„Das Erleben gibt das Resultat vor“ – KUTIN|KINDLINGER im mica-Interview

Peter Kutin und Florian Kindlinger haben sich beim „Lehrgang für Computermusik und elektronische Medien“ (ELAK) an der UNIVERSITÄT FÜR MUSIK UND DARSTELLENDE KUNST kennengelernt. Seitdem waren sie in verschiedenen Formationen aktiv, haben gemeinsam für Theater, Film und Radio gearbeitet. Als kutin|kindlinger veröffentlichen sie mit der „Decomposition Series“ nun seit einiger Zeit Platten und Videoarbeiten, in denen sie sich den Randzonen des Akustischen widmen. Sie dringen dabei in klangliche Bereiche vor, die sonst verborgen bleiben würden, und hinterfragen die Relativität der menschlichen Wahrnehmung. Die Anwendung neuester Technologien ermöglicht es ihnen, die Grenzen unseres Hörens zu verschieben und uns in eine Sphäre der Hyperrealität zu katapultieren. Es sind die vielschichtige Stille der Wüste („I. Desert Sound“), die Raumwahrnehmung einer Gletscherspalte („II. E# from a glacial tune“), das Flirren elektro-magnetischer Felder („III. Illusion“) und – wie in ihrem neuesten Projekt – Mikrofrakturen eines Panzerglases („IV. Variations on bulletproof glass“), die zudem von einer Neugierde am elementaren, molekularen Hören sprechen. Shilla Strelka sprach mit den Musikern über ihre Expeditionen, die Faszination am Hören des Unbekannten und die ökologischen und gesellschaftspolitischen Implikationen ihrer Arbeit.

Gerade ist mit „Variations on bulletproof glass“ ein neuer Teil Ihrer „Decomposition Series“ erschienen. Eine Gemeinsamkeit der einzelnen Projekte liegt in der Anwendung fortschrittlichster Aufnahmetechnologie, um einen neuen Blick auf die Wirklichkeit zu ermöglichen. Wie kommen Sie zu Ihrem sehr speziellen Equipment, das ja nicht selbstverständlich im musikalischen Kontext Verwendung findet, und wo haben Sie den Umgang damit gelernt?

Florian Kindlinger: Die Arbeit mit den unterschiedlichen Aufnahme- und Mikrofontechniken ist ein sehr wichtiger Teil unseres Instrumentariums. Da schaut man, dass man dazulernt und sich weiterentwickelt. Wir sind beide in einem klanglich sehr breit gefächerten Bereich unterwegs, auch bei Film, Hörspiel und im Theater tätig. In diesen verschiedenen Genres arbeitet man klanglich jeweils unterschiedlich, sowohl was den technischen, als auch was den ästhetischen Aspekt betrifft. Natürlich ergeben sich immer wieder Situationen, in denen man etwas Neues sieht und dann überlegt, ob das nicht musikalisch auch in einem anderen Kontext Sinn machen könnte. Ich würde sagen, dass unser Zugang und das Interesse vor allem im Experiment mit der Technik liegen, im unorthodoxen Gebrauch, wenn man so will. Wir loten gern die Grenzen aus. Es ist niemals allein das Equipment, sondern das Zusammenspiel mit dem Material, das dann wieder einen neuen, eigenwilligen musikalischen Content generiert.

Gehen Sie von den technischen Möglichkeiten aus, um von da weg das Projekt zu entwickeln?

Peter Kutin: Ich denke, das ist in der experimentellen Musik, die sich auch durch einen Laborcharakter kennzeichnet, immer schon so gewesen. Ingenieurinnen und Ingenieure sowie Softwareentwicklerinnen und -entwickler sind im Prinzip die Erfinderinnen und Erfinder der modernen Instrumente und für die Musikerinnen und Musiker daher ein immens wichtiger Bestandteil in den Arbeitsprozessen. Als Künstlerin bzw. Künstler hat man manchmal das Privileg, eine technische Errungenschaft losgelöst von ihrer kommerziellen Ausrichtung zu betrachten und dadurch eine Zweckentfremdung zu vollführen.

