Crossways in Contemporary Music: Choreografie & Tanz III

Nach Teil 1 und Teil 2 begibt sich der dritte und letzte Teil der Serie Crossways in Contemporary Music: Choreografie & Tanz auf die Spuren von neuen und zukünftigen Werken, die Neue Musik und Choreografie & Tanz miteinander vereinen.

„JUDITH / Schnitt_Blende“

Für die Komponistin Judith Unterpertinger, die für ihre Werke einen Flügel zerlegte („Piano Sublimation“) oder sich von Löchern und Unebenheiten in Londoner Wänden inspirieren ließ („Wall Studies“), steht die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Künste zueinander im Mittelpunkt. Als Instrumentalistin tritt sie unter dem Namen JUUN auf und spielt in Ensembles verschiedenster Ausprägung – von filigraner Improvisation bis hin zu Industrial und Noise.

Mit der Choreografin Katharina Weinhuber, mit der sie auch als Duo znit aktiv ist, verbindet sie eine langjährige Zusammenarbeit, aus der 2015 die Tanzoper „JUDITH | Schnitt_Blende“ (Neue Oper Wien, 2015) hervorging. Dazu teilten sich die beiden, die ihre Arbeitsweise als Dialog beschreiben, die Regie auf. „Wir arbeiten schon sehr lange zusammen, wir wissen, was von der Seite der jeweils anderen kommt, sei es seitens der Choreografie oder seitens der Musik. […] Insgesamt haben wir eine gemeinsame Sprache gefunden“, erklärt Katharina Weinhuber im mica-Interview. Es war eine bewusste Entscheidung, nicht eine weitere, dritte Person mit der Regie zu betrauen.

„Insgesamt haben wir eine gemeinsame Sprache gefunden“ – Katharina Weinhuber

Im großen Unterschied zur klassischen Oper hat das Stück keine narrative Erzählweise, auch wenn das Ausgangsmaterial dafür teilweise sehr persönlich war; nicht nur der Vorname der Komponistin lautet Judith, auch ihre an Demenz erkrankte Großmutter hieß so. All das floss in die Entstehung der Tanzoper ein, für die das Regie-Duo Unterpertinger und Weinhuber drei Frauenfiguren verwob. Unterpertinger dazu: „Aus meinem Recherche-Material zu meiner Großmutter Judith, der biblischen Judith-Figur und – als Gegengewicht – einer zeitgenössischen Figur gab ich den beteiligten Musikerinnen Bild- und Textmaterial. Ich bat sie, dazu kurze Fragmente von zehn Sekunden bis zu einer Minute zu improvisieren. Dies diente mir zum Teil als Ausgangspunkt für die Komposition.“ Als Komponistin arbeitet man üblicherweise aus der Distanz, wohingegen man als Choreografin per se stärker am Prozess beteiligt ist und das Stück mit den Tänzerinnen und Tänzern erarbeitet. Für ihre gemeinsame Arbeit wurde diese Aufteilung aufgebrochen, „da ich etwa während des Kompositionsprozesses bereits eine Tonaufnahme von bereits fertigen Fragmenten mache. Das ist Luxus und normalerweise nicht leistbar.“ Mit den Aufnahmen wurde dann weiter an der Choreografie und der gesamten Inszenierung gearbeitet. Und diese Teile der Choreografien bzw. der Inszenierung haben wiederum die Komposition beeinflusst.

Kollektives Arbeiten braucht eine gewisse Offenheit. Stark hierarchische Strukturen, wie sie teilweise auch in der freien Musikszene zu finden sind, können diesen Prozess auch behindern. Dafür muss für Judith Unterpertinger von Beginn an klar definiert sein, wer in welchem Bereich künstlerisch die Letztentscheidung trägt.

„Wechselwirkungen“

Dieses prozesshafte, freie Arbeiten im Kollektiv beschreibt auch Pia Palme im Zusammenhang mit ihrer von Wien Modern koproduzierten Arbeit „Wechselwirkungen“ (2019/2020): „… wir haben miteinander gearbeitet, ohne die festgeschriebenen Reihenfolgen und Hierarchien der Institutionen. Die Musik war bei ‚Wechselwirkung‘ nicht zuerst fertig, damit dann die Choreografie, die Regie usw. kommen kann. Für eine freie Form muss die Komposition flexibel genug sein. Das geht sehr gut, wenn man mit Modulen arbeitet, und diese in Form einer Montage zusammenfügt. Ich finde, dass dann auch die verschiedenen Disziplinen mehr Spielraum haben, sich zu entfalten und besser ineinandergreifen können.“ Wie schon bei Palmes früherer Arbeit „Abstrial“ (2013) war auch bei „Wechselwirkung“ ein Kollektiv federführend: Juliet Fraser, Christina Lessiak, die Tänzerin Paola Bianchi, die Dramaturgin Irene Lehmann und Pia Palme als Komponistin.

