„DAS ALBUM IST EINE EINLADUNG, SICH AUF UNGEWISSHEIT EINZULASSEN UND ZUVERSICHT ZU TANKEN“ ‒ JUDITH FERSTL (JUNE IN OCTOBER) IM MICA- INTERVIEW

Es gibt zwei Monate, die für einen Album-Release dieser Band prädestiniert erscheinen: Juni oder Oktober. Es ist der Juni geworden … JUNE IN OCTOBER ist das Bandprojekt der versierten Kontrabassistin JUDITH FERSTL, die aktuell auch in Bands wie CHUFFDRONE, MERVE, CHRISTIAN MUTHSPIELS ORJAZZTRA oder der ORWA SALEH BAND ein basaler Bestandteil ist. Das Debut-Album „My Feet On Solid Ground“ (Session Work Records; VÖ. 4.6.) von JUNE IN OCTOBER besticht durch eine einprägsame, berührende Schlichtheit. Michael Franz Woels erzählte die Bandleaderin JUDITH FERSTL von Erinnerungen an ein Mittsommernachtsfest in Lettland, von der Sehnsucht nach Songs mit Lyrics und klaren Strukturen, und wie man auch ohne direkten Bodenkontakt den Boden nicht unter den Füßen verliert. 

Wie würdest du die Musik von June in October jemanden beschreiben, der eure Musik noch nicht gehört hat?

Judith Ferstl: Ich würde sagen wir spielen kammermusikalische Popsongs. Das Kammermusikalische steht für mich für die Interaktion, das gemeinsame Atmen, die Dynamik und natürlich auch für die drei Streichinstrumente Geige, Cello und Kontrabass. Spannend am Pop sind für mich die klaren, greifbaren Song-Strukturen und Lyrics. Unsere Musik hat für mich auch viel mit Jazz zu tun, der Musikrichtung von der ich hauptsächlich komme und die für mich so vieles beinhaltet. Genre-Bezeichnungen lösen ja oft festgefahrene Vorstellungen aus, davon will ich mich gerne lösen. Jazz steht für mich für eine Offenheit, den Wunsch immer wieder Neues zu formen und dem Moment Raum zu geben, für Kommunikation und Improvisation.

Wie habt ihr als Konstellation zusammengefunden?

Judith Ferstl: Gemeinsam mit Lucia (Leena, Anm.) hab ich 2014 das Duo Juneberry gegründet. Wir haben gemeinsam Songs geschrieben, um diese dann mit freier Improvisation zu verbinden. Als ich mich dann Jahre später in meinem Master-Studium an der mdw Wien, Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, im Rahmen der „Projektvariante” dazu entschieden habe, eine neue Band zu gründen, in der ich erstmals Bandleaderin sein wollte, kam mir gleich Lucia in den Sinn. Ich habe in dieser Zeit gemerkt, wie sehr ich mich danach sehne, Songs mit Lyrics und klaren Strukturen zu schreiben. Außerdem wollte ich etwas Neues probieren. Ich bin wirklich sehr froh in vielen verschiedenen Bands spielen zu können, die ich alle wahnsinnig schätze. Diese Band sollte aber in eine andere, für mich neue Richtung gehen. Ohne Schlagzeug, ohne Harmonie-Instrument. Ich glaube, ich wollte mich damals bewusst ins kalte Wasser schmeißen und mich auf die Suche nach neuen Herausforderungen machen.
Florian (Sighartner, Violinist, Anm.) kannte ich zu dieser Zeit schon länger und ich wollte endlich gerne mit ihm spielen. Immer wieder tauchte dann ein Cellist (Carles Muñoz Camarero, Anm.) an seiner Seite auf. Die beiden haben schon damals in einigen Projekten miteinander gespielt und musizieren so wunderbar miteinander! Bei einer gemeinsamen New York Reise mit Lucia hat sie sich ein Pocket Piano, einen kleinen analogen Synthesizer gekauft, den ich auch gerne einbinden wollte. Die Kombination aus drei Streichern, Stimme und Elektronik finde ich immer noch reizvoll.

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Wo kommt der Name June in October her?

