„DAS ERZEUGT EINE EIGENE WUCHT“ – STEFAN FOIDL (GEGENSTIMMEN-CHOR-COACH) IM MICA-INTERVIEW

Seit nunmehr bald 30 Jahren treffen sich Donnerstag für Donnerstag etwa 50 Frauen und Männer, um als Chorvereinigung GEGENSTIMMEN gemeinsam zu singen und damit ihrer Gesinnung Ausdruck zu verleihen. Ihr Repertoire umfasst klassische Arbeiterlieder, Weltmusik, eigene Programme, Jazziges, Klassisches und Zeitgenössisches. „Unsere 20 schönsten ZahntechnikerInnenlieder“ sind die aktuelle, radikale Innensicht der GEGENSTIMMEN, die gleichzeitig auch viel über unsere Gesellschaft aussagt. Die einzelnen Chormitglieder wurden anonym via E-Mail-Umfrage um knappe Statements auf die Fragen „Wie geht es mir gerade?“ und „Wovor habe ich Angst?“ gebeten. Isabella Klebinger und Michael Franz Woels stellten dem GEGENSTIMMEN-Chor-Coach STEFAN FOIDL weitere Fragen …

„mir ist jetzt und ziemlich oft jazzig und gut zumut: weg mit den sorgen! keine angst, dass die erdanziehung ihre kraft verliert, nur weil die welt sich in die falsche richtung dreht!“
Textzitat aus „Unsere 20 schönsten ZahntechnikerInnenlieder“

Gegenstimmen: Wovor hast du jetzt gerade am meisten Angst? (c) Birgit Kellner
Gegenstimmen: Wovor hast du jetzt gerade am meisten Angst? (c) Birgit Kellner

Ende der 1980er Jahre ist die Chorvereinigung Gegenstimmen aus der Zusammenführung des Lerchenfelder Politchores und den sogenannten Rotkehlchen entstanden. Gründungschorleiter 1989 war Franz Ruttner, weitere Chorleiterinnen und -leiter anfänglich Yvonne Fink und Benno Sterzer …

Stefan Foidl: Das war natürlich alles Jahrzehnte vor meiner Tätigkeit. Ich kenne das auch nur aus Erzählungen oder der Biografie des Chores. Die Vereinigung kam aus zwei politisch linken Basis-Chören hervor. Die Gegenstimmen definieren sich als linker Chor. Es geht um einen Widerstand gegen Rechtsruck-Tendenzen – gerade zur Zeit ist es wichtig, auf diese Entwicklungen hinzuweisen, sie eben musikalisch im Konzert- und Chorleben aufzuarbeiten. Der Chor pflegt zum Beispiel bis heute sehr gerne die Literatur des österreichischen Komponisten Hanns Eisler, einem Weggefährten von Bertolt Brecht. Ein aus meiner Sicht sehr wichtiges Stück der Gegenstimmen beruht auf einem Text von Heinz Rudolf Unger, der 2018 verstorben ist. „Weckt nicht den kleinen Faschisten in mir“, vertont von Erke Duit, wo es heißt: „Kältere Zeiten stehen jetzt vor der Tür, Massen von Leuten, sie sind nicht von hier, ich sehe sie in Mengen da draußen sich sammeln, muss die Fenster verhängen, die Türen verrammeln. Verhängt alle Fenster, verrammelt die Tür und weckt nicht den Kleinen! Weckt nicht den Kleinen! Weckt nicht den kleinen … Faschisten in mir.“ Das finde ich zeitlos. Geschrieben hat das Heinz Rudolf Unger unter der Regierung Schwarz-Blau I um 2000 herum. Es ist grundmenschlich gültig und muss zur Bewusstmachung immer wieder vergegenwärtigt werden.

„ICH MÖCHTE GRUPPEN VON MENSCHEN DAZU ANLEITEN, ÜBER SICH ZU ERZÄHLEN“

Wie lange sind Sie schon bei den Gegenstimmen?