In unserem letzten Projekt „Variations on bulletproof glass“ haben wir akustische Mess-Sensorik verwendet, die normalerweise in der Automobilindustrie eingesetzt wird, um etwa bei Crash-Tests das Schwingungsverhalten innerhalb von Karosserien zu studieren. Es werden hier akustische Bereiche behandelt, die für die Musikindustrie nicht von Interesse sind und von ihr eigentlich ferngehalten werden. Da wollten wir ansetzen. Auf Anfrage haben wir recht mühelos solche Sensoren und Wandler als Leihgabe bekommen.

Als wir bei unserem ersten Projekt „Desert Sound“ die Leere der Wüste aufnehmen wollten, war das in dieser Form nur mit extrem rauscharmen Vorverstärkern möglich, die eigentlich nur Filmproduktionen zur Verfügung stehen – zumindest habe ich sie in der Form nie in Musikstudios gesehen. Wenn ich damals nicht einen Brotjob beim Film gehabt hätte, hätte ich diese Geräte also auch nicht so früh kennengelernt. Erst in den letzten paar Jahren, als das Arbeiten mit Field Recordings regelrecht zu boomen begonnen hat, sind nach und nach mehr Leute darauf umgestiegen und auch die Industrie hat nachgezogen. Filmton-Recording einzusetzen, also High-End-Technik, ist mittlerweile standardisierter und leistbarer geworden. Aber damals war es ein ziemlicher Kraftakt, das nötige Equipment – das ja mobil sein und ausschließlich über Akkus mit Strom versorgt werden musste – zusammenzusammeln.

„In der konzentrierten Stille vor Ort bekam das eine orchestrale Dimension.“

Florian Kindlinger: „Desert Sound“ war auch als Auftragsproduktion für den WDR3 auf ein abstraktes Hörspielformat ausgerichtet. Wir sind also nach Chile in die Wüste gefahren und haben uns die Frage gestellt, was man da eigentlich hört – an einem Ort, mit dem man primär Stille assoziiert. Das Radio ist nicht gerade das einfachste Medium für ein Konzept, das auf Stille aufbaut. Da ging es um das Ausloten der Möglichkeiten, etwas aus einem Umfeld zu destillieren, wo eigentlich nichts passiert. Man stellt dort auch nicht einfach Mikrofone in die Landschaft und bekommt dadurch tolle Aufnahmen. Die konzeptuelle Planung war in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Es hat sich während des Aufnahmeprozesses herauskristallisiert, dass verschiedenste Umweltfaktoren auf ganz unterschiedliche Art mit den Örtlichkeiten interagieren. Einerseits ist da natürlich der Wind, aber darüber hinaus gibt es auch extreme Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht, unter denen sich die Stoffe ausdehnen und wieder zusammenziehen. Die Stille der Wüste hat bei uns eine gewaltige Verschiebung in der Wahrnehmung von Relationen bewirkt. In einer verlassenen Mine haben wir etwa Salzkristalle aufgenommen, die am Abend durch die Abkühlung zu knacken begonnen haben. Im Prinzip ist das kaum wahrnehmbar. In der konzentrierten Stille vor Ort bekam das aber eine orchestrale Dimension. Aus diesen extremen Feinheiten entstehen in der Verstärkung spannende akustische Momente.

Man hat als Hörer bzw. Hörerin das Gefühl, dass die Atmosphäre des Ortes und dessen Intensität rekonstruiert werden. Ist die Stimmung dem Material inhärent oder wird diese erst durch das Arrangement evoziert?