Judith Ferstl: Vor vielen Jahren ist das Stück “Oktoberjuni” entstanden, dass wir für dieses Album neu arrangiert und aufgenommen haben. Ich habe das Stück an einem kalten, nassen Oktobertag geschrieben, an dem ich mir ein bisschen „Junisonne” herbeigewünscht habe. Nach der Matura habe ich ein Jahr in Lettland verbracht um dort einen Europäischen Freiwilligendienst zu machen. Die Erinnerung an das Mittsommernachtsfest Jāņi, das ich dort mitfeiern durfte, hat etwas sehr Wohliges in mir ausgelöst. Auf der Suche nach einem Bandnamen ist mir über unseren Duo-Namen Juneberry dann dieses Stück wieder eingefallen. Mir gefällt dieses Bild für unsere Band. Im Oktober kann auch mal Juni sein.

Hast du so etwas wie einen Lieblingsmonat?

Judith Ferstl: Nicht unbedingt, aber ich mag den Frühling sehr gerne! Wenn es warm, aber noch nicht zu heiß ist und immer wieder eine Art Aufbruchstimmung entsteht, die ich oft sehr genießen kann.

„ICH FÜHLE MICH ABER MIT LYRICS AUF ENGLISCH MOMENTAN WOHLER.“

Warum hast du dich für englische Texte entschieden?

Judith Ferstl: Das hat sich eher zufällig ergeben. Teilweise bringt Lucia Texte mit, ich habe mich auch erstmals selbst an Lyrics versucht oder auch Texte von Lucia nochmal anders angeordnet und so in eine Komposition von mir eingewoben. Deutsche Texte können für mich etwas sehr Poetisches haben, wenn sie gut geschrieben sind. Davor habe ich großen Respekt. Ich bin z.B. ein großer Fan von Violetta Parisini oder auch von Wir sind Helden. Ich selbst fühle mich aber mit Lyrics auf Englisch momentan wohler.

Was ist für dich das Spannende an dem Projekt June in October?

Judith Ferstl: So vieles! Die Menschen, mit denen ich hier Musik machen darf, schätze ich wirklich sehr. Ich habe in dieser Band ein Projekt gefunden, das mein Eigenes ist, sehr Persönliches von mir zeigt und gleichzeitig sind wir eine Band, die an einem gemeinsamen Sound und speziellen Klangfarben feilt. Ich habe in unserem letzten mica-Interview gesagt, dass jede Band für mich wie ein Forschungsprojekt ist. So geht es mir immer noch. Ich kann so viel über mich selbst entdecken und ausprobieren. Ich bin gespannt, wohin die Reise noch geht!

Bild Judith ferstl
Judith Ferstl (c) Alexander Gotter

Wo und wie findest du persönlich Gleichgewicht und Balance in unruhigen Zeiten?

Judith Ferstl: In unruhigen Zeiten kann es mir passieren, dass ich den Kontakt zu mir selbst verliere. Dann fühle ich mich getrieben und oft sogar wie ausgeliefert. Ich stürze mich von einem ins nächste ohne wirklich mitzubekommen wie es mir dabei geht. Ich habe vor allem in der letzten Zeit gelernt, mich selbst besser zu spüren und mehr für mich zu sorgen. Im ersten Lockdown habe ich es vor allem sehr genossen am Balkon Zeitung zu lesen und Tomaten zu pflanzen. Ich verbringe meine Zeit gerne auch alleine, es kann mir aber manchmal zu viel werden. Sobald ich dann in den Kontakt und Austausch mit anderen gehe, mit meinem Partner, Freunden und Freundinnen, geht es mir oft besser.

In welche Fußstapfen möchtest du einmal treten? Gibt es Bassistinnen, die für dich Vorbilder sind oder waren?

Judith Ferstl: In den letzten Jahren sind für mich vor allem Linda Oh und Ellen Andrea Wang große Vorbilder. Voriges Jahr habe ich die Band Punch Brothers entdeckt und bin begeistert vom Bandsound und ihren Songs und Arrangements. Da wird so intensiv und fein miteinander musiziert, das genieße ich sehr. Mit David Furrer, der das Recording und Mixing für das Album gemacht hat, haben wir uns vom Sound für “My Feet on Solid Ground” stark an dem Album “All Ashore” der Punch Brothers orientiert. Der Mixing-Prozess war spannend, da habe ich sehr viel dazugelernt.

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„ICH HABE BEWUSST ABSTAND DAVON GENOMMEN, GLEICH BESONDERS KREATIV SEIN ZU MÜSSEN.“

Wie hast du versucht, die Zeit ohne Live-Auftritte zu überbrücken? Wie viele Tage im Jahr bist du eigentlich vor der Pandemie auf einer Bühne gestanden?

