Die Natur ist auf vielfältige Weise in der Musik präsent. Komponistinnen und Komponisten lassen sich von ihr inspirieren, nutzen Naturklänge in ihren Kompositionen oder stellen abstrakte Verbindungen zur Natur her. Die Klänge der Natur stellen ein spannendes Forschungsfeld dar, dem sich der US-amerikanische Musiker Bernie Krause ausgiebig gewidmet hat. Im Rahmen des Projekts „Crossways in Contemporary Music“ begab sich Michael Franz Woels auf die Suche nach österreichischen bzw. in Österreich lebenden Komponistinnen und Komponisten, die einen individuellen Zugang zur Natur in ihrer Musik herstellen.
Der erste Part der Artikelserie fokussiert sich auf das Thema der Bioakustik, deren Verbindung zur Neuen Musik und wie sie von den Komponistinnen und Komponisten Natalia Domínguez Rangel, Hannes Dufek, Pia Palme, Klaus Lang, Peter Ablinger, Elisabeth Harnik, Peter Jakober, Julia Purgina und Sebastian Frisch umgesetzt wird.
Die bioakustische Analyse von Klanglandschaften als Disziplin ist rund vierzig Jahre alt. Als einer ihrer Pioniere gilt der Musiker und Naturforscher Bernie Krause. Auf seinen Forschungsreisen rund um die Welt hat er 15 000 Arten und über 4 000 Stunden verschiedener Soundscapes von unterschiedlichsten Habitaten dokumentiert. Erschreckend: Die Hälfte dieser Klang-Habitate existiert heute nicht mehr. Dem Ursprung der Musik in der Natur versucht Bernie Krause in seinem Buch „Das große Orchester der Tiere“, das 2012 unter dem Titel „The Great Animal Orchestra“ erstmals in den USA veröffentlicht wurde, auf die Spur zu kommen. Dabei findet er Kategorien, wie wir die uns umgebenden Klänge und Geräusche einordnen können. „Die Geräusche der Geophonie waren die ersten Laute auf unserem Planeten – das Element der Klanglandschaft, vor dessen Hintergrund sich alle Tierstimmen und sogar bedeutende Aspekte der Klangkultur des Menschen bildeten.“
Am Anfang war das Wasser
„Als Leben entstand und sich über Millionen von Jahren einfache Organismen zu komplexeren und stimmfähigen Geschöpfen entwickelten, veränderten sich die Klanglandschaften. Da das Leben im Wasser entstand, muss der durch dieses Instrument erzeugte Klang der erste gewesen sein, den jeder sich bildende reaktionsfähige Organismus vernahm.“
Geophonien, die natürlichen Geräusche von nichtbiologischen Elementen wie Wind, Wasser oder Erdbewegungen wurden so kontinuierlich durch Biophonien, die Laute von lebenden Organismen erweitert. Dabei ist Bernie Krause auf seinen Reisen in etliche Wildnisgebiete auf ein interessantes Phänomen gestoßen. Seit den 1980er Jahren bezeichnet er dieses Phänomen als sogenannte Nischen-Hypothese. „Wenn sich Tiere verschiedener Arten über einen langen Zeitraum gemeinsam entwickelt haben, wird jede akustische Frequenz und jede Zeitnische durch eine bestimmte Art geprägt. In vielen Habitaten haben sich die Tierstimmen so entwickelt, dass sie die akustische Domäne anderer nicht stören.“
Die verlorenen Klänge
