„DAS IST DIE REALIÄT IN DER UKRAINE“ – KATARINA GRYVUL IM MICA-INTERVIEW

„Die Welt war vor diesem Album eine andere“, sagt KATARINA GRYVUL. Die aus der Ukraine stammende und in Graz studierende Sound Artist veröffentlichte Anfang Februar ihr zweites Album. Inzwischen sei Kunst weit weg. In ihrem Heimatland herrscht Krieg, Millionen an Menschen fliehen. Die Welt ist eine andere. GRYVUL, deren Familie in der Ukraine blieb, um zu kämpfen, versucht sich Mut zu machen. „Tysha“, ihr Album, erzählt eine Geschichte von Hoffnung und Verfall. Themen, die während der Pandemie aufkamen und heute neue Dringlichkeit erfahren. Über die aktuelle Situation in der Ukraine, warum man hinschauen muss und wieso Stille wichtig ist, erzählt KATARINA GRYVUL im Gespräch mit Christoph Benkeser.

Katarina, du wurdest in der Ukraine geboren und studierst in Graz. Wie gehst du mit der aktuellen Situation in deinem Heimatland um?

Katarina Gryvul: Ich fühle mich schuldig, dass ich an einem sicheren Ort leben kann. Ich weiß, dass sich meine Familie und meine Freunde gerade in Luftschutzbunkern verstecken. Das ist schwer zu verkraften, denn in meinem Kopf schwirrt immer die Frage herum: Wie kann ich helfen? Ich will mich nicht nur verstecken. Also sammle ich Medikamente und unterstütze Organisationen, die andere Hilfsgüter in die Ukraine transportieren. Am Ende habe ich trotzdem ein schlechtes Gewissen, weil ich an einem sicheren Ort überleben kann. Nach fast drei Wochen dieses schrecklichen Kriegs bin ich immer noch schockiert. Ich stehe immer noch unter Schock. Selbst so einfache Dinge wie das Kochen des Abendessens oder das Erledigen von alltäglichen Dingen sind für mich schwierig. Ich habe Probleme einzuschlafen, ich weine mehrmals am Tag und schaue mir permanent Nachrichten an, weil ich so viel Angst um meine Familie habe. Psychologisch gesehen ist es schwer, in diesem Moment zu leben.

Umso mehr möchte ich mich bedanken, dass du heute mit mir über die Situation sprichst. Erinnerst du dich an den Moment, als du zum ersten Mal von der Invasion in das Land, in dem du aufgewachsen bist, gehört hast?

Katarina Gryvul: Ich bin am frühen Morgen des 24. Februar aufgewacht, weil meine Mutter mich angerufen hat. Sie sagte mir: Katja, der Krieg hat begonnen! Diesen Moment werde ich nie vergessen. Ich war sofort schockiert. Dann sagte sie: Beruhige dich, mach dir nicht zu viele Sorgen, im Moment bombardieren sie nur die militärische Infrastruktur. Aber offensichtlich schossen die Russen bereits auf Zivilisten! Ich fragte sie, ob sie zu mir kommen wolle – ich habe auch eine Schwester mit Kindern, die dort in der Nähe von Lemberg leben –aber sie wollten alle bleiben. Zum Glück leben sie im westlichen Teil der Ukraine, aber wie du weißt, wurde auch die Region um Lemberg bereits bombardiert.

Was erzählt deine Familie über die derzeitige Situation in Lemberg?

Katarina Gryvul: Lviv bricht zusammen, weil viele Menschen – vor allem aus dem Osten der Ukraine – dorthin fliehen. Es ist die letzte größere Stadt, bevor man die polnische Grenze erreicht. Alle Flüchtlinge, die in den Westen wollen, kommen also über Lviv. Trotzdem versuchen viele Menschen zu helfen. Sie kümmern sich um all die Kinder, die aus den Regionen um Donezk und Luhansk kommen und schreckliche Geschichten von ihren Familienmitgliedern erzählen, die vor ihren Augen getötet wurden. Sie sind wie betäubt. Stell dir das kurz vor.

Es ist schrecklich. Manchmal denke ich darüber nach, wie nah diese Situation an unserem Leben ist. Trotzdem fühlt man sich machtlos, ohnmächtig …

Katarina Gryvul: Es ist so nah und wir können hier in Sicherheit sein, aber der Punkt ist: Es passiert! Der Krieg findet statt. Wir müssen tun, was wir tun können. Und es gibt Möglichkeiten zu helfen. Ansonsten sehe ich keinen Sinn darin, in einer solchen Welt zu leben.

Du postest eine Menge Bilder und Informationen auf sozialen Medien.

