafte Sounds erzeugt, die Blechbläserinnen haben sich von der Seite her genähert. In der Geburtsminute haben sie ein „Locus iste“ gespielt, und viele Menschen haben zum Weinen begonnen. Danach haben wir eher tonal weitergespielt, und das Konzert im Finsteren hat insgesamt eine dreiviertel Stunde gedauert. Die Luft hatte da auch eine ganz spezielle Farbe …

Abschließend, welche Bedeutung im Leben hat für dich das Musizieren?

Cordula Bösze: Ich habe mir gestern beim Spazierengehen vorgenommen, diesen Aspekt anzubringen und ich habe das auch schon einmal in einem Zeit-Ton-Interview gesagt: Für mich ist Kunst ein Grundnahrungsmittel. Und damit meine ich alles, von Musik, Film, Literatur bis Theater. Und ein paar Tage später, nach dem ich das damals auf Ö1 gesagt habe, ist im Postfach ein Buch gelegen. Marion Diederichs-Lafite hat mir eine Biografie über den Dirigenten Herbert Zipper geschenkt. Dieser jüdische Dirigent musste emigrieren, davor hatte er Dachau überlebt. Von ihm stammt der Satz: Man muss ein Mensch bleiben.“ Am zweiten oder dritten Tag in der Baracke in Dachau hatte er begonnen, alle Verse aus dem Buch Faust zu rezitieren, die ihm noch eingefallen sind. Ein anderer Häftling hatte sich ihm angeschlossen und am Abend haben sie sich über ihre Goethe-Texte ausgetauscht.

Ich halte Kunst, auch und vor allem in so lebensbedrohenden Phasen, für lebensnotwendig. Es gibt Situationen im Leben, die man nur übersteht, wenn man weiß, dass es schöne Bilder oder gute Musik gibt. Dieses Verständnis und diese Aufmerksamkeit fehlt mir in der Gesellschaft und in der Politik zunehmend.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Michael Franz Woels

++++

Termin:

Sonntag, 30. November 2025, 11–19:00 Uhr
Cornelius Cardew: The Great Learning
im Rahmen von Wien Modern
Wiener Konzerthaus

Link:
Cordula Bösze