Composing the Noise of Mind – PIA PALME im mica-Porträt

Die Experimentalistin PIA PALME, die ihre künstlerische Agenda mit Klang und Raum konsequent als „politisch“ bezeichnet, zählt mittlerweile zu einer der führenden Komponistinnen auf dem Gebiet der Neuen und elektronischen Musik in Österreich. 2015 bekam sie unter Würdigung ihres kompositorischen Gesamtschaffens von der Republik Österreich den „outstanding artist award“ für die Sparte Musik verliehen. Ihre Arbeiten wurden unter „New Voices 2015“ auch in die BRITISH LIBRARY COLLECTION aufgenommen. Anlass genug, sich der vielseitigen Künstlerin und ihrem aktuellen kompositorischen Schaffen in einem Porträt zu widmen.

Jeder Mensch hat eine Stimme

In ihren jüngsten Werken beschäftigt sich die Komponistin, Interpretin und Performerin Pia Palme mit Vokalität und ihren Qualitäten. Die Arbeit mit der menschlichen Stimme nimmt in ihrem Œuvre zunehmend Raum ein. Pia Palme arbeitet gerne mit klaren Strukturen und geometrischer Wahrnehmung – Literatur, Schrift und Sprache fließen dabei als variationsreiche Ausdrucksmittel in ihre Kompositionen mit ein. Auch ihren Umgang mit Text beschreibt sie als „haptisch“, vergleichend mit der Arbeit an einzelnen Bausteinen. Beim Komponieren kann ihr ein Wort als Ausgangspunkt zur Komposition von Klang- und Bewegung dienen. Pia Palme empfindet das als ein ästhetisches Engagement: Texte werden als mehrschichtige, sinnliche Kunstwerke aufgefasst.

Pia Palme, die eine langjährige Zusammenarbeit mit Autorinnen wie Anne Waldmann, einer amerikanischen Poetin und politischen Aktivistin der Beat-Generation, verbindet, schreibt die Texte für ihre Werke zunehmend selbst. Ihre kompositorischen Arbeiten sieht sie als „im weitesten Sinn politisch und feministisch verankert und den Strukturen der Alten [sic] Musik verbunden“. Pia Palme hat sich intensiv mit einer Phänomenologie des Hörens und mit buddhistischer Philosophie beschäftigt: Sie verwebt klangliche und kontemplative Konzepte, wissenschaftliche Methodik, und persönliche Erfahrungen. In Lecture-Performances und Artikeln reflektiert sie über ihren Prozess des Komponierens, wie beispielsweise in der Lecture-Performance „Patterns to punctuate speech: a phenomenology of composing“ (2015).

Im Rahmen ihres PhD-Studiums in Huddersfield, wo sie derzeit bei der Komponistin Liza Lim eine künstlerische Dissertation zum Thema „Composing the Noise of Mind“ verfasst, kommt Pia Palme mit der in England tief verwurzelten Tradition einer intensiven Auseinandersetzung mit der Stimme in Berührung. Für Pia Palme hat die menschliche Stimme eine starke politische Dimension, die einmalige Eigenschaft Gefühl, Intellekt und Kultur zu verbinden: „Stimmen sind für mich zutiefst demokratisch; jeder Mensch hat eine Stimme, und jede Stimme ist zunächst auch ein klangliches Ereignis – abgesehen vom Inhalt des Mitgeteilten.“

Der innere Wunsch nach Ausdruck

Um die ganze Bandbreite von Stimmen herausarbeiten zu können, fließen unterschiedliche „Aggregatzustände“ von Sprache in ihr kompositorisches Schaffen ein. In „LIP OF THE REAL II“ (2013) oder im für die Salzburg Biennale komponierten Auftragswerk „Patterns to punctuate song, with darkness“ (2015) notiert Palme in einem mehrstufigen System die Gleichzeitigkeit von inneren Bewusstseinszuständen hin zu äußeren Formen des Ausdrucks. Palme kombiniert dies mit Live-Elektronik und setzt ein spezielles Kehlkopfmikrofon ein, das per Knopfdruck von der Sängerin zugeschaltet wird – feine Geräusche und leiseste stimmliche Äußerungen werden so in den Raum projiziert. In einem ihrer jüngsten Werke, „MORDACIOUS LIPS, TO DUST“ (2015) für vier Stimmen, das am 17. Oktober 2015 vom renommierten britischen Vokalensemble EXAUDI in London uraufgeführt wurde, komponiert sie den Sopran als eine zornige weibliche Stimme – in Anlehnung an den Eingangsvers von Homers „Ilias“, der eine Göttin auffordert, den Zorn zu besingen.