Als Anthropophonien bezeichnet der Bio-Akustiker der ersten Stunde schließlich alle menschengemachten Klänge und Geräusche. Ihm fällt im Zuge seiner Beschäftigung mit den Klängen und Geräuschen in der Wildnis auf: „Untersuchungen über Naturgeräusche und ihr Zusammenhang mit menschlichen Ausdrucksformen in der Musik haben jedoch nach wie vor Seltenheitswert.“ Und was er am Ende seines Buches dann nochmal zutiefst bedauert, sollte uns mehr als nur zu denken geben. „Da wir den natürlichen Klanglandschaften bis vor gar nicht langer Zeit keine Aufmerksamkeit geschenkt haben, sind uns aufschlussreiche biophonische Daten entgangen, die für den Umgang mit unseren Ressourcen hätten nützlich sein können, uns umfassendere Kenntnisse über die komplexe Rolle jeder einzelnen Stimme im gesamten akustischen Mix verschafft hätten, über die bioakustischen Folgen der Erderwärmung für die Artenvielfalt und -dichte und darüber, wie Klanglandschaften unsere Psyche, Physis und Kultur prägen.“
Natur in der Neuen Musik
Vor etwa 16 000 Jahren, gegen Ende der letzten Kaltzeit, hatte die Erde die größte (natürliche) Klang- und Geräuschdiversität. Nun werden diese Geo- und Biophonien sukzessive von Anthropophonien abgelöst: die natürlichen Klänge müssen den von menschlicher Hand erzeugten weichen. Und obwohl angeblich manche Menschen sogar die Erdrotation wahrnehmen und hören können, werden doch die meisten Menschen auf der Suche nach außergewöhnlichen Hörerlebnissen vor allem bei Kompositionen im Bereich der sogenannten Neuen Musik fündig. Ein musikästhetischer Terminus, der als konstitutiver Reflexionsbegriff für zeitgenössische, gegenwärtige, posttonale und aktuellste Musik angewendet werden kann. Um das aktuelle Verhältnis von Neuer Musik zum Thema Natur ansatzweise zu ergründen, wurden österreichische oder in Österreich lebende Komponistinnen und Komponisten gebeten, in ihren eigenen Worten ihre Praxis und ihren Bezug zu Natur zu erläutern.
In den kommenden Wochen werden Komponistinnen und Komponisten und ihr individueller Zugang zur Natur im Rahmen der Artikelserie „Crossways in Contemporary Music“ an dieser Stelle vorgestellt und präsentiert.
„Ich denke es ist wichtig, dass wir uns unserer eigenen akustischen Umgebung bewusst sind. Sie spricht ständig zu uns. Wir verkörpern sie. Wir sollten zuhören“, so die eindringlichen Worte der in Wien lebenden Klangkünstlerin und Komponistin Natalia Domínguez Rangel.
Im Juni diesen Jahres präsentierte sie im Rahmen der Reihe SWEET SPOT ihre Klangintervention „Anamnesis“. Das Thema der diesjährigen Ausschreibung von SWEET SPOT war BIOTOP. Unter allen Einreichungen wählte das Studio für Elektroakustische Musik (SEM) an der Universität Mozarteum Salzburg fünf Klangkünstlerinnen und -künstler für ortspezifische Arbeiten aus. „Anamnesis“ wurde in der Gartenarchitektur der Orangerie im Mirabellgarten in Salzburg präsentiert.
Exotische Fruchtbarkeit
Diese Klangcollage besteht aus Feldaufnahmen im Orangerie-Garten bei Sonnenaufgang, Sonnenuntergang und bei Nacht, die mit Field Recordings aus ihrem Archiv, mit Sounds aus dem Amazonasgebiet – sie repräsentieren die Exotik der Orangerie des Schlosses Mirabell – verwoben wurden. Die schwebende Papagena-Sopranstimme, die Texte aus der Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart anstimmt, nimmt Bezug auf das Herzstück des Gartens, den Papagenabrunnen mit seiner Fruchtbarkeitssymbolik. Der Titel „Anamnesis“ wurde von Natalia Domínguez Rangel gewählt, da der Begriff Anamnesis vom Centre for Research on Sonic Spaces and Urban Environment (CRESSON) für die evokative Kraft von Klängen steht, die plötzlich Erinnerungen wieder wachrufen kann.