„Für eine freie Form muss die Komposition flexibel genug sein“ – Pia Palme

An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass „Wechselwirkungen“ aufgrund der damals greifenden Corona-Bestimmungen dem Publikum nicht live, sondern als Film zugänglich gemacht werden konnte. Die permanenten Änderungen der Bestimmungen und damit verknüpften Konzeptänderungen hatte Auswirkungen auf die Choreografie und Kompositionsprozess. Dennoch wurde es „… mit all den Hindernissen und der Anstrengung eine ganz spezielle Produktion, die Stimmung war offen und gut, das Ensemble brillant, die Zusammenarbeit intensiv und beglückend.“ (mica-Interview)

„Work“ & „growing sideways“

Die Choreografin und Performerin Brigitte Wilfing und der Komponist und Turntableist Jorge Sánchez-Chiong arbeiten seit vielen Jahre zusammen. In konventionellen Konzerten ist die Bewegung der Musik untergeordnet. Dies gilt nicht für Wilfing, die die Bewegungsabläufe der Musikerinnen und Musiker zur Klangerzeugung studiert und daraus ihr choreografisches Material entwickelt. Werke von Jorge Sánchez-Chiong sind bekannt dafür, dass sie Konzertformate sprengen. Der gebürtige Venzulaner und Wahlwiener schreibt für klassische Instrumentierung, E-Bass oder Turntables; seine Musik lebt von Spontanität, überraschenden Wendungen und er selbst bewegt sich in mehreren Szenen – von Neuer Musik über Improvisation, multimedialer Kunst und Club.

Brigitte Wilfing, Jorge Sánchez-Chiong: growing sideways. (c) David Panzl

„Als Komponist bist du in so einer Konstellation in erster Linie kein Dienstleister“ – Jorge Sánchez-Chiong

In Hinblick auf ein synästhetisches Interesse sticht ihre gemeinsame Arbeit „Work“ (PHACE & Wien Modern, 2014) heraus. Der Impuls dafür war, eine Situation zu schaffen, aus der Tanz und Klang gleichzeitig hervorgehen. Ausgangspunkt bildeten verschiedene Bewegungsmuster und Sound Patterns die erweitert wurden um an einer Durchdringung der Disziplinen zu arbeiten. Inhaltlich geht es – wie der Titel schon sagt – um „Arbeit“, im Zentrum steht die Arbeit am Instrument, ein Cello wird präpariert, repariert, bespielt. Welche Bewegungsmuster sind im Spiel der Musikerinnen bzw. Musiker oder bei der Handhabung der Instrumente bereits vorhanden, was kann erweitert und verstärkt werden? Die Aufmerksamkeit wird dahin verschoben, dass die Klangerzeugung auch als Tanz zu erfahren ist und umgekehrt, die choreografierte Bewegung auch als Musik hörbar ist. „Als Komponist bist du in so einer Konstellation in erster Linie kein Dienstleister“, resümiert Jorge Sánchez-Chiong. Markant ist dabei, dass die beiden künstlerische Ergebnisse erst dann akzeptieren, wenn der oder die andere auch in der eigenen Disziplin damit zufrieden ist. „Niemand geht Kompromisse ein“, bringt es Brigitte Wilfing auf den Punkt. Das eigene Feld zu verlassen, erfordert Vertrauen, und das kann nur durch Austausch und Kommunikation gestärkt werden. Ein großer Teil der Arbeit liege darauf, zu kommunizieren und auf die individuellen ästhetischen Dos and Don’ts einzugehen, erklärt Brigitte Wilfing, die derzeit eine künstlerische Dissertation über choreografische Komposition verfasst, in einem Videovortrag.