Judith Ferstl: Nach dem allerersten Schock habe ich die erste Zeit doch auch sehr genossen. Es hat mir gutgetan, eine Auszeit zu nehmen, mehr Ruhe in den Alltag zu bringen, mehr zu lesen, spazieren zu gehen, mich neu zu ordnen. Ich habe bewusst versucht Abstand davon zu nehmen, gleich besonders kreativ sein zu müssen. Dann war es umso schöner zu merken, dass aus dieser Ruhe bald doch schon wie von selbst neue Ideen und kreative Impulse entstanden sind. Das hat sehr gutgetan und mir viel Energie gegeben. Ich habe in den letzten Monaten viel komponiert, vor allem für ein neues Projekt namens MERVE. Außerdem hat die Album-Produktion sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Es war schön, dem auch genügend Platz geben zu können.
Vor der Pandemie waren es schon so an die 50-60 Konzerte im Jahr, mit unterschiedlichsten Bands. Das fehlt mir schon sehr. Ich freue mich wirklich sehr darauf, wenn der Konzertbetrieb wieder richtig anläuft und auch Stehkonzerte und eine weniger gehemmte Stimmung möglich sein werden.

June In October
June In October (c) Georg Buxhofer

Was waren und sind für dich als Musikerin die zentralsten Erkenntnisse durch die (kulturellen) Einschränkungen während der Pandemie?

Judith Ferstl: Ich habe vor allem gemerkt, wie sehr mir meine lieben Kolleginnen und Kollegen und das gemeinsame Musikmachen fehlen. Ich probe wirklich sehr gerne. Mir fehlt die Kommunikation und Interaktion mit anderen, das gemeinsame Arbeiten und Ausprobieren ‒ eine für mich wirklich wichtige Inspirationsquelle, die wieder genährt werden möchte.
Ich denke, ich kann auch einiges Positives aus dieser Zeit mitnehmen. Jeder Mensch auf dieser Welt war in irgendeiner Weise mit dieser Pandemie konfrontiert. Das wird unsere Gesellschaft verändern. Ich erinnere mich noch sehr stark an das Gefühl in den ersten Proben nach dem ersten Lockdown, oder auch in einem Streaming-Konzert, das ich als Kuratorin live vor Ort mit anhören konnte. Es ist einfach etwas anderes, wenn Schwingungen in einem Raum direkt auf uns treffen als nur über einen Bildschirm. Es war schön das neu erleben und wieder entdecken zu können. Ich hoffe, es wird uns bleiben, dass wir vieles wieder mehr schätzen und genießen können.

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„STATT EINEM TIEFEN ABGRUND FINDET SICH ABER SEHR NAH DARUNTER SCHON EINE WEICHE FLÄCHE, DIE EINEN AUFFÄNGT.“

Das Debut-Album „My Feet On Solid Ground“ erzählt von persönlichen Themen der letzten Jahre. War das Album eine Möglichkeit, diese zu verarbeiten?

Judith Ferstl: In den letzten Jahren habe ich begonnen, mich mit verschiedensten Themen zu beschäftigen, die mich auch weiterhin begleiten werden. Immer wieder ist da die Suche nach einem Boden unter den Füßen aufgetaucht.
Es passiert mir immer wieder, dass vor allem die Sorge der Ungewissheit und Unsicherheit noch viel größer scheint, als sie manchmal wirklich ist. Ich will mich gerne festhalten, um mich sicher zu fühlen. Immer öfter merke ich mittlerweile, dass ich loslassen kann, ohne gleich tief zu fallen. Unser Album Cover beschreibt dieses Gefühl für mich sehr gut. Die Füße (bzw. Schuhe in diesem Fall), hängen frei in der Luft. Statt einem tiefen Abgrund findet sich aber sehr nah darunter schon eine weiche Fläche, die einen auffängt. Ich brauche den direkten Bodenkontakt nicht unbedingt, um den Boden unter mir spüren zu können. Dieses Bild beruhigt mich selbst sehr. Ich hoffe ich kann mit meiner Musik Gedanken wie diese auch bei anderen anstoßen. Das Album ist eine Einladung, sich auf Ungewissheit einzulassen und Zuversicht zu tanken.

Herzlichen Dank für das Interview!

Michael Franz Woels

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Termine:
13.6.2021  Album Release Konzert, Porgy & Bess

14.6.2021 Judith Ferstl & Jul Dillier, Strenge Kammer, Porgy & Bess

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Links: 

Judith Ferstl / June in October
June in October (Facebook)
Judith Ferstl (mica-Datenbank)
Session Work Records