Klangresonanzen
Dieses Jahr arbeitet Natalia Domínguez Rangel anlassbezogen am Projekt „Connecting Acoustic Spaces“: „Ich gehe darauf ein, wie Klang einen Körper physiologisch und psychologisch beeinflusst und mit ihm in Resonanz tritt, und wie kritisches Zuhören Verbindungen zu anderen akustischen Ökologien, nicht nur zur Anthropophonie [alle menschengemachten Klänge und Geräusche, Anm.] vertiefen, erweitern und herstellen kann. Ich beschäftige mich mit der Art und Weise, wie wir zuhören und unsere Umgebung interpretieren, besonders in dieser Zeit, in der wir eine globale Pandemie, partielle Lockdowns mit unterschiedlichen Zeiträumen, Intensitäten und Ergebnissen erleben. Während des ersten Lockdowns hatte sich unser urbanes, akustisches Umfeld radikal verändert. Ich habe in dieser Zeit Leute eingeladen, mir Audioaufnahmen ihrer akustischen Umgebungen zu schicken. Der Aufruf für die entstehende Klangskulptur „Connecting Acoustic Spaces“ geht aufgrund der anhaltenden Pandemie noch bis Ende des Jahres.“
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Links:
Natalia Domínguez Rangel
Natalia Domínguez Rangel im mica-Interview
Natalia Domínguez Rangel (music austria Datenbank)
„Weil wir Musik erfunden haben, sieht die Natur für uns musikalisch aus.“
Die Arbeiten des Komponisten, Improvisators und Organisators Hannes Dufek aus Wien reichen von Orchester-, Kammer- und Solowerken bis zu Musiktheater in verschiedenen Formen und umfassen freie Improvisation sowie verschiedene visuelle Darstellungen von Musik. Seine Gedanken zum Begriffspaar Neue Musik und Natur dienen hier als etwas ausführlicherer Einstieg in die Thematik: „Neue Musik und. Im Prinzip ist es gleichgültig, was auf der anderen Seite dieser Gleichung steht. Neue Musik ist zugleich offen, prinzipiell und nach allen Seiten, wie sie andererseits in vieler Hinsicht geschlossen ist. Und nicht über bestimmte Punkte hinauswachsen kann, ohne ihre Identität als Neue Musik, oder auch als geformter Klang, strukturiertes Geräusch, wie auch immer, (völlig) zu verlieren. Das ist zwar letzten Endes auch mehr eine akademische oder vielleicht philosophische Frage, birgt aber in sich dennoch wichtige Einsichten oder verweist auf möglicherweise unhintergehbare Charakteristika der Neuen Musik, die sie als sie selbst erkennbar bleiben lässt.“
Ohne weiter darauf eingehen zu können, worin diese unhintergehbaren Charakteristika bestehen, führt er weiters aus: „Dieses und bei „Neue Musik und“ deutet schon darauf hin, dass sie sich auf sogenanntes „Außermusikalisches“ nur beziehen, nicht aber zu selbigem werden kann. Die Verbindung zweier offenkundig artfremder Kontexte zueinander ist eine Verweisstruktur, keine Transformation. Das ist gerade im Falle der „Natur“, was auch immer wir darunter zu verstehen meinen, vielleicht überraschend, denn viele Tendenzen innerhalb so mancher vergangener Perioden und vielleicht auch in manchen aktuellen Ansätzen der Neuen Musik möchten zumindest eine deutliche Annäherung, vielleicht sogar eine Angleichung an „die Natur“, oder vielleicht eben besser „das Naturhafte“, umsetzen. Ich denke hierbei einerseits an Mikrotonalität und Spektralkompositionen, andererseits aber auch an Umsetzungen „naturhafter“ Prozesse in algorithmischer Komposition.“ Er verweist auch als noch etwas anders geartet etwa auf Peter Ablingers Baumkreis“komposition“, bei der das Rauschen des Windes in speziell dafür gepflanzten Bäumen hörbar gemacht wurde. Peter Ablinger wird später noch selber zu Wort kommen, Hannes Dufek dazu: „Je nach Ansatz ist das Resultat hierbei näher an der im engeren Sinn musikalischen Sphäre Neuer Musik, die sich an Naturhaftem versucht, und diese als Inspiration heranzieht. Oder aber näher an der Natur; und damit innerhalb der musikalischen Sphäre eher randständig. Nie aber löst sich das eine im anderen auf oder heben sich die Elemente gegenseitig auf, ganz einfach weil das kategorial unmöglich ist.“
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Hannes Dufek empfindet das Verhältnis von Mensch und Natur folgendermaßen: „Wir als Menschen können nicht Natur schaffen, und Musik ist eine unserer Schöpfungen, nicht ein naturhaft gewachsenes oder in der Natur als solches vorhandenes Element. Das, was uns an Natur musikalisch erscheint – vom Bienensummen über die Klänge der Vögel, von Walgesängen bis hin zu natürlichen Windorgeln – ist nicht per se musikalisch, sondern wird zu Musik in unserem Blick. Weil wir Musik erfunden haben, sieht die Natur für uns musikalisch aus. Aber gut.