Katarina Gryvul: Viele Künstler:innen sagen, dass sie nicht politisch seien. Sie wollen ihre Kunst einfach als Kunst sehen. Aber um ehrlich zu sein: Man kann zu dieser Situation nicht schweigen! Wenn man schweigt, ist man auf der Seite der Mörder. Also poste ich Informationen. Ich habe einige Follower, sie vertrauen mir – deshalb ist es mir sehr wichtig, über die Dinge zu sprechen, die in der Ukraine passieren! Vor allem zu Beginn der Invasion habe ich mit so vielen Freund:innen geschrieben, die mir sagten, dass sie bombardiert wurden. Ich hatte Angst, dass die Welt nur zuschaut und kaum Notiz davon nimmt. Dann ist unser Präsident aufgestanden und hat gesagt: Niemand wird uns helfen – wir müssen mitkämpfen!

Und das tun viele Menschen. Es gibt einen starken Widerstand gegen den Feind.

Katarina Gryvul: Ja, meine Familie hat mir gesagt, dass sie nicht nur bleiben, sondern auch kämpfen werden. Es ist ihr Land, ihre Heimat, ihre Freiheit, die sie um jeden Preis schützen werden. Das ukrainische Volk wird nicht mehr versklavt werden. Es wird frei sein, denn in unserer ganzen Geschichte haben wir für die Freiheit gekämpft. Das liegt uns im Blut. Man kann das nicht verstehen, wenn man der Gefahr nicht ausgeliefert ist. Ist man aber plötzlich in Gefahr ist, weiß man um den Wert der Freiheit. Deshalb fühlt heute jeder in der Ukraine so.

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Du hast vorhin gesagt, dass du dich schuldig fühlst, weil du nicht in der Ukraine bist. Was wäre anders, wenn du dort wärst?

Katarina Gryvul: Ja, ich fühle mich schuldig, weil ich nicht dort bin. Als der Krieg begann, war ich im Ausland und wollte zurückkehren, aber meine Mutter hat gesagt: Wir sind in einem Bunker – du kannst mehr helfen, wenn du im Ausland bleibst und anderen Menschen verständlich machst, was hier passiert. Und genau das tue ich, denn eine meiner größten Ängste ist, dass niemand davon erfährt.

Wie meinst du das?

Katarina Gryvul: Ich sehe schon, dass der Krieg für manche Leute langweilig wird. Er ist die ganze Zeit in den Medien, aber man sieht, wie er in der Aufmerksamkeit verblasst, obwohl er an erster Stelle stehen sollte! Im 21. Jahrhundert kann man so etwas nicht einfach geschehen lassen, ohne dass andere Leute mitbekommen, was da passiert.

„MEINE FREUNDE ERZÄHLEN MIR, DASS SIE DAS HEULEN DER SIRENEN HALLUZINIEREN. ALSO NEHMEN SIE DAS GERÄUSCH AUF IHREM SMARTPHONE AUF, UM ZU SEHEN, OB SIE SICH VERSTECKEN SOLLEN ODER NICHT.“

Über Kunst zu sprechen, kann sich in diesen Zeiten so unbedeutend anfühlen. Glaubst du, dass das Hören von Musik in gewissem Maße ermächtigend sein kann?

Katarina Gryvul: Wenn Krieg ist, fühle ich überhaupt keine Kunst. Ich kann nicht komponieren. Ich kann mir nicht einmal Musik anhören, um mich besser zu fühlen. Es funktioniert einfach nicht für mich, wenn ich weiß, was passiert. Deshalb habe ich auch zwei Kompositionsstunden hier an der Universität Graz ausgelassen, weil ich nichts vorzuweisen habe. Normalerweise bereitet man ein Stück vor, aber das konnte ich nicht. Gleichzeitig kenne ich viele Menschen, die sich derzeit in Luftschutzbunkern verstecken – sie brauchen Musik, um nicht an den Krieg denken zu müssen. Sie brauchen die Ablenkung. Selbst wenn es nur ein langweiliges YouTube-Video ist, in dem Leute etwas kochen. Ein Freund von mir hört sich zum Beispiel Regengeräusche an – und das macht Sinn. Die ganze Zeit heulen die Sirenen. Neben all den physischen Gefahren übt der Krieg auch einen psychologischen Druck aus. Meine Freunde erzählen mir bereits, dass sie das Heulen der Sirenen halluzinieren. Sie wissen nicht, ob es echt ist oder nicht. Also nehmen sie das Geräusch auf ihrem Smartphone auf, um zu sehen, ob sie sich verstecken sollen oder nicht. Das ist gerade die Realität in der Ukraine!

Katarina Gryvul (c) Nika Gargol

Welche Zukunft siehst du für das Land, in dem du aufgewachsen bist?

Katarina Gryvul: In der Zukunft sehe ich ein starkes und unabhängiges Land. Es gibt so viele mutige und talentierte Menschen, die das Land weiterentwickeln wollen. Sie sind stolz darauf, Ukrainer:innen zu sein. Und sie werden kämpfen. Deshalb möchte ich von hier und als Künstlerin stärker sein. Ich darf mich nicht schlecht fühlen, weil alle meine Leute in einer viel schlimmeren Situation leben als ich. Ich fühle den Drang, mich zu wehren und etwas zu tun, dass ich kämpfen muss, weil sie noch härter kämpfen.

Gleichzeitig hat man das Recht, Schmerzen zu haben, gefühllos zu sein, auch wenn man die Situation nicht miterlebt.

