Das Grazer Hörfest 2010

Am 12. und 13. März fand das diesjährige Grazer Hörfest statt. Die Organisatoren des zweitägigen Festivals, Markus Krispel und Peter Jakober, bewiesen damit erneut nicht nur Mut, sondern auch Geschmack. Eine Nachbetrachtung von Clemens Marschall.

Das erste Hörfest war 2003, im Grazer Kulturhauptstadtjahr. Seither wird im Forum Stadtpark jährlich der Spagat zwischen Neuer Musik, Komposition, Improvisation, Rock, Performance und Literatur mittels eines angenehm undogmatischen Zugangs gemeistert. Dabei wurden im Laufe der Jahre Werke von Klaus Lang, Giacinto Scelsi, Bernhard Gander aufgeführt, aber zu Gast waren etwa auch Weasel Walter (Flying Luttenbachers), Slobodan Kajkut (The Striggles), Faust und FM Einheit (Einstürzende Neubauten). So unterschiedlich die einzelnen Festivals auch ausfallen, eins wird stets bemerkbar: Nämlich, dass die Trennung von U und E, wenn nicht überhaupt sinnfrei, dann zumindest obsolet ist. Darüber wird zwar gern und häufig palavert – die praktische Realisierung sieht dann doch meist anders aus: Oft wollen Organisatoren besetzte Räume gar nicht frei machen sondern in eingefahrenen Strukturen berechenbar bleiben, anderen gelingt es einfach nicht – anders beim Hörfest, wo solche Grenzen erst gar nicht zu existieren scheinen. Die Festivalmacher sind beileibe nicht grün hinter den Ohren, kennen ihr Metier und treten so im Laufe der Reihe auch gelegentlich selbst musikalisch in Erscheinung. Der Mut für Neues zeigt sich auch im Detail, etwa daran, dass das Design der Homepage und der Programmhefte sich von Jahr zu Jahr grundlegend ändert: Der Wandel als Konstante und Spannungsträger.

Am Freitag geht es pünktlich um 21 Uhr los: Der Aufführungsraum im Erdgeschoss ist sehr gut gefüllt, alle Sesseln sind besetzt, einzelne Zuhörer müssen ob des Besucherandrangs Stehplätze einnehmen. Das Publikum zeigt sich, dem Programm angemessen, gleichsam interessiert wie offen für Neues und nimmt gerne zwischen den institutionalisiert angestaubten Stühlen Platz.

Die Grazer Literatin und Komponistin Sophie Reyer eröffnet das Festival mit Taro, einem vierköpfigen Ensemble. Ihre messerscharfen, exakt pointierten Worte verweben sich improvisatorisch mit den um sie geschaffenen Klangwelten. Als das durchdringende Stück zu Ende geht, wendet das Publikum seine Aufmerksamkeit von 12 Uhr auf 3 Uhr, denn das Bühnenlicht vorne erlischt, am rechten Ende des Raumes gehen die Scheinwerfer an: Das Festivalkonzept sieht es vor, dass die drei Aufführungsorte im Raum – links, vorne, rechts – nach jeder Nummer wechseln. Diese innere Dekonstruktion eines typischen Konzertabends ermöglicht neue Hörerlebnisse: Kaum fühlt man sich auf sicherem Terrain, wird einem der Boden unter den Füßen weggezogen: ein neuer Künstler auf einer neuen Bühne, neue Eindrücke reißen den Zuhörer aus seiner Erwartungshaltung.

Was jetzt kommt, ist die extrem reduzierte und gleichsam harte Dreiercombo Ader Rebell, in der Markus Krispel Bass spielt. Über die zähe Instrumentalmasse aus Gitarre, Schlagzeug und Bass windet sich die beinahe opernhafte Stimme von Franz Cavagno. Seine Texte sind an die Wand projiziert und eröffnen in ihrer Klarheit gleich noch eine weitere Leseebene der Aufführung. Als Ader Rebell ihren ersten Song beendet haben, gehen am gegenüberliegenden Raumende – quasi auf 9 Uhr – die Lichter an und aus dunklen Silhouetten wird ein lebendiges Trio: Igor Gross und Matija Schellander (Metalycée) legen den instrumentalen Teppich für die Bernhard Lang-Komposition „ICHT II“, über die Gina Matiello ihre Stimme in Rekordgeschwindigkeit jagt. Der Stapel ihrer Textseiten lässt auf ein langes Stück schließen, doch als man die durchgenommenen Papierblätter nacheinander fliegen sieht, wird einem bewusst, wie viele Buchstaben und Wörter diese Frau in kürzester Zeit aufsaugen und fokussiert ausspucken kann.