Generell ist die Neue Musik, weil eben auch offen, in vieler Hinsicht sehr geeignet, „die Natur“ in sich zu integrieren, mit den genannten Einschränkungen, aber dennoch. Ich selbst finde den (scheinbaren) Kontrast zwischen nicht geformten Klangmitteln und Klängen – naturhaften Objekten, Objekten aus der Natur, die in einen Stückkontext integriert werden – sehr reizvoll und expressiv. Die Erweiterung des Bezugssystems eines Stückes mit nicht vollständig kontrollierbaren Klängen und Ereignissen, auch die semantische Ebene des „nicht Geformten“, die dadurch hinzutritt, die Spannung zwischen dem Rohen, rein Materiellen und der hoch spezialisierten musikalischen Geste, all das finde ich interessant.“
Dufeks Werke der Reihe „AUSSEN“ beschäftigen sich als wesentliche Ansatzpunkte mit der Möglichkeit, sich in der Neuen Musik auf „die Realität“ zu beziehen: „Gerade aber bei der bisherigen Arbeit an „AUSSEN“-Werken ist sehr klar geworden, dass immer dann, wenn ein Stück aufgeführt wird, dieser Rahmen – der künstlich ist – alles andere überformt. Dort gibt es dann keine wirkliche Natur, sondern wiederum nur Verweise. Wie sich das ausmessen lässt, erscheint mir schwer zu entscheiden, aber es ist eine Tatsache, dass der gestohlene Zeitrahmen, die fingierte Situation und der gebaute Kontext so viele Restriktionen darstellen, dass es egal ist, welches semantische Element zum Verweis wird, und seine vollständige Identität aufgeben muss.“
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Die abschließenden Überlegungen von Hannes Dufek führen loopartig wieder zum Anfang: „Da ist es wieder, dieses und. Ich verwende es zwar in einem breiteren Zusammenhang – das Naturhafte ist nur einer der semantischen Kontexte, mit denen ich umgehe – aber es ist letztlich das gleiche und.“ Und er schließt mit der Nebenbemerkung: „Natur braucht ja auch nichts von uns. Keine Formung, keinen Rahmen, keine Kontextualisierung.“
„Ich verstehe meine Arbeiten als Ökosysteme, denn zur Musik gehört das gesamte Umfeld dazu.“
Ist der Gedankenstrom von Hannes Dufek von einem und geleitet, so lenkt die Komponistin und Klangforscherin Pia Palme unsere Aufmerksamkeit auf das mit: „Unbedingt Musik mit Natur. Das Wort mit ist wichtig; ich mache nie Musik über, in, durch, oder von Natur inspiriert. Als Mensch bin ich Teil der Natur, also auch als Komponistin, und das spielt bei allen meinen Stücken mit. Es gibt keine Wahl. Ich verstehe meine Arbeiten als Ökosysteme, denn zur Musik gehört das gesamte Umfeld dazu: Mitwirkende, Instrumente, elektronische oder sonstige Technik, Orte und Häuser, lebende und nicht lebende Dinge. Besonders im Bereich Musiktheater und elektronische Musik hilft mir die ökologische Sichtweise, den Arbeitsprozess besser zu verstehen, zu planen und gelassener mit Interaktionen und Interferenzen umzugehen. Vom Feminismus über die Diversität ist es zur Ökologie als grundsätzliche Haltung in einer globalen Umgebung, im Anthropozän, ja nicht weit. Es geht immer um mit, den größeren Zusammenhang, darüber, was das mit den Menschen und mit meiner Musik macht, als Teil eines komplexeren Geflechts.“