Peter Kutin: Bei „Desert Sound“ kokettieren wir bewusst mit dieser Illusion, indem wir eine akustische Hyperrealität entstehen lassen. Das, was aufgezeichnet wird, ist um ein Vielfaches verstärkt. Es ist rein technisch um einiges lauter, als man es in der realen Akustik vorfindet. Da wir es im Titel benennen und mit kryptischen Angaben wie den genauen Koordinaten versehen, konfrontieren wir die Vorstellungskraft der Zuhörerinnen und Zuhörer. Das Stück hat ja, wie bis dato alle Teile der „Decomposition“-Serie, auch eine visuelle Ebene. Dabei entstehen die meisten Bilder im Kopf der Besucherinnen und Besucher. Es kommen letztendlich zwei Minuten bewegtes Bild und drei Standbilder vor. Der Rest ist Schwarzbild oder Dunkelheit. Diese wenigen Frames mit Bildinformation genügen, um das Publikum etwas sehr Bildhaftes und Intensives durchleben zu lassen.

„Wir effektieren nicht, sondern verschieben nur etwas im Spektrum.“

Field Recordings haben einen dokumentarischen Bezug. Es ist aber auch ein Vertrauensverhältnis, das man voraussetzt, weil eine Art von Zeugenschaft konstatiert wird, die nicht nachweisbar ist. Die Gerätschaft übersetzt einen Teil der Wirklichkeit, die uns nicht zugänglich ist.

Florian Kindlinger: Das Tolle an der Arbeit mit den verschiedenen Aufnahmetechniken ist, dass man gänzlich andere Aspekte der Wirklichkeit akustisch dokumentieren kann. Wie wir das jetzt im Stück oder auf der Platte hören, kann man so nicht erleben. Es sind fragmentarische Teile der Realität. Wir verwenden Hilfsmittel, Prothesen für die Ohren, und können ganz anders fokussieren. Das ist wie bei einem Blick durch die Lupe. Die Menschen tendieren dazu, ihre Wahrnehmung als das Maß aller Dinge zu betrachten. In Wirklichkeit ist das aber nur ein ganz kleiner Bruchteil dessen, was tatsächlich passiert. Alles, was jenseits unserer Wahrnehmung liegt, ist für die meisten ja nicht von Interesse. Dabei ist da ziemlich viel los und es ist ein Bestandteil unserer Welt. Wir finden es spannend, genau das zu beleuchten. Wir effektieren nicht, sondern verschieben nur etwas im Spektrum. Im Grunde genommen transponieren und transkribieren wir klangliche Aspekte unserer Realität, die einem sonst verschlossen blieben.

Bild Mikro Wüste
Bild (c) kutin I kindlinger

„Wenn man die Musik als akustische Gesellschaft sieht, dann arbeiten wir mit den Randgruppen.“

Peter Kutin: Es geht um die Randzonen, die man nicht hört oder nicht hören soll, obwohl sie eigentlich präsent sind. Das Wüstenprojekt wirkt sehr realistisch und sehr dogmatisch in dem, was man wahrnimmt, aber eigentlich ist dort ja niemand. Es ist wie mit der Frage, ob es denn ein Geräusch gibt, wenn im Wald ein Baum umfällt, aber niemand anwesend ist, der es hört. Die Atacama-Wüste erodiert und verfällt ja mehr oder minder unbeobachtet und vor allem unbelauscht. Diese Vorgänge sind nicht wirklich Bestandteil unserer Realität.

Bei den anderen Projekten ging es um Raumresonanzen, die akustisch stets unbewusst da sind, oder Elektrosmog, der sich in seiner urbanen Omnipräsenz in Echtzeit sonifizieren lässt („Illusion“). Das sind Dinge, die eine tatsächlich vorhandene, aber sich unserer Wahrnehmung entziehende Ebene der Realität darstellen. Ich vergleiche das gerne mit dem Bild einer einfachen Gesellschaftsform: Wenn man die Musik als akustische Gesellschaft sieht, dann arbeiten wir mit den Randgruppen. Man muss innerhalb der Gesellschaft schon bewusst einen Schritt setzen, um dort anzukommen.

Florian Kindlinger: Eine dahingehende Sensibilisierung ist auch wichtig. Wir leben rund um die Uhr in einer akustisch total verschmutzten Welt. Da wir unsere Ohren leider auch nicht so einfach verschließen können, kommt es zu einem gewaltigen Gewöhnungseffekt, der vieles kaschiert. Ich finde es spannend, an Orte zu gehen, wo aufs erste Hinhören nichts passiert, und dann zu versuchen, genauer in die Dinge hineinzuhören. Manchmal passiert da immer noch nichts, manchmal kristallisiert sich aber etwas extrem Spannendes heraus.