In ihrem Stück „BARE BRANCHES“ (2012) mit dem Untertitel „ein weltliches Requiem, um die Sehnsucht nach den fehlenden Millionen zu stillen“ widmet sie sich in ihrer Rolle als „feminist composer“ thematisch dem Phänomen eines eklatanten Männerüberhangs in Asien und Indien durch gezielte Verhinderung von Mädchengeburten. Als „kahle Äste“ werden in China die Millionen Männer bezeichnet, die keine Partnerin finden und damit traditionsgemäß in der chinesischen Gesellschaft keinen Platz haben. Als Material für die Komposition zog Palme unter anderem Spektralanalysen von Field Recordings heran: Sie transformierte beispielsweise Rezitationen aus einem tibetischen Kloster in Nordindien, gesungene Versrezitationen eines Paares aus dem Iran und in Wien gesprochene Friedenswünsche, um die globale Sehnsucht nach Frieden in das Requiem einzuflechten.

Komplettierende Ausdruckmittel findet „BARE BRANCHES“ in zwei Solostimmen, zwei Vokalensembles via Audio-Partituren sowie Schlagwerk. Dieses Stück wurde als Kooperation mit e_may und Wien Modern uraufgeführt. Pia Palme zeichnete damals mit Gina Mattiello als Intendanz von e_may für das Programm von WIE WIR WOLLEN – all night long verantwortlich – darunter auch das letzte Werk der Wiener Komponistin Luna Alcalay, die kurz vor der Uraufführung im Oktober 2012 verstarb. Durch die Zusammenarbeit mit e_may ergab sich für Wien Modern im 25. Jubiläumsjahr ein bezeichnendes Novum: In dieser Nacht wurden u. a. Werke von dreizehn Komponistinnen aufgeführt. Dies war eine enorme Anhebung der Präsenz von Komponistinnen innerhalb des renommierten Festivals für Musik der Gegenwart, deren Wirkung bis heute anhält.

Die inszenierte Partitur

Im kreativen Prozess ist das Niederschreiben ein intermediärer Prozess, der Offenheit und Raum benötigt. Dabei schichtet Pia Palme unterschiedliche Stufen, ähnlich wie in der Barockmusik, übereinander. Die Notation selbst beschreibt sie als Schlüsselphase des Kompositionsprozesses, der seine Ausweitung durch die Performance findet. So kann eine Partitur, meist für RezipientInnen unsichtbar, bei ihr auch schon einmal selbst zum skulpturalen Kunstwerk werden: Die handgeschriebene, transparente Partiturmembran zu „SETZUNG 1.1.“ (2014) misst 1,2 mal 2,5 Meter und ist Datenträger, Instrument und Wand zugleich.

Diese Partitur versteht Palme einerseits als Protest gegenüber der gegenwärtigen Digitalisierung von Partituren, andererseits als Statement zu ihrem kompositorischen Prozess, der einen potenziellen Raum zwischen der Gedankenwelt und einem akustischen Ergebnis beinhaltet. Zugleich bietet die Partitur in ihrer Physikalität auch eine Art Zwischenraum für die Solistin. Sie wird hier – im Gegensatz zur kommerziellen Musik wie etwa im Pop – nicht ausgestellt, sondern verborgen. Akustisch erzeugt wird „SETZUNG 1.1.“ allein durch die Bühnenperformance der Vokalistin. Für die Textstellen wählte Palme verdichtende Strukturen, die Polyphonie implizieren. Außerdem verwendet Palme hier überlagerte Liniensysteme, ähnlich Schnittmustern für die Schneiderei – dies sei eine Reverenz an das Handwerk. Der Vorteil daran: Eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungsanweisungen findet auf ein und demselben Blatt Platz.

Eine Gänsefeder, die in „SETZUNG 1.1.“ auch der Klangerzeugung dient, steht für den Prozess des Schreibens respektive das handschriftliche Niederschreiben. Zentral in der Partitur platziert sind die drei Wörter: „MACHT STATT PFLEGE“. Der Text endet mit einem übersetzten Zitat der mexikanischen Dichterin Sor Juana Inés de la Cruz aus dem 17. Jahrhundert, die Palme neben der Pionierin in elektronischer Musik, Eliane Radigue, als eine der großen Inspirationsquellen in ihrem Schaffen nennt. Abschließend noch einmal Pia Palme über die Agenda ihrer Kompositionen für Stimme: „Ich horche unter die Oberfläche, in das Innere der Dinge. Um die Stimme in ihrer ganzen Bandbreite einzusetzen, punktiere ich die glatte, glanzvolle Oberfläche der Schönheit und Virtuosität mit Zorn und Noise.“

Ruth Ranacher und Michael Franz Woels

Foto Pia Palme (c) Markus Gradwohl

http://piapalme.at