Manche ihrer Stücke sind tatsächlich an einem konkreten Ort verankert, wie zum Beispiel bei MORE RADICALLY mit der Sängerin Rosie Middleton: „Da kann dann ein Baum oder ein Landstrich in den Vordergrund treten, sowohl kompositorisch wie als Visual“. Beim neuen Stück WEITERUNG, das im Juni mit dem Ensemble Schallfeld, sowie Séverine Ballon am Violoncello und Pia Palme an der Bassblockflöte in Graz uraufgeführt wurde, zeichnete sie „‘organische’ Entwicklungen in der Komposition nach.“ Der Text erwähnt unter anderem ihre Faszination für einen gerade neu entstehenden Vulkan in Island nahe Reykjavik, dessen jugendliches Wachstum sie via Livestream mitverfolgt. Im Mai in einem mica-Interview angesprochen auf die unzähligen Unwägbarkeiten durch verschobene Konzerte, erkennt Pia Palme eine witzige Wortähnlichkeit: „In Zeiten wie diesen erinnert mich manches an einen Haufen Kompost, in dem Dinge vergären und verwesen – wo vieles zusammenkommt, ein Eigenleben entwickelt und doch Fruchtbares am Ende herauskommt. Komponieren und Kompost haben ja einen so auffällig gleichen Wortlaut, die gleiche Wortwurzel …“
Links:
Hannes Dufek
Hannes Dufek (music austria Datenbank)
Pia Palme
Pia Palme (music austria Datenbank)
Eine weitere wichtige Komponente jeder Komposition ist der Parameter Zeit. Der Komponist und Konzertorganist Klaus Lang ist gemeinsam mit den Komponisten Peter Ablinger, Bernhard Lang und Nader Mashayekhi Mitbegründer des Verlags Zeitvertrieb Wien-Berlin mit dem sonderlichen Mission Statement: „Das Thema ist die Abweichung von etablierten Normen des Ästhetischen, des Werkbegriffs, der Aufführungssituation, der Konzertkonventionen, der Notation, der Instrumentenbehandlung, des Instrumentenbaus und der Wahrnehmung selbst“. Seine Gedanken zum Thema Neue Musik und Natur: „Genauso wie die Welt ein Prozess des Entstehens und Vergehens ist, sind auch wir als Menschen ein zeitliches Phänomen: Wir sind das Erleben von Zeit, wir sind die Zeit, die wir erleben oder wir sind die Zeit die wir leben. Erfahrung von Zeit ist, denke ich, daher die tiefste existentielle Erfahrung.“
Für den in Graz geborenen Klaus Lang ist das Erleben von Natur essentiell. Seit seiner Kindheit hat er viel Zeit in alpinen Wäldern und auf Bergen verbracht. Vor einigen Jahren ist er nach Steirisch Lassnitz gezogen, wo er auch heute noch lebt. Viele seiner Werke lassen im Titel einen starken Naturbezug erkennen: „Die Geschichte der abendländischen Kunst ist eigentlich eine Geschichte der verschiedenen Arten und Weisen, in der Natur gefundene Prinzipien auf die Gestaltung von Kunst anzuwenden. Naturwissenschaftliche Methoden und künstlerische Techniken demonstrieren die Fähigkeit, Natur und Kunst zu verstehen und zu beherrschen, machen aber gleichzeitig die Vergeblichkeit dieser Bemühungen deutlich: Selbst wenn wir jede einzelne Note in einem Kanon von Johannes Ockeghem erklären können, können wir nicht die Tiefe der sinnlichen Erfahrung und die erlebte innere Bewegung erklären, die wir beim Hören dieses Musikstücks machen.“