Was hat Sie selbst für dieses Hören sensibilisiert?

Florian Kindlinger: Ich glaube, wir halten viel zu viel für selbstverständlich, auch in unserer Wahrnehmung. Ich finde es mitunter immer wieder erschreckend, dass ich die Lautstärke in der Stadt gar nicht bemerke. Wenn du viel und bewusst mit Mikrofonen arbeitest und durch dieses hyperreale Close-up auf einmal anders fokussierst, wird dir die gewaltige akustische Wolke, in der wir uns da eigentlich befinden, überhaupt erst bewusst. Das verändert das Hören, wenn du merkst, was da alles im Verborgenen passiert. Da gibt es plötzlich Feinheiten, die unter anderem auch sehr musikalisch sind. Das hat mein Forscherinteresse geweckt.

Auch gesellschaftspolitische Themen werden in Ihren Projekten verhandelt. „Variations on bulletproof glass“ entfernt sich von den essayistischen Verfahren und geht in Richtung Clubmusik. Zersplitterndes Glas ist in den letzten Jahren in der progressiven Elektronik ja zu einem Signifikanten für politische Revolte geworden.

Peter Kutin: Das ist vermutlich der Zeitgeist. Wir lassen uns immer vom Material leiten. Alles, was hier klingt, wurde aus einer einzigen Quelle, einer 2-mal-3-Meter-Panzerglasscheibe, generiert. In unserem Fall ist die Referenz gleichzeitig das einzige zur Verfügung stehende Mittel oder Instrument. Das macht eine metaphorische Ebene auf: Das Geräusch einer Scheibe, die zu brechen droht, verweist klanglich auf die Schattenseiten unserer Gesellschaft in Zeiten der Digitalisierung. Die Scheibe lässt sich in diesem Zusammenhang als Screen oder Display verstehen. Das Ganze wird natürlich tricky, wenn man bedenkt, dass diese Scheibe nicht von selbst klingt. Bei allen anderen Projekten gab es einen klanglichen Prozess, den wir nicht beeinflussen konnten. Aber diese 400 Kilogramm Glas sind nichts weiter als eine tonlose Ansammlung von Materie. Sie bilden per se keinen Resonanzkörper. Es lag an uns, auf sie einzuwirken, um klangliche Resultate zu bekommen. Schläge haben etwas Perkussives, Grobes und Rohes. Da entwickeln sich in der Interaktion schnell Emotionen. Wenn man an die Quellen von Industrial-Musik denkt, ist das dann nicht so abwegig, dass hier neben den akustisch abstrakten Suspense-Landschaften auch etwas Rhythmisches und Harsches herausgekommen ist.

Außerdem war es mir wichtig, mit Erwartungshaltungen zu brechen, auch weil uns das für die „Decomposition“-Serie einen wichtigen Freiraum schafft. Man baut sich sonst unter Umständen ein stilistisches Gefängnis. Grundsätzlich bin ich schon gespannt auf die Reaktionen auf die Platte. Äußerlich sieht sie ja wieder gleich aus, musikalisch ist sie grundverschieden.

„Wichtig ist, dass uns das konkrete Ergebnis nicht klar ist.“

Ist diese Mischung aus Forschung, Experiment und Abstraktion in der Musik natürlich gewachsen?

Florian Kindlinger: Bei „Desert Sound“ war es so, dass wir in der Post-Produktion fast gar nicht in das Material eingegriffen haben. Bei so einer Arbeitsweise ist ein forschender Ansatz der logische Schluss. Wenn man sich zum Ziel gesetzt hat, keinen Einfluss auf das Material zu nehmen, muss man sehen, dass das, was man dokumentiert, für sich spricht. Die Handschrift liegt hier in der Aufnahme. Du versuchst also, Wege hin zu einem spannenden Ergebnis zu finden – und suchst nach der geeigneten Technik. Man ist immer am Hören und Probieren: Was hat Potenzial? Was fasziniert uns?