Stefan Foidl: Die Gegenstimmen betreue ich seit 2013 als Nachfolger von Erke Duit, der neunzehn Jahre lang dabei war.

Was hat Sie damals an dieser Aufgabe gereizt?

Stefan Foidl: Ich habe zwei Aufführungen von Erke Duit mit den Gegenstimmen gesehen. Vor allem die letzte Produktion von Erke Duit im Theater Akzent mit dem Namen „GEMMADANN“ hat mich dabei sehr beeindruckt. Dank der Regie von Alfred Komarek wurden die Chor-Menschen auf der Bühne in sehr stimmiger Art und Weise zur Musik bewegt. Mich interessieren Chöre, bei denen der Inhalt des Gesangs von der Gruppe selber erarbeitet und vertextet wird und Kompositionsaufträge vergeben werden. Auf der Bühne wird gesungen, was die Menschen im Chor bewegt und sonst nirgendwo zu hören ist. Ich möchte davon wegkommen, dass man Noten in einem Musikgeschäft kauft, die es womöglich bereits seit Jahrhunderten zu erstehen gibt. Ich möchte Gruppen von Menschen dazu anleiten, dass sie über sich erzählen.

Dieser Aspekt kommt zum Beispiel sehr schön im Song „Es mocht mi haas“ von der Chor-Sängerin Martina Knopp aus dem letztjährigen Programm „Es brennt a Welt“ zur Geltung.

Stefan Foidl: Ich möchte, was die Literatur betrifft, eben wegkommen vom musealen Chor-Betrieb und „ins Zeitgenössische gehen“, was auch immer das heißen kann.

 

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„ICH BIN DA ALS MUSIKER DER ASSISTENT, DER MUSIKALISCHE COACH.“

Was waren wichtige Auftritte im politischen Kontext?

Stefan Foidl: Das war 2014 die Musikgestaltung bei der Eröffnung des Deserteurs-Denkmals am Ballhausplatz, sowie bei der Eröffnung des „Platz der Menschenrechte“. Dann 2015 Auftritte bei der Auschwitz-Gedenkfeier am Heldenplatz, der Gedenkfeier „Was sie unterließ, haben wir getan“ am Morzin-Platz oder zur Eröffnung der Großdemo „Voices for Refugees“ am Christian-Broda-Platz.

Zum Thema Bewusstmachung. Wie sehr kann ein Chor zum Beispiel basisdemokratische Prozesse vorleben?

Stefan Foidl: Es wird viel diskutiert, das stimmt. Und es wird immer wieder abgestimmt, aber nicht basisdemokratisch, sondern nach dem Mehrheitsprinzip. Das muss man als Chormitglied akzeptieren, das Diskutieren kann im Chor durchaus konfliktreich sein. Der Prozess der Meinungsfindung, des Informationsaustausches ist sehr wichtig. Es geht um das Zuhören. Und es macht einen Unterschied, ob ich vorher meine Meinung, meine (Gegen-)Stimme kundgeben durfte, egal ob sie nun positiv berücksichtigt wurde oder nicht. Ich glaube auch, dass man sich leichter tut, Dinge zu akzeptieren, wenn man die Möglichkeit hatte, mitzugestalten. Es ist bei einer Choraufführung spürbar, wenn alle, die auf der Bühne stehen, inhaltlich zu dem, was auf der Bühne gesungen wird, ihre Meinung dazu davor offen dargelegt haben. Das erzeugt eine eigene Wucht.

Wie würden Sie Ihre Rolle in diesem doch sehr speziellen Chor-Gefüge genau beschreiben?