Musikphilosophische Gedanken von Klaus Lang über den Hörenden führen uns ein Paradoxon vor Ohren: „Wenn man sich hörend auf Musik konzentriert, die nur sie selbst ist und sein will, kann man die wahrgenommene Zeit und damit sich selbst als Einheit und Zentrum erfahren. In diesem Zustand des Hörens treten aber parallel zwei scheinbar paradoxe Vorgänge auf: wenn man ganz bei sich selbst ist verschwindet die Vorstellung von einem Selbst und analog dazu, wenn man Zeit als reine Zeit erfährt, löst sie sich in ein Erlebnis von Zeitlosigkeit auf. Und vielleicht ist es, weil wir sterbliche Wesen mit begrenzter Lebenszeit sind, dass wir diese Zustände der Zeitlosigkeit lieben. Wenn im Erlebnis von musikalischer Schönheit die Zeit für uns still steht, erleben wir etwas, was wir in unserer durch die Erfahrung der Vergänglichkeit und des Verlusts geprägten Welt nicht finden können: Beständigkeit – es ist wie ein Hauch von Ewigkeit, der uns sterbliche Wesen mit begrenzter Lebenszeit streift. So ermöglicht es uns die Musik für Augenblicke unsere Grenzen zu überschreiten, um das finden und erfahren zu können, wonach wir uns sehnen: nach dem Erlebnis von beständiger Dauer und Ewigkeit.“
„ES WAR DAS ERSTE MAL, DASS ICH AUSSERHALB EINES ÄSTHETISCHEN ZUSAMMENHANGS – ETWA EINES KONZERTS – WIRKLICH HÖRTE.“
Auch der bereits mehrfach erwähnte oberösterreichische Komponist Peter Ablinger, Kreator einer Landschafts- wie auch einer Stadtoper, hatte in den 1980er Jahren seine ganz besondere Epiphanie, die er wie folgt beschreibt: „Einmal – ich glaube es war 1986, Hochsommer – bin ich bei einem Spaziergang durch die Felder östlich von Wien nahe der ungarischen Grenze – Haydns Geburtsort lag in der Nähe – auf etwas Merkwürdiges gestoßen. Das Getreide stand hoch und war wohl kurz vor der Ernte. Der heiße sommerliche Ostwind strich durch die Felder und plötzlich hörte ich das Rauschen. Obwohl es mir oft erklärt wurde, kann ich immer noch nicht sagen, wie sich Weizen- und Roggenpflanze voneinander unterscheiden. Aber ich hörte den Unterschied. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich außerhalb eines ästhetischen Zusammenhangs – etwa eines Konzerts – wirklich hörte. Oder es war überhaupt das erste Mal, dass ich hörte? Etwas war geschehen. Vorher und nachher waren kategorisch geschieden, hatten nichts mehr miteinander zu tun. Zumindest schien es mir so, damals. Im Nachhinein erkenne/erinnere ich auch andere vergleichbare Erlebnisse, die mit einer ruckartigen Öffnung der Wahrnehmung zu tun haben, aber der Spaziergang durch die Getreidefelder war vielleicht das Folgenschwerste. Denn auf die ein oder andere Weise, scheint mir, haben alle Stücke die ich seither gemacht habe, mit dieser Erfahrung zu tun.“
Die erste Klanginstallation im öffentlichen Raum, die die Komponistin und Pianistin Elisabeth Harnik im Grazer Kulturjahr 2020 gemeinsam mit der Architektin Milena Stavric und der Akustikerin Jamilla Balint realisiert hat, geht ebenfalls zurück auf „eine sinnliche Erfahrung, die ich im Rahmen einer Wanderung gemacht habe. Ein alltäglich erscheinender Klang, das Summen von Bienen, wurde durch die Mauern einer Ruine neu ausgerichtet und in eine tiefgreifende Hörsituation verwandelt.“ Der sogenannte Humming Room griff diese einmalige Naturerfahrung auf, sowohl bei der Konzeption der paravent-artigen Sound-Skulptur, als auch bei der Komposition Feed the Bees für Oboe, Hümmelchen [eine Sackpfeife aus der Renaissance, Anm.] und Klanginstallation.