Peter Kutin: Wichtig ist, dass uns das konkrete Ergebnis nicht klar ist. Es existiert aber eine Vorahnung und ein Gespür für das, was möglich sein könnte. Diese Vorahnung zu erzeugen, ist vielleicht der springende Punkt. Damit das alles klappt und übersichtlich bleibt, brauchen wir einen Rahmen, in dem ganz klar vorgegeben ist, womit wir arbeiten wollen und dürfen. Wir beschränken und ökonomisieren die zur Verfügung stehenden Mittel. Dann gehen wir in diesen Rahmen hinein und versuchen, ein stimmiges Bild zu „malen“.

Neben dieser künstlerischen Ebene haftet unseren Projekten aber auch immer etwas Wissenschaftliches, Ethnografisches an. Du könntest alle Stationen der ersten drei Projekte genau anfahren und fünfzig Jahre später wieder mit derselben Technik aufzeichnen. Wir haben alles penibel notiert und frei zur Verfügung gestellt. Du könntest auch in die Gletscherspalte steigen, die sich mittlerweile verformt hat. Vielleicht ist sie aber auch schon verschwunden.

Das Projekt, auf das Sie anspielen, nennt sich „E# – from a glacial tune“. Sie sind für das Projekt in eine Gletscherspalte gestiegen und haben dort die Anordnung von Alvin Luciers „I Am Sitting in a Room“ wiederholt. Wie kommt man auf so eine Idee?

Peter Kutin: Ich bin in der Zeitung auf eine Geschichte gestoßen, in der ein 72-jähriger Mann sechs Tage lang in einer Gletscherspalte festsaß und dort aufgrund des Schlafentzugs die ärgsten Halluzinationen hatte. Wir sind auf genau diesen Gletscher gestiegen. Lucier und sein Denken über Sound fand ich immer schon sehr faszinierend. In diesem Stück denkt er den Raum als etwas proportional Absolutes, Festes, Unverrückbares. In der Gletscherspalte war das Material der Wände aber Eis – es ist also viskos und folglich die ganze Zeit in Bewegung. Das heißt, dass du genau betrachtet keinen absoluten Raum mehr um dich hast, obwohl du dich wie in einem fühlst. Tatsächlich verändert er sich die ganze Zeit – der Gletscher fließt. Das Stück würde jedes Mal anders klingen, weil die Raumproportionen und damit einhergehend die Raumresonanzen, ständig variieren. Diesen Gedankengang und die Verbindung zu der wahren Begebenheit des alten Mannes, der so lange dort gesessen hatte, fand ich sehr ansprechend.

„Das Erleben gibt das Resultat vor oder prägt es unterbewusst mit.“

Sublime Sounds und eine Erfahrung des akustisch Erhabenen finden sich in der ganzen Serie wieder. Das hat auch mit der teils extremen Aufnahmesituation zu tun, der Sie sich aussetzen. Stoßen Sie da manchmal an Ihre Grenzen – oder ist Ihnen das sogar wichtig?

Peter Kutin: Vielleicht hat das mit dem experimentellen Ansatz an sich zu tun. Die psychologische Verfassung, in der man etwas erlebt, wirkt sich auch darauf aus, was man später künstlerisch damit macht. Deswegen ist es wichtig, das Material lange liegen zu lassen – um Abstand zu gewinnen, damit die Emotion nicht dominiert.

Florian Kindlinger: Ich finde es schön, weil es etwas von einer Expedition hat. Da steht ein ganz anderer Prozess dahinter, als wenn man ins Studio geht. Man ist unterwegs und gerät immer an etwas Neues. Es wird nie langweilig. Man ist da draußen, irgendwo, kommt zurück, beginnt zu sichten und hat auf einmal überraschendes und tolles Material. Diesen Prozess liebe ich. Auch weil der Ausgang eigentlich immer ungewiss ist, wenn man losgeht.