Neue Ökonomien der Klangerzeugung finden, in dem sich die gewohnte Orientierung ändert – diese Art der Wahrnehmungsverschiebung nutzen beispielsweise auch die Situationisten rund Guy Debord mit ihrer Aufforderung, sich absichtlich in fremden Städten zu Verlaufen oder sich dort mit dem Stadtplan einer anderen Stadt zu orientieren, um neue Erfahrungen zu machen – ist für Wilfing und Sánchez-Chiong Inspirationsquelle. Wie verändert sich das Hören und Spielen von Musik, wenn man mit neuen Koordinaten beschäftigt ist? Mit „growing sideways“ zeigen Brigitte Wilfing und Jorge Sánchez-Chiong – nach „Work“ und „Land oft the Flats“ – nun ihre dritte große Produktion bei Wien Modern. Gemeinsam mit dem transdisziplinären Assemble andother stage initiieren sie einen kollaborativen Arbeitsprozess, in dem sie sich mit Unmöglichkeiten konfrontieren. „Growing sideways“ – die Seitwärtsbewegung – gibt darin die Richtung vor. Zu sehen und zu erleben wird diese ganz eigene Form am 13. und 14. November 2021 im Rahmen von Wien Modern sein.

„The Slowest Urgency“

Für Peter Kutin spielen ein gemeinsames Vokabular und Zeit für die gemeinsame Entwicklung ebenfalls Schlüsselrollen: „Ich denke, dass es wichtig ist, sich bei Kooperationen Zeit für eine gemeinsame Entwicklung zu lassen, und zu versuchen, sehr tief in die Materie reinzugehen und sich über Erfahrenes auszutauschen, zu forschen. Dadurch entsteht im Idealfall eine Art Vokabular, mit dem sich über die für das Stück entwickelte Musik und deren Affekt sprechen lässt, ohne dass Choreographin bzw. Choreograph und Musikerin bzw. Musiker aneinander vorbeireden. Es ist unglaublich schwierig über Musik oder Klänge – sie werden von Person zu Person so unterschiedlich definiert und aufgefasst – zu sprechen, vor allem wenn sie sich dem Notensystem entziehen bzw. sich damit nicht mehr darstellen lassen und den Fokus auf Klangfarben und Abstraktion legen. Daher ist es glaube ich ein sehr wichtiger Schritt, sich gemeinsam über Erfahrung hin zu einem Vokabular zu entwickeln. Dass sich die Beteiligten gegenseitig schätzen und ihren jeweiligen künstlerischen Ansatz verstehen bzw. kennen, ist natürlich Grundvoraussetzung.“ Neben Erfahrung bezeichnet Kutin – von der Autorin nach Rezepten für eine gute Zusammenarbeit gefragt – auch Respekt und Aufmerksamkeit als essenziell. „Und auch, dass der Geltungsdrang sich schon gesetzt hat. Leute die zwangsläufig ihr Ego drüber stülpen und alles vereinnahmen wollen und müssen, finde ich wirklich sehr mühsam, vor allem dann, wenn es eigentlich um Kooperation, Austausch und kollektive Erfahrungen und Entwicklungen ginge. Mit neuen Künstlerinnen bzw. Künstlern und deren Teams zusammenzuarbeiten ist aber grundsätzlich immer wie auf einem Expeditionsschiff einzuchecken. Entweder wir finden Neuland oder wir kommen mit leeren Händen zurück. Im schlimmsten Fall erleiden wir Schiffsbruch.

„Mit neuen Künstlerinnen bzw. Künstlern zusammenzuarbeiten ist grundsätzlich immer wie auf einem Expeditionsschiff einzuchecken.“ – Peter Kutin

Für „The Slowest Urgency“ (Wiener Festwochen, 2021) traf er mit Philipp Gehmacher auf einen international profilierten Choreografen. Das Stück lenkt den Fokus der Zuschauerinnen und Zuschauer zu allererst auf den Tastsinn, wenn die vier Tänzerinnen und Tänzer auf dem Boden liegend oder hockend mit ihren Händen über den Boden streichen, als ob sie Sand einsammeln würden. Hört man die Bewegung der Finger, die darüberstreichen? Interessanterweise ist der Tanzboden aus Filz. Choreografie und Musik greifen nahtlos ineinander und kreieren Welten. Peter Kutins Musik schafft Atmosphäre, manchmal meditativ, manchmal messeartig, manchmal hypergrell. Dazwischen gibt es immer wieder Raum für Stille. Und Raum für die kleinen Bewegungen. Peter Kutin erschafft mit seiner Komposition und Klangregie in „The Slowest Urgency“ eine Soundkulisse, in der sich die so Körper bewegen, als ob sie immer schon dazugehörten. In Momenten, in denen die Performerinnen krebsartig wandern und mit ihren Gliedmaßen skelettartig verhandeln, klirrt und schnarrt es auf der musikalischen Ebene. Gehmacher, der diesmal nicht selbst auf der Bühne steht, übergibt mit „The Slowest Urgency“ sein Tanzrepertoire einer neuen Generation an Tänzerinnen und Tänzern.