Stefan Foidl: Bei den Gegenstimmen bin ich nicht in dem Umfang mitgestaltend, wie bei anderen Chorprojekten. Das System Gegenstimmen gibt es ja nun schon über Jahrzehnte. Ich bin derjenige, der dem Chor hilft, die Chor-eigenen Ideen umzusetzen und auf die Bühne zu bringen. Als Musiker fungiere ich als ein Assistent, ein musikalischer Coach. Aus gewissen Prozessen halte ich mich bewusst heraus und warte Ergebnisse von Programmgruppen im Chor ab. Es war für mich ein ganz eigener Prozess, meine Rolle zu verstehen. Ursprünglich bin ich ja mit der Einstellung zu den Gegenstimmen gekommen, nach meinen Ideen einen politischen Konzertchor zu gestalten. Das Konzept war allerdings schon entwickelt und der Chor war „über weite Strecken“ selbst kreativ.

Sie sind ja auch Chorleiter des Wiener Beschwerdechors. Wo sehen Sie Unterschiede zu den Gegenstimmen – auch bezüglich der Altersstruktur?

Stefan Foidl: Ich habe immer das Gefühl, dass der Kern von Chören im Laufe der Jahre älter wird. Die Gegenstimmen gibt es doch schon erheblich länger als den Wiener Beschwerdechor. Daher glaube ich auch, dass das Durchschnittsalter dort höher ist. Der Wiener Beschwerdechor, von der Anzahl der Mitglieder her fast doppelt so groß wie die Gegenstimmen, begann vor neun Jahren. Letztendlich sind der Künstler Oliver Hangl und meine Person für die Leitung verantwortlich, wir beide gestalten den Chor künstlerisch und musikalisch aus. Thematisch geht es vor allem um die Stadt Wien. Ein Stadt-Chor als Sprachrohr der Wiener Bevölkerung sammelt Gedanken und Beschwerden, um die Unzufriedenheit, das bekannte Raunzen der Wienerinnen und Wiener zu vertexten und zu vertonen. Es geht sehr viel auch um den öffentlichen Raum, um Öffentlichkeit und darum, der Bevölkerung diese Ideen wiederzugeben. Wir wollen ihnen einen Spiegel entgegenhalten, um damit einen Bewusstseinsprozess anzukurbeln und die negative Energie des problemzentrierten Raunzens in eine lösungsorientierte Richtung überführen.

„EINE PÄDAGOGISCH KORREKTE ANTWORT WÄRE ZU SAGEN: JEDER MENSCH KANN SINGEN“

Wie sieht eigentlich die Zusammensetzung der Gegenstimmen bezüglich Frauen und Männern respektive Profis und Laien aus?

Stefan Foidl: Laut unserem Programmheft zu „Unsere 20 schönsten ZahntechnikerInnenlieder“ besteht er aus 67 Prozent Frauen und 33 Prozent Männern. Was den musikalischen Ausbildungshintergrund der Mitglieder betrifft, so gibt es keine Vorgaben oder einen Aufnahmetest. Es darf im Grunde jede und jeder mitmachen. Und eine pädagogisch korrekte Antwort wäre auch: Jeder Mensch kann singen. Es gibt eine Regelung, von der ich jedoch in meinen fünf Jahren beim Chor noch nie Gebrauch machen musste: Jede und jeder darf mitproben, der Chorprobenleiter hat allerdings die Möglichkeit, einzelne Sängerinnen und Sänger von Konzerten auszuschließen, wenn sie den Anforderungen stimmlich nicht gewachsen sind. Soweit ich weiß, ist das auch irgendwann vor meiner Mitwirkung schon einmal so passiert. Jedenfalls habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Publikum inhaltliche Botschaften eher annimmt, wenn die musikalische Qualität hoch ist.

Es gibt bei den Gegenstimmen scheinbar eine spezielle Kultur des Ausverhandelns, eine tiefere Verankerung im selbstverständlichen Sich-Gehör-Verschaffen.

Stefan Foidl: Diese Struktur und in der Folge Atmosphäre muss jede Chor-Sängerin, jeder Chor-Sänger akzeptieren. Bei den Gegenstimmen gibt es diskussionsintensive Prozesse, mit Konflikten versehene Diskussionen mit viel eingebrachter Persönlichkeit. Das gibt es bei einem Chor wie dem Wiener Beschwerdechor erstaunlicherweise wenig bis gar nicht. Er ist somit hierarchisch und strukturell anders aufgebaut als der Chor der Gegenstimmen. Ich stehe den beiden Systemen vom Künstlerischen her aber wertfrei gegenüber.