Peter Kutin: Bei den ersten zwei Projekten ging es stark darum, das Komponieren auf das Akzeptieren zu verlagern. Wenn du in der Wüste die Mikros aufbaust, dann willst du das auch nicht unbedingt ein zweites Mal machen, weil es total anstrengend ist. Das heißt, du wählst einen Prozess aus und nimmst zehn Minuten auf. In diesem Zeitraum sollten klanglich spannende Passagen dabei sein, weil du später nicht mehr viel hineinschneiden kannst. Du gestaltest den Verlauf nicht um, das ist der Moment, den du akzeptierst. In der Gletscherspalte haben wir eine gute Stunde bewegungslos gesessen, während es um uns herum immer lauter wurde und die Raumresonanzen zu klingen begonnen haben. Dieser Erfahrungswert war für uns wichtig, also ein ganzheitliches Erlebnis zu haben, in welchem sich das Klangliche auch körperlich manifestiert. Wir haben eine persönliche Beziehung zu einem musikalischen Ereignis. Vielleicht ist das auch eine Erklärung dafür, warum uns die Rhythmik beim letzten Projekt so wichtig war: Das Erleben gibt das Resultat vor oder prägt es unterbewusst mit.

In fast all Ihren Projekten hat der Sound etwas Bedrohliches, Körperliches, Taktiles. Er geht einen an. Egal ob es vertonter Elektrosmog ist, knackendes Panzerglas oder das monotone, im Kontext der Erzählung beängstigende Gegluckse des Gletschers. Es war für mich interessant zu beobachten, dass dieses molekulare Hören fast instinktiv beängstigend wirkt.

Peter Kutin: Natürlich schwingt da auch eine bewusste kompositorische Entscheidung mit. Die Themen haben ja oftmals – und vor allem beim aktuellen Projekt – eine gesellschaftspolitische Relevanz. Mit dieser soll man auch über eine klangliche Ebene konfrontiert werden.

Florian Kindlinger: Das kommt auch aus dem Kontext heraus. Es soll kein Easy Listening sein. Ich glaube, das Material transportiert schon immer eine gewisse Stimmung. Da wird etwas verhandelt. Was das genau ist, müssen alle für sich selbst entscheiden.

Wenn man aber an den Soundwalks von Christina Kubisch teilnimmt, dann fühlt sich das nicht bedrohlich an. Man entwickelt eher einen Forschungsdrang. Die Sounds wirken auf der Platte in diesem Kontext ganz anders, als wenn man sich mit den Mikrofonen oder Kopfhörern bewegt. Da erkundest du deine Umgebung. Du betrittst eine ganz andere Welt und bist ganz hin und weg, was da eigentlich los ist. Wenn man es auf der Platte oder im Film hört, merke ich schon, dass es auch einen bedrohlichen Duktus hat. Ich denke aber, das liegt an den Hörgewohnheiten, am Unbekannten. Natürlich ist das auch als Stilmittel bekannt. Das sind dann beispielsweise diese 50/60 Hertz Grundschwingungen, die in Filmen den typischen Bad-Feeling-Vibe erzeugen.

„Decomposition“, der Titel Ihrer Serie, kann ja sehr viel bedeuten.

Peter Kutin: Es geht um De-Komponieren, indem man Material oder Prozesse einsetzt, die üblicherweise nicht zum Generieren von Klängen verwendet werden oder an und für sich nichts mit Musik zu tun haben respektive damit assoziiert werden. Das gilt sowohl für die klassischen Field Recordings als auch für die Scheibe, die nicht von selbst klingt. Wenn man es direkt im Sinne des deutschen De-Komponierens versteht, hat es auch etwas mit Zerlegen zu tun. Die akustische Realität mithilfe von technischen Prothesen zu dekonstruieren, zu demaskieren, von ungewohnten Ausgangspunkten aus zu belauschen – das sind die Gedankenexperimente dahinter.

Herzlichen für das Gespräch!

Shilla Strelka

Links:
kutin I kindlingerkutin – decomposition-i-iv (Soundcloud)

Die „Decomposition Series I-IV“ sind auf dem Wiener Label „Ventil“ erschienen: http://ventil-records.com/