Katarina Gryvul: Ich weiß, aber es ist ein kompliziertes Gefühl. Am Anfang war da nur das Weinen. Jetzt fühle ich eher die Leere. Man durchlebt so viele verschiedene Gefühle in so kurzer Zeit, und das ist eine schmerzhafte Erfahrung. Am Ende ist es aber immer noch eine Erfahrung.

Vielleicht ist es zu früh, das zu fragen, aber: Glaubst du, dass dieser Krieg deine Herangehensweise an das Komponieren verändern wird?

Katarina Gryvul: Es wird eine große Veränderung sein, ja. Ich spüre bereits, wie er meine Perspektive verändert. Wir leben in einer anderen Welt; meine Musik wird im Vergleich zu früher dunkler ausfallen. Früher gab es in meinen Kompositionen ein Element der Hoffnung, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass sie mich in eine düstere Richtung führen wird. Irgendwie liegt das auf der Hand, denn es ist eine Art, die inneren Gefühle auszudrücken. Sie sind ein Spiegelbild der Welt, in der man lebt.

Ich würde gerne mit dir über das Album sprechen, das du bei Standard Deviation veröffentlicht hast: „Tysha“. Das bedeutet übersetzt Stille.

Katarina Gryvul: Es ist mein Lieblingswort in der ukrainischen Sprache, weil es für mich eine sehr persönliche Bedeutung hat. Es kann ein hartes Wort oder ein leises sein – es ist vielseitig. Außerdem erzählen die verschiedenen Tracks eine eigene Geschichte für sich. Es fängt mit Hoffnung an, aber langsam kann man die Zerstörung hören, bis schließlich alles zusammenbricht. Deshalb gibt es ein gewisses Element des Verfalls in den Liedern. Am Ende sind sie aggressiv. Es ist die Leere, die bleibt.

Coverartwork “Tysha” by Sam Clarke

Während der Pandemie hatte ich nur über Zoom Kontakt zu Menschen. Es war meine Entscheidung, niemanden zu sehen, ein Experiment, um zu verhindern, dass ich mich von äußeren Einflüssen ablenken lasse. Deshalb habe ich aufgehört, Musik zu hören, was für mich ohnehin keinen großen Unterschied machte, weil ich Stille mag. Zu Hause höre ich normalerweise keine Musik.

Das klingt, als hättest du dich selbst unter Quarantäne gestellt.

Katarina Gryvul: Ja, ich war neugierig, wie sich das entwickeln würde. Ich wollte mich von der Welt um mich herum abkapseln, um in die Platte einzutauchen. Schließlich braucht man keine Worte, um Musik zu beschreiben. Als mich das Label bat, auf einige Details des Albums hinzuweisen, beschloss ich deswegen, ein kurzes Gedicht zu schreiben – es ist ursprünglich auf Ukrainisch, aber ich habe es ins Englische übersetzt:

when the world accidentally
runs out of blood
out of our bodies will grow
tulip stems
viscous
you hear the silence cracking under your steps
like thin ice
sudden winter
words with flat feet
flexible lips
birds like black dots
cutting through
the confined space
and you cannot move
can not m…  

Es fängt den Moment der Stille ein, den du mit der Platte vermittelst.

Katarina Gryvul: Ja, dabei mag ich den Kontrast zwischen Stille und Lärm. Es gibt verschiedene Klangfarben, die unterschiedliche Bedeutungen vermitteln können. Deshalb gehe ich beim Abmischen sehr sorgfältig vor.

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Du bist klassisch ausgebildet, mit “Tysha” hast du dich aber in den Bereich der elektronischen Musik vorgetastet.

Katarina Gryvul: Ich bin 2018 zur elektronischen Musik gekommen. Das passierte rein zufällig. Ein polnisches Label bat mich, etwas Elektronisches zu produzieren – ich brauchte diesen Anstoß von außen, um mich in diesen Bereich vorzutrauen. Deshalb kann ich auch sagen: Die Inspiration kommt immer von der Deadline. Wenn ich keine habe, kann ich ewig an einem Song arbeiten.

Magst du es, zu prokrastinieren?

Katarina Gryvul: Oh, sehr gerne! Deshalb muss ich mir selbst Fristen setzen, um etwas fertig zu bekommen. Das Gleiche gilt für den Umgang mit Auftritten. Das Wertvollste, was dir ein Mensch geben kann, ist seine Zeit. Wenn ich ein Konzert gebe, muss es perfekt sein, denn die Leute kommen, um mich zu sehen und verbringen ihre Zeit mit meiner Musik. Deshalb gebe ich mir große Mühe, dass es anständig funktioniert.

Es gibt also eine Art perfektionistisches Element in deiner Musik?

Katarina Gryvul: In meiner gesamten musikalischen Laufbahn, vom vierten Lebensjahr an bis heute, wurde ich darauf trainiert, das Maximum zu leisten. Das ist die klassische Welt, ganz sicher.

Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, mit mir zu sprechen, Katarina!

Christoph Benkeser

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