„360° – skinned“

Für Lissie Rettenwander war die Zusammenarbeit mit Tänzerinnen und Tänzern zuerst etwas Neues – selbst zu Tanzen hingegen nicht. Für „360° – skinned“, das beim Osterfestival 2021 aufgeführt wurde, steuerte die gebürtige Tirolerin gemeinsam mit Fabian Lanzmaier die Musik bei. Rettenwander, die mit Stimme und Klang experimentiert, setzt für ihre Werke von Akkordeon, Stimmgabeln und Stoffsingvögeln über Räume bis hin zur Zither alles möglich ein und bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Avantgarde und Tradition. Ihre Schritte sind dabei wohlüberlegt. Sie beschreibt den Prozess des sich Einfindens im Produktionsprozesses. „Mich zu bewegen, das war es, das mir von Kind auf und lange Zeit meines Lebens am wichtigsten war. Mich in Freiheit bewegen. Mich in der Natur bewegen. Nun saß ich bei den Proben am Rand des Tanzbodens und schaute dem Tanzen der anderen zu und sollte gemeinsam mit Fabian Lanzmaier die Musik dazu liefern. Die Rollen schienen klar verteilt, hier die Tänzerinnen und Tänzer, und hier Musikerin und Musiker. Wenn ich als Musikerin bezeichnet wurde, so sträubte sich etwas in mir als wollte es sagen: Aber ich bin ja auch Performerin. Gleichzeitig hinterfragte ich die Rolle der Musik. Ich fragte also die Tänzerinnen und Tänzer: Welche Funktion hat die Musik für euch? Eine der vielen Antworten, die darauf folgten, war ‚Power‘. Darüber dachte ich lange nach. Ich fragte mich: Gibt Musik Kraft, Energie? Sind wir Musikerinnen und Musiker Energielieferanten oder Impulsgeberinnen? Ich konnte die Frage für mich noch nicht beantworten, aber ich war froh nachgefragt zu haben.“

Die Inszenierung der Choreografinnen Anna Müller und Eva Müller unterstreicht thematisch das Ungehemmte und die Wildheit, arbeitet mit Visuals und spielt sich auf einer 360 Grad einsehbaren Bühne im Salzlager Hall ab. Lissie Rettenwander fand es daher klug, ihren Part reduziert anzulegen. Sie entschied sich nur für den Einsatz ihrer Stimme und kleine Instrumente, die Ornithologen verwenden um Vogelstimmen zu imitieren, obwohl sie eigentlich mit ihrem traditionellen Instrument – der Zither – hätte spielen sollen. „Fabian und ich hatten unser Fell am Tanzbodenrand aufgeschlagen, am Übergang zwischen Bühne und Publikum. Wie zwei Wärter. Im Rücken das Publikum, vor uns die Tänzerinnen, über uns Beto De Christos Lichtdesign. Und wir hatten auch unseren Auftritt auf dem Tanzboden. Als Vogelduett. Dann ging Fabian ab und ein zweites Duett entspann sich mit der Tänzerin Emmanuelle Vinh. Sie sich bewegend, ich mich bewegend und mit meiner Stimme agierend. Was für eine schöne Erfahrung. Ich ging wieder ab und setzte mich zurück zu Fabian auf unser Fell und war wieder die Musikerin am Bühnenrand. Der Rand als wunderbarer Ort der Grenze.“

Wenn ich als Musikerin bezeichnet wurde, so sträubte sich etwas in mir.“ – Lissie Rettenwander

Bei Wien Modern 2021 ist Lissie Rettenwander nun mit einem Solo im Programm. Wieder ist die Reduktion Thema wenn Rettenwander nur mit ihrem Körper und ihrer Stimme das Foyer des neuen mdw Campus Future Art Labs bespielt. Manchmal genügt eben auch nur der menschliche Körper mit seiner Akustik im Raum, um ein neues Stück Musiktheater zu schaffen.

Winfried Ritsch, der einst für „Maschinenhalle #1“ den ausgeklügelten Algorithmus beisteuerte, ist bei Wien Modern mit der begehbaren Klanginstallation „Der Gesang der Orgel“ vertreten. Lissie Rettenwander wird mit ihrer Stimme die algorithmisch generierte Komposition in Gang setzen. In dem Werk für robotische Raumorgeln und Sängerin werden Mensch und Maschine so vernetzt, dass die Computerorgel den Gesang imitieren und in den folgenden Tagen in Loops wiederholen und variieren wird. Das Klangerlebnis endet wieder mit einer Gesangsperformance im Rahmen einer Finissage.

Ruth Ranacher