„Ich sehe den Humming Room als eine Wahrnehmungsinstallation im doppelten Sinne: sie lädt ein zum aktiven Zuhören und hebt zugleich das Bewusstsein für die Verbundenheit von Mensch und Honigbiene“, erklärt Elisabeth Harnik und führt weiter aus: „Als Komponistin setzte ich mich mit unterschiedlichsten Prozessen des Hörens auseinander. Manchmal sind es ganz konkrete Höreindrücke, deren Spuren ich während des Kompositionsprozesses herauslöse und transformiere.“ Während des Lockdowns 2021 lud sie der befreundeter Schlagzeuger Tim Daisy ein, bei seinem CD-Projekt Imaginary Rooms mitzuwirken: „Als ich an meinem Stück arbeitete, kehrten – wie jedes Jahr um diese Zeit – die Erdkröten zu unserem Teich zurück, um zu laichen. Der Klang der Kröten war beeindruckend, ich habe über mehrere Tage Aufnahmen gemacht. Beim Anhören der Field Recordings entdeckte ich noch mehr Feinheiten: da waren entfernte Vogelklänge, die mit den vielschichtigen Krötenklängen korrespondierten, und vieles mehr. Ich war beeindruckt. Schließlich habe ich Ausschnitte der Aufnahmen in mein Stück „Toads and Birds“ einfließen lassen.“
Links:
Klaus Lang (Zeitvertrieb Wien Berlin)
Klaus Lang (music austria Datenbank)
Peter Ablinger
Peter Ablinger (music austria Datenbank)
Elisabeth Harnik
Elisabeth Harnik (music austria Datenbank)
„FÜR MICH EIN MOMENT VON GROSSEM KLANGLICHEN ZAUBER.“
Der Komponist Peter Jakober hat sich in den Praterauen in Wien umgehört. Für die Performance „ORACLE and SACRIFICE in the woods“ von der Regisseurin und Künstlerin Claudia Bosse, die im Frühjahr 2022 im Praterpark Wien seine Premiere erleben wird, und an der bereits heuer intensiv geprobt wird, konnte er ein Stück für 15 – 20 Orgelfpfeifenspielerinnen und -spieler entwickeln: „Die Spieler*innen blasen auf das Labium der Orgelfpeife. Es entsteht ein rauschender Klang mit Tonhöhenfärbung. Dieses erzeugte Rauschen der Pfeifen tritt in ein Wechselspiel mit den Windgeräuschen des Waldes. Erzeugt bereits die mögliche akustische Abbildung des natürlichen Rauschens des Waldes durch ein Instrument eine Entfremdung, wird diese durch unterschiedlich starke Tonhöhenfärbungen der „Pfeifenrauschklänge“ forciert. Am Ende des Stücks blasen die Interpretinnen und Interpreten in das Fußloch von kleinen, hohen Orgelpfeifen. Sie blasen die Pfeife also dort, wo gewöhnlich der Luftstrom zugeführt wird. Es entsteht ein hoher Orgelklang. Durch die Auseinanderbewegung der musizierenden Performerinnen, die wiederholend in diese hohen Pfeifen blasen, entsteht der Eindruck, der Wald selbst würde zu einem Inneren eines Instrumenten-Klangkörpers. Eine akustische Abbildung der Natur, und eine dadurch entstehende, zunehmende Intensivierung dieser Entfremdung: Für mich ein Moment von großem klanglichen Zauber.“
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Dem Zauber von Natur- und im speziellen Waldgeräuschen versucht auch die Komponistin und Violaspielerin Julia Purgina nachzuspüren: „Die Natur und ihre Klänge umgeben uns. Viel zu selten halte ich inne und höre einfach nur zu. Höre die Vögel und muss lachen über die heitere Hartnäckigkeit ihres Gesangs; höre das Wasser mit seinem beständigen Glucksen und Rauschen; höre das Blätterrauschen im Wald, wenn der Wind unerlässlich durch die Baumkronen streift. Und dann denke ich mir, dass man genau diese Geräusche schon vor Jahrtausenden gehört hat und fühle mich in großer Verbundenheit mit dieser Urmusik, die immer schon da war und – sofern wir Menschen nicht alles kaputt machen – immer da sein wird.