Bei den Gegenstimmen gibt es verschiedene Programmgruppen, ähnlich den Ausschüssen eines Parlaments. Ein langfristiges Programm spannt sich über drei bis vier Jahre, ein kurzfristiges ist eine Sache von einem Jahr. Was überorganisiert klingen könnte hat seinen Sinn: Es entsteht über die Jahre ein kontinuierlicher Produktionsfluss. Zum Beispiel war das bereits erwähnte, letztjährige Programm „Es brennt a Welt“ ein kurzfristiges Programm, das innerhalb von Monaten erstellt und innerhalb eines halben Jahres einstudiert wurde und eine Aufführungsphase ebenfalls von einem halben Jahr hatte. Währenddessen läuft aber bereits die Phase des drei- oder vier-jährigen Programmes, wie zum Beispiel bei den „ZahntechnikerInnenliedern“.

Gegenstimmen: Unsere 20 schönsten ZahntechnikerInnenlieder (c) Birgit Kellner
Gegenstimmen: Unsere 20 schönsten ZahntechnikerInnenlieder (c) Birgit Kellner

Die „20 schönsten ZahntechnikerInnenlieder“ waren programmatisch sehr aufwendig?

Stefan Foidl: Das Konzept wurde immer wieder vom Plenum des Chores reflektiert, der Text musste entstehen, Kompositionsaufträge erteilt werden. Die Dramaturgin Bettina Turi-Ostheim hat das Programm in einen spannenden Bogen gebracht und die Illustratorin Birgit Kellner hat die Grafik und die Visuals gestaltet. Und alleine das Einstudieren der Kompositionen hat ein volles Jahr gedauert. Es war ein riesiger Lernprozess für den Chor, weil das Einstudieren dieser Fülle von zeitgenössischer E-Musik von zum Beispiel Christoph Cech, Johanna Doderer, Elisabeth Flunger, Katharina Klement oder Pia Palme einen gewaltigen „Stretch“ für einen Laien-Chor bedeutete. Man geht an die Grenzen des Machbaren, es ist in manchen Details auch eine Überforderung, die von E-Musik-Komponistinnen und -Komponisten bewusst eingeschlagen wurde. Trotz meiner Bitte an die Komponistinnen und Komponisten, nur vierstimmig zu schreiben, gibt es nun auch zwölfstimmige Stücke. Wir haben sonst mit zeitgenössischer Tonsprache nicht in diesem Ausmaß zu tun, wir hatten sogar rein grafische Notationen als Vorgabe. Dieser Lernprozess hat uns sehr geformt und wir sind jetzt fit für zeitgenössische E-Musik. Ich habe auf der Agenda einer Generalversammlung die Frage gelesen: Wie nützen wir unsere gewonnene Qualität in E-Musik weiterhin?

Wo sehen Sie die politische Wirkkraft der Gegenstimmen – stellt der Chor so etwas wie eine Verkörperung von Aktivismus in der heimischen Musiklandschaft dar?

Stefan Foidl: Ein Chor ist das Zusammenkommen von Menschen, das Zum-Klingen-Bringen der Bevölkerung. Das spielte bereits in der griechischen Tragödie eine Rolle. Der Chor war die Stimme des Volkes, die immer wieder Dinge und Geschehnisse relativiert und aus dem Off oder von der Seite kommentiert hat. In dem Moment, wo Menschen zusammenkommen, um zu überlegen, was sie von der Bühne aus sagen und der Bevölkerung widerspiegeln wollen, in dem Moment wird es natürlich politisch: Singen im Sinne einer Überhöhung von Sprache zur Verdeutlichung oder Betonung von Gegenstimmen in einer Gesellschaft.

Vielen Dank für das Gespräch!

Isabella Klebinger und Michael Franz Woels

Links:
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