So geht die Runde weiter, bis eine Pause die Zuschauer in den ersten Stock entlässt, wo man getränketechnisch versorgt wird und man, falls eine Art künstlerischer Unterzucker einsetzen sollte, die Dauer bis zu den nächsten Aufführungen mit Stefan Krebbers Installation „Weissagungen“ überbrücken kann.
Nach der Ruhezeit hält der österreichische Schriftsteller Ferdinand Schmatz eine Lesung, Nikola Djoric (Akkordeon) und Simon Sirec (Saxophon) interpretieren die Komposition „N + 1 Dimension“ von Wen Liu. Die beiden wirken perfekt aufeinander abgestimmt und führen das herausfordernde Stück in beeindruckender Exaktheit auf. Den ersten Abend beendet nun Thomas Lehn mit einer noisigen und doch sehr gefühlvollen Abhandlung des Synthesizers.
Im Anschluss lassen die Zuschauer ihre eben gewonnnen Eindrücke bei einem Getränk setzen, diskutieren sie durch und reden schon über den nächsten Tag, den zweiten Teil der Programmreihe.

Nach einer gesunden Runde Schlaf und Kontemplation finden sich die Interessierten frühabendlich wieder im Forum Stadtpark ein. Heute eröffnet die Grazer Combo Heifetz, die im Kern aus Arne Glöckner (Gitarre) und Patrik Wurzwallner (Schlagzeug) besteht, aber immer wieder durch Ausritte mit anderen Musikern aus den verschiedensten Richtungen überrascht. Ihr erstes Stück heißt „Luftzirkulation“: drei Gitarristen und ein Bassist knien am Boden vor laufenden Ventilatoren und lassen die Luftwatschen, die daraus unentwegt strömen, ihre Saiteninstrumente anstimmen. Ein meditatives Feedback-Ritual, bei dem einem die Knie der Interpreten leid tun: Nur einer legt sich einen Polster unter, die anderen ziehen es auf die harte Tour durch. Die zweite Kreation von Heifetz an diesem Abend geht in eine ganz andere Richtung: Hier sitzt Wurzwallner hinter seinem minimal ausgerüsteten Schlagzeug, er und Glöckner holen miteinander aus und bescheren eine vertrackt-monotone Gitarre-Schlagzeug-Verzahnung. Als die anderen drei Musiker einsetzen, wird das Gerüst umgestülpt, die beiden Fraktionen arbeiten miteinander gegeneinander, entfernen sich und nähern sich einander wieder an, ähnlich wie zwei nebeneinander lautstark werkende Maschinen oder wie die in der Minimal Music typische Phasenverschiebung.

Später führen die zwei Querflötistinnen Petra Music und Doris Nicoletti „Mono – Dialogue for two flutists“ von Yukiko Watanabe auf. Darauf folgt Tiziana Bertoncini, die – zu Recht – auf minimale Beleuchtung besteht und dann mit Violine, Zuspielungen, ihrer flüsternden Stimme und diabolischer Mimik einige der durchdringendsten Momente des Festivals schafft. Sie weckt schizophrene Wahnzustände, wie es ein David Lynch-Film nicht besser könnte. Dass man Bertoncini an diesem Abend noch in anderen Konstellationen sehen wird, verheißt nur Gutes.

Nach einer kurzen Pause holt der letzte Block des Festivals mit Peter Jakobers Komposition „mehr, ein wenig“ noch einmal die Festivalorganisatoren an ihre Instrumente: Jakober tüftelt hinter seinem Laptop, Krispel wuchtet ein Orgelpfeife zum Mund und benutzt das Riesengerät, als wäre es eine kleine Flöte. Matthias Kranebitter und Goran Tudor verschränken dann noch in bisher ungehörter Weise ein wunderlich-geniales Midi-Orchester mit einem kräftig durchgeblasenen Saxophon. Krispels unaufdringliche Moderation erklärt daraufhin die Mission für heuer als erfolgreich abgeschlossen – blickt aber auch schon wieder freundlich dem nächsten Jahr entgegen.

Die couragierten Festivalorganisatoren und alle teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler können auf einen äußerst gelungenen, überraschenden und herausfordernden Grenzensprenger zurückblicken. Dieser Mut, der einen solchen Zugang und dann auch noch die tatsächliche Realisierung davon ermöglicht, trägt seine Früchte: Die Ö1-Sendung „Zeit-Ton“ wagte eine Live-Übertragung von Teilen des Programms. Und das in der Post-Nipplegate-Ära, wo doch sonst eine verzögerte Ausstrahlung fast schon zum guten Ton gehört. Nächstes Jahr gerne wieder. Sehr gerne sogar!

http://www.hoerfest.at/