“ Ein Ensemble-Stück aus dem Jahr 2014 von Julia Purgina, in dem diese Verbundenheit gut zum Ausdruck kommt, ist „Kodama“: „Das Wort ist doppeldeutig und meint einerseits Echo, andererseits sind die japanischen Schnellzüge so benannt, aber auch in der japanischen Mythologie gibt es diesen Begriff für Waldgeister. Wenn das Unterholz knackt, die Blätter rascheln und sonstige Geräusche des Waldes erklingen, vermutet man dahinter diese Waldgeister. In meinem Stück „Kodama“ treffen diese Naturwelt und die technologisierte Gegenwart aufeinander und verschmelzen zu einer gemeinsamen Klangwelt: Verbunden mit dem, was es seit Jahrtausenden gibt und dem, was wir Menschen erst seit wenigen Jahrzehnten entwickeln und was diese alte Welt auch bedroht.“
Links:
Peter Jakober (music austria Datenbank)
Julia Purgina
Julia Purgina (music austria Datenbank)
Der Klangkünstler und Dubmusiker Sebastian Frisch produziert gerade einen Kunstfilm für das Klimabündnis Oberösterreich, in welcher die Veränderung der auditiven Umwelt in Alpinen Regionen thematisiert wird: „Natur in der Musik hat für mich immer eine Konnotation von wunderschönem Chaos, Individualität, unendliche Möglichkeiten in einem durch die Naturgesetze gesteckten Rahmen. Sei es in der direkten Verwendung von akustischen Klängen, oder indirekt im Instrumentenbau durch Naturmaterialien wie Holz, Leder, Stein,…“ In seiner Arbeit „Splits and Cracks“ zum Beispiel experimentiert er mit den akustischen Eigenschaften einer Scheibe Fichtenholz, in welcher Heizdraht eingewebt ist. Durch die Stromzufuhr erhitzt sich der Draht, die Feuchtigkeit im Holz nimmt ab und das Holz beginnt zu knacksen.
Wie die zu Beginn erwähnte Soundkünstlerin Natalia Dominguez Rangel, so hat auch Sebastian Frisch heuer im Juni im Mirabellgarten Salzburg eine 16-Kanal Audio-Installation gezeigt: „Mich faszinieren vor allem natürliche Prozesse, welche für unsere menschlichen Ohren nur schwer oder nicht wahrnehmbar sind. Dafür baue ich Instrumente, die es mir ermöglichen, diese abzunehmen und als Material für mein künstlerisches Schaffen zu verwenden. In der Arbeit „Woodscape“ spiele ich mit dem akustischen Entwicklungszyklus des Biotops Holz. Die Reise beginnt mit dem initialen Aufbrechen des Samens, einer Art Urknall für das Universum Baum: Von der Wachstumsphase, in welcher Xylemzellen Wasser durch die Rinde ziehen, bis über den Befall des Baumes durch Pilze und Insekten, hin zum Zerfallsprozess und der Trocknung des Holzes, wenn sich die Holzfasern auftrennen, aufspalten, knacksen und wieder in den umliegenden Lebensraum übergehen.“
Für Sebastian Frisch ist die Natur, wie auch für viele andere Komponistinnen und Komponisten, „ein unermesslicher Schatz an akustischem Ausdruck“. Die aufgenommenen, extramusikalischen Geräusche sind für ihn „Momentaufnahmen und Artefakte einer akustischen Ökologie, in einer sich durch den Klimawandel rasch verändernden Umwelt.“ Für alle Fein-Hörenden, für alle für ungewöhnliche Klänge sensibilisierten Menschen versucht er, wie viele andere Komponisten und Komponistinnen – nicht nur aus dem Umfeld der Neuen Musik – „poetische Elemente unserer faszinierend detaillierten Welt zu enthüllen“.
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Sebastian Frisch
Sebastian Frisch (music austria Datenbank)
Hier geht es zu Part 2: Neue Musik & Natur – Ökomusikologie
Michael Franz Woels